Fünf Jahre nach der Revolution in Tunesien protestieren erneut landesweite Zehnttausende Menschen. Was in den vergangenen Woche in der Stadt Kasserine begann, setzt sich im ganzen Land fort: Die Forderung nach Arbeit, sozialer Gerechtigkeit und einem Ende der Korruption. Von Jaouhar Tounsi
Am Samstag, den 16. Januar kam es in der tunesischen Stadt Kasserine zu Protesten, nachdem der 28-jährige Aktivist Ridha Yahyaoui einen tödlichen Stromschlag erlitten hatte. Er starb, als er auf einen Strommast kletterte, um zu einem Protestzug aus Arbeitslosen zu sprechen. Yahyaoui war einer von sieben erwerbslosen Absolventen, dessen Namens von der Einstellungsliste für den öffentlichen Dienst gestrichen wurde.
Arbeitslosigkeit in Tunesien
Die Arbeitslosenrate liegt in der jungen Bevölkerung bei rund 40 Prozent, ein Drittel der Arbeitslosen sind Universitätsabsolventen. Laut Salem Ayari, dem Generalsekretär des Bündnisses erwerbsloser Absolventen (United Unemployed Graduates Organisation), hatte Yahyaoui vor Kurzem entdeckt, dass sein Name aus der Liste der Akten verschwunden war, welche dem Premierminister vorgelegt werden sollten, um ihre Lage zu regeln: »Die Liste wurde verändert und manipuliert, ohne dass der Bürgermeister oder der zuständige Abgeordnete, welche mit der Angelegenheit befasst waren, hinzugezogen worden wären.«
Zugeständnisse der Regierung?
Als die Regierung versuchte, die Bewegung zu stoppen, indem sie den Protestierenden von Kasserine Zugeständnisse machte und die Schaffung von 5.000 Arbeitsplätzen versprach, schlossen sich Erwerbslose anderer Städte aus ganz Tunesien der Bewegung an. Als es von staatlicher Seite zu Repressionen und Gewaltanwendung kam, eskalierten die Proteste zu Straßenschlachten mit der Polizei. Angeblich blockierten Protestierende Straßen und steckten eine Polizeidienststelle in Brand.
Protest in ganz Tunesien
Die Proteste breiteten sich über Süd- und Westtunesien aus, dann auf die Hauptstadt Tunis und innerhalb weniger Tage auf das ganze Land. Die Ausbreitung der Proteste geschieht bislang sogar noch schneller als 2010-2011. Daran wird deutlich, dass keiner der Missstände, welche vor fünf Jahren zum Aufstand geführt hatten, behoben wurde. Das tunesische Innenministerium will die Proteste verhindern und rief eine landesweite Ausgangssperre aus. Präsident, Regierung, politischer Mainstream und Medien bekundeten zwar allesamt erstmal Sympathie für die Erwerbslosen. Doch gleichzeitig versuchten sie die Bewegung zu spalten. Wegen der Straßenblockaden und angeblichen Plünderungen griffen sie die Bewegung als »gewalttätig« an. Der tunesische Gewerkschaftsbund (UGTT) nannte die Forderungen der Protestierenden »legitim« und schlug daraufhin vor, UGTT-Mitglieder in staatlichen Gebäuden zu postieren, um sie vor »Plünderern« zu schützen.
Konfrontationen in Tunesien vorerst beruhigt
Angesichts fehlender politischer Führung, die derzeit zu Streiks aufrufen könnte, um den Aufstand weiterzuführen, scheinen die Konfrontationen vorerst beruhigt. Das Innenministerium gab die Festnahme von 261 Personen aufgrund von Plünderungen und von 84 aufgrund von Verstößen gegen die Ausgangssperre bekannt. Etwa 109 Sicherheitskräfte wurden verletzt. Mitglieder der organisierten Linken führte die Proteste teilweise an – doch viele Teilnehmer geben an, sie würden der Politik nicht mehr vertrauen und wollten schlicht und einfach nur Arbeitsplätze von der Regierung fordern.
Die Linke in Tunesien
Die Linke hat es bislang nicht geschafft, größere Teile der Arbeiterklasse zu erreichen. Der Aufstand hat jedoch einmal mehr die Wut und das Leid großer Bevölkerungsteile ans Licht gebracht. Er steht als Zeichen für das Versagen der Regierung, die Wirtschaftskrise und ihre verheerenden Effekte auf Menschenleben einzudämmen. Gefragt nach den Errungenschaften der Revolution vor 5 Jahren geben die meisten jungen Tunesier mit über 60 Prozent die freie Meinungsäußerung an, gefolgt von Demokratie mit knapp 10 Prozent. Auf die Frage, welche Probleme die vergangenen fünf Jahre nicht gelöst haben, geben die jungen Menschen mit 56 Prozent die Arbeitslosigkeit an. Die herrschende Klasse Tunesiens hat die grundlegenden Bedürfnisse der Arbeitenden nicht erfüllen können. Die Welle des Unmuts wird noch lange nicht abebben. Es ist die Aufgabe revolutionärer Kräfte, die Kämpfe der Arbeitenden mit den Forderungen der Erwerbslosen nach Arbeitsstellen und sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, um die herrschende Elite effektiv bekämpfen zu können.
Zum Text: Aus dem Englischen von Marion Wegscheider. Zuerst erschienen bei der britischen Zeitschrift Socialist Worker
Eine Antwort
Auwei wo soll das enden?
Der Arabische Frühling – vom Ansatz her ja eigentlich ganz gut gemeint – verpufft im Chaos und vielleicht auch bald in Anarchie.
Zum wiederholten Mal wird einem deutlich, dass der Sturz eines Despoten nicht zwingend Besserung bringt. Das Gegenteil ist der Fall!
Wir sollten alle daraus lernen.
Und der Westen sollte sich in Zukunft davor hüten, solch einen Putsch auch nur in irgendeiner Form zu unterstützen, ohne einen funktionierenden Regierungswechsel hinzubekommen. Zumal so gut wie kein Araber für eine Demokratie bereit ist – nur erbärmliche 10%.
Es wundert mich nicht, sind diese Länder jahrelang ohne Demokratie gewesen.
Das hat auch damals in Deutschland nachdem Ersten Weltkrieg nicht funktioniert, als das Deutsche Kaiserreich zerfiel und die Weimarer Republik 1919 ausgerufen wurde. Auch hier war es vom Ansatz her gut gemeint, jedoch konnten die wenigsten Deutschen mit einer Demokratie etwas anfangen – viele sehnten sich nach ihrem Kaiser zurück. Idealer Nährboden für radikale Gruppierungen wie zum Beispiel der NSDAP. Was danach geschah, brauch ich hier nicht zu erläutern.
Insofern kann man sich zurecht die Frage stellen, ob das Einmischen westlicher Länder – allen voran USA – nicht eher kontraproduktiv war und im Nachhinein mehr Schaden verursacht hat als Positives herbeigeführt. Nun ist aber das Kind in den Brunnen gefallen und wir können jetzt nur noch zusehen, was mit all diesen Ländern, die sich von ihren Despoten mit und ohne Hilfe des Westens befreien konnten, letzten Endes geschieht.
Ich will ja kein Pessimist sein, aber es sieht momentan nicht gut aus. Wenn der Westen wirklich helfen will, dann muss er alles notwendige Wissen einen vernünftigen demokratischen Staat herzustellen, zur Verfügung stellen und selbst mitwirken.
Das ist ein Mammutprojekt der Extraklasse und sowas hat es bisher meines Erachtens noch nie gegeben.