Ungarische Revolution: Demokratischer als der Westen und sozialistischer als der Osten

Vor 60 Jahren, im Oktober 1956, begann die ungarische Revolution, in der sich die Menschen in Ungarn, angeführt von Arbeitern und Studierenden gegen die ihre Regierung erhoben und kurzzeitig landesweite Rätestrukturen etablieren konnten.

Im Oktober 1956 greifen Arbeiterinnen und Arbeiter im »kommunistischen« Ungarn nach der Macht. Während im Westen der Aufstand als »nationaler«, »antikommunistischer« Widerstand gefeiert wird, spricht die herrschende stalinistische Bürokratie von »Konterrevolution«.

Doch die Ereignisse waren viel bedeutsamer. Während der stalinistische Staatsapparat implodierte, gründeten die Protestierenden ein System von Arbeiterräten und organisierten bewaffnete Organe, um den Weg zu einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft frei zu machen. Wochenlang sah es so aus, als könnten die Menschen ihren Wunsch nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie verwirklichen. Dann schickte Moskau seine Panzer nach Ungarn und ließ den Aufstand blutig niederschlagen. Aber die Geschichte des Kampfs von Arbeiterinnen und Arbeitern für einen echten Sozialismus hat es verdient, erzählt zu werden.

Stalinisten gegen Reformkommunisten

Der Eintritt der revolutionären Situation erfolgte am Vormittag des 23. Oktober 1956 für alle Beteiligten unerwartet. In den Monaten davor hatte es einen scharfen Machtkampf zwischen zwei Flügeln der herrschenden kommunistischen Partei Ungarns, der MDP (»Partei der Ungarischen Werktätigen«), gegeben. Auf der einen Seite standen die traditionellen Stalinisten um den ehemaligen Staatschef Mátyás Rákosi, die das hohe Maß an Repression, dem sie das Land seit seiner Gründung unterzogen hatten, aufrecht erhalten wollten. Auf der anderen Seite standen die Anhänger des »Reformkommunisten« Imre Nagy. Im Sommer 1956 wurde der Druck auf Rákosi so groß, dass er zurücktreten musste und einem anderen Mitglied des stalinistischen Führungskreises, Ernö Gerö, die Regierungsgeschäfte übergab.

Die »Reformkommunisten« stellten zwar den Stalinismus als System nicht grundsätzlich in Frage, wollten ihn jedoch wie Chruschtschow in der Sowjetunion vom schweren Ballast der stalinistischen Verbrechen befreien. Aber die Taktik, die in der Sowjetunion funktionierte, erwies sich in vielen Satellitenstaaten für die dortigen Herrscher als Bumerang. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von der »Entstalinisierungskrise«: Der Versuch, den Stalinismus zu reformieren, um ihn zu retten, war verbunden mit tiefen Spaltungen in den herrschenden Klassen und der Entstehung von Freiheitsbewegungen, die den Stalinismus grundsätzlich in Frage stellten.

Es begann als Solidaritätskundgebung

So auch in Ungarn. Innerhalb der herrschenden Partei hatte sich die Jugendorganisation zum Träger der Reformbewegung entwickelt. Die öffentlichen Veranstaltungen ihres »Petöfi-Kreises«, auf dem der bekannte marxistische Philosoph György (Georg) Lukacs Partei für die Reformer ergriff, hatten in den Wochen vor Ausbruch der Revolution Tausende angezogen. Anfang Oktober 1956 war das Regime zudem gezwungen, ein prominentes Opfer der Schauprozesse unter Rákosi, Laszlo Rajk, posthum zu rehabilitieren. Seine zeremonielle Umbettung entwickelte sich zu einer Massendemonstration von 200.000 Menschen gegen die Machthaber, die für seine Hinrichtung verantwortlich waren. Am 23. Oktober schließlich brachte eine von Studierenden organisierte Solidaritätsdemonstration mit Polen Hunderttausende in Budapest auf die Straße. In Polen hatte ein Arbeiteraufstand es ermöglicht, dass der radikale Reformkommunist Władysław Gomulka das alte stalinistische Regime stürzen und sich gegen den sowjetischen Druck an der Macht halten konnte.

Im Verlauf der Demonstration der Parteijugend strömten zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Fabriken und schlossen sich den Studierenden an. Der Charakter der Demonstration änderte sich: Was als Solidaritätskundgebung mit den polnischen Reformern geplant war, verwandelte sich in eine Massenaktion gegen das herrschende System. Innerhalb der nächsten Stunden kamen immer mehr Beschäftigte aus den Fabriken. Sie rissen ein Stalin-Denkmal herunter, belagerten Rundfunkgebäude und das Parlament und lieferten sich Straßenkämpfe mit den Truppen des Innenministeriums.

Waffen an die Revolutionäre

Sich des Potenzials des beginnenden Aufstands völlig bewusst, bat die ungarische Regierung die Sowjetunion um militärische Unterstützung. Schwere Kämpfe brachen aus, bei denen die Staatssicherheitspolizei AVH – die wichtigste Stütze des Regimes – und russische Truppen Massaker an Zivilisten verübten. Um sich gegen die AVH zu verteidigen, kam es zur spontanen Volksbewaffnung. Angehörige der regulären Armee und der Polizei verbrüderten sich mit den Arbeitern und übergaben die Waffen an die Revolutionäre. Die Straßenkämpfe in Budapest wurden von 15.000 Menschen, hauptsächlich Arbeiterinnen und Arbeitern, teils Jugendlichen, geführt.

Im Laufe der nächsten Tage, in der durch das Anwachsen der revolutionären Selbstaktivität das alte Regime stündlich an Zustimmung verlor, sollte sich auch die herrschende Partei MDP, die noch wenige Wochen vorher 900.000 Mitglieder umfasste, vollständig auflösen. Am 28. Oktober gab sich die russische Armee schließlich geschlagen und zog sich zurück. Ein Etappensieg für die Bewegung. Parallel zu den Straßenkämpfen gründeten sich flächendeckend Arbeiterräte in den Fabriken und Nachbarschaften Budapests. Ein Generalstreik wurde ausgerufen. Daraufhin entstanden auch in den Fabriken und Bergwerken anderer Bezirke Arbeiterräte. Schwerpunkte waren die Industriezentren Miskolc, Salgotarjan, Györ und Sztalinvaros. Ab dem 25. Oktober bauten die Räte Kommunikationsnetze untereinander auf, aus denen Zentralräte entstanden. Die bekanntesten waren der »Transdanubische Nationalrat« in Györ und der Bezirksarbeiterrat von Borsod mit dem Zentrum in Miskolc. Ab dem 28. Oktober übernahmen fast überall revolutionäre Arbeiterräte und Nationalkomitees die Staatsgewalt. Auch in der Armee und der Polizei wurden Revolutionskomitees gewählt. Unter Führung des Generalmajors Béla Kiraly wurde am 29. Oktober aus Teilen der alten Armee, der Polizei und bewaffneten Arbeitern eine Nationalgarde gebildet, die sich den Arbeiterräten unterstellte.

Reformen und Konterrevolution

Als Gerüchte über eine bevorstehende Konterrevolution in Budapest die Runde machten, teilte der Bezirksarbeiterrat von Borsod etwa dem zentralen Arbeiterrat in der Hauptstadt mit: »Ihr müsst nur zum Telefon greifen und in drei Stunden sind wir bei euch, die Arbeiter von Ozd, Diósgyör, Miskolc – insgesamt 20.000 und bewaffnet.«

Nach dem Ausbruch der Revolution wurde erneut eine Regierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy gebildet. Verhielt sich diese zunächst passiv, war sie unter dem Druck der Ereignisse am 30. Oktober gezwungen, auf die Forderungen der Revolution einzugehen: Nagy verkündete die Abschaffung des Einparteiensystems, erklärte den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, proklamierte die Neutralität Ungarns und bat die UNO gegen die absehbare zweite sowjetische Invasion um Hilfe. Die Revolution entwickelte sich zu einem ernsthaften Problem für die herrschende Bürokratie, nicht nur in Ungarn. Das sowjetische Politbüro beschloss am gleichen Tag, die ungarische Revolution mit aller Härte niederzuschlagen

Besatzung durch die Sowjetarmee

Die zweite sowjetische Intervention ab dem 4. November war massiver als die erste und erfolgte von zwei Ländern (Sowjetunion und Rumänien) gleichzeitig. Kämpfe eskalierten im ganzen Land und dauerten fast zwei Wochen. Die Industriestädte und Arbeiterviertel leisteten den stärksten Widerstand. Doch der Übermacht der russischen Truppen konnten sie sich nicht mehr erwehren. Die Kämpfe forderten auf ungarischer Seite etwa 2500 Tote, die sowjetischen Truppen verloren nach eigener Darstellung 720 Soldaten. Einzelne Schätzungen gehen von höheren Zahlen aus. Trotz des Einmarsches der Sowjetarmee leisteten immer noch einzelne Gruppen Widerstand.

Die sowjetische Regierung hatte die Regierungen des Westblocks über den geplanten Einmarsch in Kenntnis gesetzt. Daraufhin ließen die Regierungen der USA und Großbritanniens die Sowjetunion gewähren, da sie selbst freie Hand wollten beim Überfall auf Ägypten (Suez-Krise). Die russische Besatzungsmacht setzte eine konterrevolutionäre Marionettenregierung unter Janos Kádár ein, der eine neue stalinistische Partei gegründet hatte, die er »Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei« (MSZMP) nannte.

Rückzug in die Betriebe

Nachdem der bewaffnete Widerstand der Arbeiter durch russische Truppen gebrochen war, zog sich die Revolution in die Betriebe zurück. Es folgten Wochen einer eigenartigen Form von Doppelherrschaft, bei der das konterrevolutionäre Kádár-Regime die Straßen und die Arbeiterklasse die Fabriken kontrollierte. In dieser Phase kam es erneut zur Ausrufung eines Generalstreiks, in dessen Folge die Industrieproduktion im November auf 17,6 Prozent des Werts vom September sank. Auf Grundlage dieses Generalstreiks verfestigte sich die Kontrolle der Arbeiter über die Wirtschaft noch. Ein Journalist, der für die Zeitung Observer in Großbritannien berichtete, beschrieb die Situation Mitte November folgendermaßen: »Die Arbeiterräte in den Industriegebieten haben die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern übernommen, um sie am Leben zu erhalten. Die Bergarbeiter liefern täglich genau so viel Kohle, die notwendig ist, um die Kraftwerke in Gang zu halten und die Krankenhäuser in Budapest und anderen Großstädten mit Strom zu versorgen. Eisenbahner organisieren Züge zu genehmigten Zielorten für genehmigte Zwecke…«

Trotz der wachsenden Repressionen weitete sich die Rätebewegung aus. Gleichzeitig zentralisierte sie sich. Sándor Racz, der neugewählte Vorsitzende des Zentralen Arbeiterrates in Budapest beharrte darauf: »Wir sind die Führer in Ungarn und wir werden sie bleiben«. Die Fabrikräte wurden so stark, dass das Kádár-Regime gezwungen war, sie zeitweise offiziell anzuerkennen, während es gleichzeitig erfolglos versuchte, sie nach jugoslawischem Vorbild zu zähmen und als Arbeiterselbstverwaltung in das stalinistische System zu integrieren.

Zerschlagung der Fabrikräte

Keine Arbeitermacht kann sich auf Dauer halten, wenn sie lediglich die Betriebe kontrolliert. Seit dem ersten Tag der russischen Invasion hatte das Kádár-Regime daran gearbeitet, sich eine Machtbasis in Form eigener Truppen aufzubauen. Anfang Dezember fühlte es sich stark genug, die Arbeiterräte anzugreifen. Massaker und Massenhinrichtungen wurden verübt, die Bezirks- und Nationalräte – zunächst noch nicht die Fabrikräte – verboten und mit Hilfe russischer Panzer aufgelöst. Trotzdem hielten Streiks und Demonstrationen noch bis 1957 an. Nach vergeblichen Versuchen, die Fabrikräte für sich zu gewinnen, ließ Kádár sie schrittweise verbieten und ihre Anführer verhaften. Die letzten Arbeiterräte wurden erst am 17. November 1957 verboten und aufgelöst.

Die Beteiligten am Aufstand, insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter, wurden zu langen Haftstrafen verurteilt und häufig hingerichtet. Auch Imre Nagy wurde hingerichtet. Selbst vor Minderjährigen machte die Exekutionsmaschine nicht halt. Die blutigen Rachejahre nach 1957 waren nicht weniger grausam als andere Konterrevolutionen. Dass die Konterrevolution erst nach 1957 ihren Höhepunkt erreichte, als die Revolution längst besiegt war, ist auch keine Besonderheit der ungarischen Revolution: Die Gewalt einer Konterrevolution hat vorrangig die Aufgabe, der Arbeiterklasse nach ihrer Niederlage für mehrere Generationen die Lektion zu erteilen, dass ein Aufbegehren zwecklos ist.

Eines der spannendsten sozialistischen Experimente

Welche Bedeutung hat die ungarischen Revolution? Der ungarische Politiker und Dissident Istvan Bibo spricht von einem der »spannendsten sozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts«. In seiner Studie »Ungarn 1956« spricht der britische Sozialwissenschaftler Bill Lomax von einer Revolution, die das Ziel hatte, eine neue demokratische Ordnung zu etablieren – »demokratischer als der kapitalistische Westen und sozialistischer als der kommunistische Osten.«

Die ungarische Revolution von 1956 besaß drei wesentliche Besonderheiten. Die erste war ihre Radikalität. Zwar gab es in der gesamten Epoche des Stalinismus Arbeiteraufstände und Massenstreiks (1953 in der DDR, 1956 in Polen, 1962 in der Sowjetunion, 1968 in der Tschechoslowakei, noch einmal Polen 1980). Doch keine dieser Bewegungen ging so weit wie in Ungarn, wo auf den Trümmern des alten stalinistischen Staates ein wirklicher Arbeiterstaat entstand.

Eine zweite Besonderheit war die unglaubliche Geschwindigkeit, in der sich die neue Ordnung entwickelte. Dies ist nur mit dem Wissen und der Erfahrung der ungarischen Arbeiterklasse (und ihrer Mütter und Väter) erklärbar, die sie knapp 40 Jahre zuvor in der ungarischen Räterepublik gesammelt hatte.

Die dritte Besonderheit war die Tatsache, dass sie in einem Staat ausbrach, der für sich beanspruchte, ein »Arbeiter- und Bauernstaat« zu sein. Und dies ist sicherlich der Grund dafür, warum sich viele Linke mit Ungarn so schwer tun – selbst Linke, die den Stalinismus ablehnen, ihn aber als Real- oder Staatssozialismus relativieren. Doch die ungarische Gesellschaft war kein bürokratisch deformierter »Realsozialismus«, sie war die Negation von Sozialismus: Der »Arbeiter- und Bauernstaat« verdankte sein Bestehen der Zerschlagung jeder Selbstaktivität der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Die ausgeblendete Rätebewegung

Zwar waren wesentliche Teile der ungarischen Volkswirtschaft bis in die 1980er Jahre verstaatlicht und nach den Rachejahren war das Kádár-Regime bestrebt, die Bevölkerung mit sozialen Zugeständnissen für sich zu gewinnen. Manche führen dies als Argumente an, um die ungarische Gesellschaft doch irgendwie als sozialistisch zu qualifizieren. Allerdings bedeuten Verstaatlichung und soziale Absicherung noch keinen Sozialismus. Beide Phänomene sind durchaus vereinbar mit der Existenz eines kapitalistischen Systems. Die kapitalistischen Gesellschaften in Westeuropa und Amerika waren in den 1960er Jahren auch von der Ausweitung der Rolle des Staats in der Wirtschaft, vom Ausbau des Sozialstaates und von Vollbeschäftigung geprägt. Selbst Mitbestimmung der Beschäftigten auf betrieblicher Ebene ist im Kapitalismus möglich und auch in vielen Ländern gesetzlich verankert (siehe die Betriebsräte in Deutschland).

Soziale Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeiterinnen und Arbeiter ist jedoch etwas ganz anderes als die Kontrolle über die Gesellschaft. In der Erinnerung an die ungarische Revolution wird die Rätebewegung der ungarischen Arbeiterinnen und Arbeiter ausgeblendet. Doch die Geschichte von 1956 ist eine Geschichte des Kampfs für Selbstermächtigung und radikale Demokratie. Sie ist eine Inspiration für alle, die heute für eine bessere Zukunft eintreten. Die ungarische Revolution zeigt vor allem, dass eine Gesellschaft möglich ist, in welcher mittels Betriebs-, Gebiets- und Nationalräten alle gesellschaftlichen Entscheidungen durch die Bevölkerung demokratisch getroffen werden.

Ein Gastbeitrag von Klaus Henning, er ist Politologe und forscht unter anderem zu sozialen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa. Der Beitrag erschien in der neuen Ausgabe von Marx21.

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