Por <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/pt:Henrique_Matos" class="extiw" title="w:pt:Henrique Matos"><span title="Pintor português">Henrique Matos</span></a> - <span class="int-own-work">Fotografia própria</span>, CC BY-SA 1.0, Hiperligação

Portugal 1974: Das Volk hat keine Angst mehr

Am 25. April 1974 begann eine Revolution in Portugal, die bis zum 25. November 1975 andauerte. Das war die tiefgreifendste Revolution in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In diesen 19 Monaten traten hunderttausende von Arbeitenden in den Streik, hunderte von Betrieben wurden besetzt und von den Arbeitenden selbst übernommen. Tausende von Wohnungen wurden besetzt. Im Süden und in der Mitte Portugals wurden Landgüter in großem Ausmaß von den Landarbeitern übernommen. Frauen machten in dieser Zeit riesige Schritte in Richtung gleiche Löhne und gesellschaftlicher Gleichstellung. Zehntausende von Soldaten rebellierten gegen die hierarchischen Strukturen im Militär. Niemand hatte erwartet, dass so viele Menschen so schnell lernen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen würden.

50 Jahre Nelkenrevolution sollte Anlass sein, sich zu erinnern, vielleicht etwas zu feiern, aber vor allem sollte es Anlass sein, sich die Erfahrungen, die damals gemacht wurden, nochmal bewusst zu machen, sie auszuwerten und daraus zu lernen.

Der 24. April ging für die meisten Bewohner Lissabons zu Ende wie jeder andere Arbeitstag. Kaum einem Einwohner Lissabons, keinem der passioniert zeitunglesenden Passanten der Cafés auf der Praza Rossio war wohl eine kleine, etwas ungewöhnliche Notiz in der Abendzeitung A Republica aufgefallen, in der auf ein besonders interessantes Abendprogramm im Rundfunk hingewiesen wurde. Auf dem vom Episkopat betriebenen Sender Renescanca um 25 Minuten nach Mitternacht das vom Regime verbotene populäre Volkslied Grandola Vila Morena gespielt, in dem es heißt: „Grandola, braunes Dorf im Land der Brüderlichkeit“. Das Abspielen des verbotenen Liedes war das verabredete Signal für eine Operation des Movimento das Forças Armadas (MFA), die den Sturz der portugiesischen Diktatur einleitete, die von Antonio Salazar in den 1930er Jahren errichtet worden war. Bei der MFA handelte es sich um junge Armeeoffiziere, die die gescheiterten Kriege gegen die antikolonialen Bewegungen in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau satthatten, einen Putsch organisierten und das Regime stürzten.

Bereits um 0:40 Uhr rückten mehrere Kolonnen des 2. in Santarem, 30 Kilometer nördlich von Lissabon stationierten Panzerregiments in Richtung Hauptstadt aus, um Ministerien, Rundfunk- und Fernsehsender sowie den Flughafen zu besetzen. Die Aktionen erstreckten sich auf das ganze Land. Die Mehrheit der Regierungstruppen lief zu den Aufständischen über. Um 4:30 gab es das erste Kommuniqué der Streitkräfte mit einem Appell an die regimetreuen Einheiten, in ihren Kasernen zu bleiben und sich den laufenden militärischen Operationen nicht zu widersetzen.

Die höchsten Repräsentanten des Regimes, Ministerpräsident Caetano und Staatspräsident Americo Thomas, weigerten sich zunächst, freiwillig abzutreten. Sie hielten sich, geschützt von schwerbewaffneten Einheiten der Nationalgarde, in der Kaserne der Nationalgarde auf dem Como Hügel im Zentrum Lissabons auf. Erst nach mehrstündigen Verhandlungen konnten sie dazu gebracht werden zu kapitulieren. Am Nachmittag gegen vier Uhr erklärte Marcello Caetano seinen Rücktritt. Einzige Bedingung: Er wolle die Regierungsgewalt nicht an ihm unbekannte Offiziere übergeben, sondern an General António de Spínola. Caetano verließ die Kaserne unter Beschimpfungen durch Demonstranten und wurde mit einem Truppentransportwagen zum Militärflugplatz Lissabon gebracht. Von dort flog er zunächst nach Madeira, später ins Exil nach Brasilien.

Bei der Erstürmung der Stützpunkte der Geheimpolizei PIDE fielen um 20:30 Schüsse. Erst am nächsten Morgen um 9:30 Uhr ergaben sich die PIDE-Leute. Das Archiv, die Folterwerkzeuge und das moderne Arsenal der Geheimpolizisten fielen in die Hände der Aufständischen. Die Bilanz: Es gab vier Tote. 17 Stunden und 25 Minuten reichten aus, um eine Diktatur zu stürzen, die über 40 Jahre in Portugal geherrscht hatte.

Rückständigstes Land Europas

Anfang der 1970er Jahre war Portugal mit einer Bevölkerung von neun Millionen das am wenigsten entwickelte Land Westeuropas. Im ländlich strukturierten Norden gab es vor allem arme Kleinbauern. im Süden dominierten riesige Latifundien, auf denen Landarbeiter unter unsäglichen Bedingungen schufteten. Dazwischen hatten sich im Verlauf der 1960er Jahre im Raum um Lissabon, einschließlich Setúbal, und entlang der Nordküste in der Region Porto kleine, konzentrierte Industriezentren herausgebildet. Obwohl Portugal geografisch und politisch am Rande Europas lag, war es ein fester Bestandteil des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts. Neue Entwicklungen wie die gigantischen Werftkomplexe Lisnave und Setenave wurden mit Hilfe von ausländischem Kapital finanziert. Auf der Suche nach billigen Arbeitskräften und einem unternehmerfreundlichen Regime errichteten multinationale Unternehmen wie Timex, Plessey, Ford, General Motors, ITT und Philips große moderne Fabriken, hauptsächlich im Industriegürtel von Lissabon. Es kam zu einer Landflucht; In den Städten gab es für diese Leute keinen Wohnraum. Es entstanden zahlreiche Elendsviertel an der Peripherie der großen Städte. Portugal war das Armenhaus Europas. Nirgendwo in Westeuropa war die Kindersterblichkeit höher, gab es mehr Analphabet*innen und mehr Auswander*innen. Zwischen 1960 und 1973 verließen 1,5 Millionen Portugiesen das Land, um in Frankreich oder Deutschland ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Anders als in Spanien und Italien betrachtete sich das Regime nie als faschistisch, und tatsächlich konnte jeder, der dabei erwischt wurde, es als faschistisch zu bezeichnen, verhaftet werden. Der Großteil der Bevölkerung verfügte weder über einen Kühlschrank noch über ein Telefon oder eine Badewanne. Um ein Feuerzeug oder ein Transistorradio zu besitzen, brauchte man eine Lizenz.

Portugal war Europas älteste Diktatur und verfügte noch über ausgedehnte Kolonien wie Angola und Mosambik. Friedhofsstille herrschte im Land, aufrechterhalten durch ein perfektes System der Bespitzelung und Unterdrückung. Die politisch gedemütigten und entmündigten Massen des Volkes mussten teilweise noch unter mittelalterlichen Bedingungen leben. Anders als andere europäische Nationen in den 1950er und 1960er Jahren war das damalige portugiesische Regime autoritär-korporatistischer Prägung nicht bereit, seine afrikanischen Kolonien aufzugeben. Die Kolonien waren die Quellen für billige Rohstoffe und boten gesicherte abgeschottete Märkte für Portugals industrielle Güter. Aber die Kämpfe der Befreiungsbewegungen seit 1961 kosteten auch der portugiesischen Armee 8.500 Tote. Nicht zuletzt wegen der Kolonialkriege versank das Land immer mehr in Armut. Der Kolonialkrieg verschlang bis zu 50 Prozent des Staatshaushaltes. Der überwiegende Teil lebte unter oder allenfalls knapp über der Armutsgrenze. Die jahrelangen Kolonialkriege zermürbten die portugiesische Gesellschaft. Es kam immer häufiger zu Befehlsverweigerungen und Desertionen. Zudem traten zehntausende von potentiellen Rekruten die Flucht ins Ausland an, um sich dem vierjährigen Militärdienst zu entziehen. Letztendlich entstand die „Bewegung der Streitkräfte“, die MFA, in jenen Einheiten, die in Afrika eingesetzt waren.

Militärputsch und Aufblühen der Demokratie von Unten

Die MFA übernahm die Befehlsgewalt und veröffentlichte am 25. April 1974 ein erstes Kommuniqué an die Bevölkerung:

„Hier spricht das Kommando der Bewegung der Streitkräfte. Wir rufen alle Einwohner Lissabons auf, sich in ihre Häuser zu begeben und dort äußerste Ruhe zu bewahren. Wir hoffen aufrichtig, dass die schweren Stunden, die wir durchleben, durch keinen Unglücksfall getrübt werden. Wir appellieren an Vernunft und Einsicht der übrigen Truppen, damit jeder Zusammenstoß mit den Streitkräften vermieden wird.“

Die Bevölkerung hielt sich nicht an die Anweisungen. Sie war nicht gewillt, sich mit der ihnen zugedachten Rolle als Beobachter am Spielfeldrand abzufinden. Von Anfang an strömte die Bevölkerung auf die Straße. Als die aufständischen Militärs Lissabon mit Panzern besetzten, wurden sie vom Volk begeistert empfangen. Als die Panzer am frühen Morgen durch Lissabon fuhren, um Ministerien, Radio- und Fernsehsender sowie den Flughafen zu besetzen, säumten bereits Tausende jubelnde Menschen die Straßen. Sie tanzten, sangen und kletterten auf Panzer und steckten rote Nelken in Gewehrläufe. Daher wird die Revolution allgemein als „Nelkenrevolution“ bezeichnet.

In den folgenden Tagen spürten die Aufständischen viele PIDE-Agenten und -Informanten in den öffentlichen Einrichtungen, Universitäten, Schulen und Betrieben auf. Der letzte Chef der Geheimpolizei, Major Silva Pais, wurde in seiner Wohnung verhaftet.

In der Nacht zum 27. April wurden die politischen Gefangenen aus dem PIDE-Kerker Caxias befreit. Ihre Verwandten und Freunde empfingen sie auf der Straße. Jahrelang waren die Gefangenen dort ohne Gerichtsverfahren Folter, Isolationshaft und permanenten Demütigungen ausgesetzt gewesen. Befreit wurde auch Hermínio da Palma Inácio, der Gründer der Widerstandsgruppe Liga de Unidade e Acção Revolucionária (LUAR, deutsch Liga für revolutionäre Einheit und Aktion). Er galt als einer der populärsten und vom Regime gefürchtetsten Widerstandskämpfer. Bei der Operação Vagô hatte er 1961 ein Flugzeug in Marokko entführt und zum Überflug von Lissabon gezwungen, um dort 100.000 Flugblätter abzuwerfen, in denen er freie Wahlen forderte. Noch vor dem 1. Mai kehrten viele Verbannte und politisch Verfolgte aus dem Exil zurück. Mario Soares (Sozialistische Partei) kehrte aus Paris zurück wie auch Alvaro Cunhal von der Kommunistischen Partei (PCP). Dieser hatte 13 Jahre in PIDE-Gefängnissen verbracht, bis ihm 1960 die Flucht gelungen war.

Festival der Unterdrückten

Die Tage bis zum 1. Mai wurden zu einem permanenten „Festival der Unterdrückten“. Die Menschen trafen sich und unterhielten sich dort, wo sie lebten, mit den Soldaten und an den Arbeitsplätzen. Sie redeten über die aktuellen Themen, als wären sie „ihr ganzes Leben lang“ Politikprofessoren gewesen. Das Selbstvertrauen wuchs täglich. Überall organisierten sich Menschen auf alle möglichen Arten.

Innerhalb einer Woche nach dem Putsch, zwischen dem 25. April und dem 1. Mai, kam es zu 97 Streiks – mehr als jemals zuvor unter dem alten Regime in einem Jahr. Besetzungen begannen beispielsweise bei Timex und auf den riesigen Lisnave-Werften. Am 28. April besetzten die Bewohner*innen von Boavista, einem Bezirk von Lissabon, leerstehende Häuser und weigerten sich, diese zu verlassen, als sie von der Polizei dazu aufgefordert wurden. In den folgenden zwei Wochen gab es in Lissabon 1.500 bis 2.000 weitere Besetzungsaktionen.

Am 1. Mai feierten schätzungsweise zwei Millionen Menschen den ersten legalen Maifeiertag seit über 48 Jahren. Ana Monica Fonseca schrieb darüber: „Die Menschen haben keine Angst mehr. Diese bemerkenswerte und emotionale Entdeckung war prägend für die 1.-Mai-Demonstration gestern. Ein früherer politischer Flüchtling, der eben aus Frankreich zurückgekehrt war, sagte uns mit Tränen in den Augen: Schreib in Deiner Zeitung, dass dies sogar noch schöner und großartiger war als die Befreiung von Paris, deren Zeuge ich war.“

Die Erinnerung wachhalten

In den 18 Monaten der Nelkenrevolution war Portugal im Fokus der internationalen Linken. Es gab nicht nur in der BRD einen regen Revolutionstourismus nach Portugal. Es gab aber auch eine rege politische Debatte darum, was in diesem kleinen Land am Rande Europas vor sich ging. 1974 gab es ein Bild von João Abel Manta, „Um problema difícil“, das sämtliche Größen der Revolutionsgeschichte vor einer Karte Portugals zeigt.

Por Fonte, Conteúdo restrito, Hiperligação

Heutzutage ist die Erinnerung an die portugiesische Revolution verblasst. Wichtige Erfahrungen der Linken drohen damit, verschüttet zu gehen. Wir werden an dieser Stelle versuchen, zumindest einige Aspekte der Nelkenrevolution wieder ins linke kollektive Gedächtnis zurückholen. Auf den Seiten der Freiheitliebe werden in den nächsten Wochen und Monaten einige Stationen der 18 Monate währenden Nelkenrevolution nachgezeichnet, die es verdient, nicht dem Vergessen anheimzufallen.

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