Am 6. Juni 2020 versammelten sich, wie überall in Deutschland und der Welt, tausende Menschen in der Stadt, um gegen Rassismus und Polizeigewalt Stellung zu beziehen und Geschichte zu schreiben. Meine Eindrücke von einem Wahrhaftig beeindruckenden Tag.
Es liegt etwas in der Luft. Es ist etwa 2 Uhr nachmittags, mitten in Augsburg. Die Züge, die Straßenbahn, die Wege vom Bahnhof zur Demonstration. Überall begegnet man Menschen, vorwiegend jungen Menschen, gekleidet in tiefem Schwarz, selbstgemachte Plakate in der Hand. Man kann heute nicht über den Königsplatz, dem zentralen Ort der Augsburger Innenstadt, gehen, ohne zu merken, dass etwas anders ist.
Die Luft riecht anders.
Viele Leute bemerken mich und die Kamera in meiner Hand. Ich finde niemanden, der sich nicht fotografieren lassen will. Nicht möchte, dass die Botschaft, wegen der sie sich heute versammelt haben, noch weiter in die Welt getragen wird: „black lives matter“. „I can’t breathe“. „No justice, no peace“. Wieder und wieder, ein Chor aus Plakaten, ohne Verbindung aber mit einem Ruf, mit einer Stimme.
Die Stimme von George Floyd. Breonna Taylor. Oury Jalloh. Walter Scott. Latasha Harlins. Die Liste der Opfer des Rassismus ist lang, alle sind wir mit ihr aufgewachsen. Die Liste der Gründe, heute hier zu sein, ist sogar noch länger. Viele der Teilnehmer würden ihren Namen auf ihr finden. Jeder Blick, den man sich auf der Straße einfängt, wenn man dunklere Hautfarbe hat. Dieses dumpfe Gefühl, wenn ein Polizeiwagen an einem vorbeifährt und man sich fragt, wie man eine Konfrontation vermeiden kann. Bloß nichts Dummes machen, das kann gefährlich werden. Das Verhalten, welches ein Polizist zeigen kann, ohne Strafe erwarten zu müssen, obwohl es sich nicht nur jenseits des Rechts, nein, auch jenseits jeder Menschlichkeit bewegt. Bei der Veranstaltung selber wird man später eine Rednerin hören, die uns erzählt, wie sie sich an einem einzigen Abend dreimal bis auf die Haut entkleiden musste, einfach weil die Polizisten vor Ort entschieden hatten, dass sie verdächtig wäre. Präziser, weil sie nicht weiß ist.
Ja, am heutigen Tag geht es um strukturellen Rassismus. Es geht darum, Stimmen, welche sonst keine Plattform bekommen, gehört werden zu lassen. Es geht darum zu zeigen, dass sich diese Generation heute nicht mehr mit den Selbstverständlichkeiten, den Ungerechtigkeiten von damals abspeisen lässt.
Es liegt etwas in der Luft.
Um zu sehen, wie außergewöhnlich es ist, was heute passiert, muss ich etwa ein halbes Jahr zurückgehen. Es ist der 10. Oktober 2019, wenige Stunden zuvor hat ein Rechtsextremer versucht, in eine Synagoge einzudringen und dort in einem Blutbad seinem Wahn und seiner pathologischen Ideologie freien Lauf zu lassen. Auch damals konnte man spüren, dass sich etwas auf die Lunge legte. Damals war es etwas Schweres, etwas Dunkles.
Wir waren damals zusammengekommen, am Königsplatz, der heute so überfüllt ist. Wir, das waren 50, 80, 100 Leute. Es fühlte sich gut an, mit seiner Angst nicht alleine zu sein. Doch tief drinnen fühlten wir uns alleine; sogar in der Einkaufsmeile, nur etwa 20 Meter entfernt, waren selbst zu dieser späten Stunde noch mehr Menschen. Aber was soll man machen? In Augsburg schienen nicht mehr Leute zusammenkommen zu können. Mitten in der Provinz, ist halt so.
Es nimmt mir bis heute den Atem, wenn ich an diesen Abend denke.
Auch Heute bleibt mir die Luft weg, aber es ist so anders. Wir sind etwas früher hier angekommen. Durch die Linse sehe ich, wie sich der Platz füllt. Etwa 500 Menschen waren es am Anfang, dann 1.000, 1.500, 2.000, was wir sehen können. Im Nachgang habe ich erfahren, dass die Demonstration 3.000 Teilnehmer hatte. Im selben Augsburg. Nein, das ist nicht mehr dieselbe Stadt.
Andere Luft.
Die Maske im Gesicht macht es schwerer, ohne Frage. Die Reden können erst eine Stunde später anfangen als geplant. Die Kapazitäten des Platzes sind sehr bald erschöpft, die Menschen dicht gedrängt. Die Hygieneregeln werden eingehalten, nach und nach. Alle hier verstehen, wie wichtig das alles hier ist, weshalb man zusammenkommt; sie halten die Regeln ein, denn es ist nötig.
Es ist Zeit.
Es ist eine diverse Menge, jede Hautfarbe, jede Herkunft und jede Identität steht Seite an Seite miteinander. Vivien Timothy drückte es auf der Bühne so aus: „Es geht nicht um Weiß gegen Schwarz, es geht um Menschlichkeit gegen Rassismus! Und jetzt ist es an der Zeit, dass die Menschlichkeit ein für alle Mal siegt! We can’t breathe!“ Der Platz bebt in Jubel und Zustimmung, man kann nicht anders, als mitgerissen zu werden.
Jede Rednerin, jeder Redner, die oder der heute auftritt, ist begeisternd; man merkt jeder und jedem die Leidenschaft und die Trauer an, mit der sie auf die Bühne gehen und sprechen. Man sieht diese Emotionen in vielen Gesichtern um einen herum.
„No justice, No peace“ hört man sehr häufig, George Floyds Tod ist gemeint; ja, aber nicht nur. Eine Rednerin, sie stellt sich als Ines vor, erzählt, dass sie dieser Tage viel darüber nachgedacht hat, wie die Hautfarbe ihrer Kinder deren Leben beeinflussen wird. So wie das Ihre? Sie berichtet von einer Jugend, in der sie ausgeschlossen wurde von anderen, in der an ihrer Schule Schmähgedichte über ihre Hautfarbe vorgetragen wurden, von üblen rassistischen Beleidigungen durch Lehrer. Von einem Erwachsenenleben, das geprägt war durch konstante Erniedrigungen durch die Polizei und in der Öffentlichkeit. Dass sie beinahe einen Schlaganfall nicht überlebt hatte, da sich die Rettungskräfte erst bei den Umstehenden überzeugen wollten, ob sie nicht einfach harte Drogen konsumiert hatte.
Die Gerechtigkeit, die hier gefordert wird, ist nicht nur die, welche für die Opfer von Polizeigewalt herrschen soll, sondern für eine Gerechtigkeit in der Zivilgesellschaft. Der Frieden, der gemeint ist, beschränkt sich nicht auf die Demonstration, auf BLM, sondern sie ist eine Drohung, dass ab heute kein Moment mehr unberührt bleiben wird vom Kampf gegen diese Verhältnisse.
Als nicht-schwarze Person gibt es vieles, das ich nicht weiß. Ich kann mir noch so große Mühe geben zuzuhören, aber erst, wenn man etwas selbst erfährt, dann kann man es wirklich begreifen.
Die Organisatorin und Hauptrednerin heute, Kharis Ikoko, fordert uns dazu auf, die Aktion des „Silent Protest“ durzuführen, das 8:46-minütige knien. So lange, wie der Polizist das Knie in Floyds Nacken hatte; so lange, wie es dauerte, den wehrlosen Mann zu töten. Alle knien, es herrscht eine beängstigende Stille.
Eine Minute verstreicht.
Eine zweite Minute, es wird unangenehm, in dieser Pose zu bleiben. Die Beine schmerzen.
Etwa bei Minute drei schreien, wie im berühmt-berüchtigten Video, einige Leute in der Menge seine letzten Worte: „I can’t breathe“, Schreie nach der Mutter, Schreie nach Hilfe. Es ist beklemmend, es macht so unglaublich betroffen, es sich bildlich vorzustellen, selbst wenn man das Video bereits kennt.
Es ist die dritte Minute, kaum jemand kann noch ruhig in der Pose verharren; sie wechseln die Knie, sie stehen auf, irgendeine Bewegung. Wir sind erst bei einem Drittel der Zeit.
Und ich beginne jetzt erst wirklich zu verstehen, was Rassismus wirklich ist. Wirklich sein könnte. Man stellt es sich als kultivierten Hass vor, als Abneigung, als antiquierte Angst vor dem Anderen. Ich begreife jetzt, dass ich falsch lag. Eine derartige Leistung, fast neun Minuten in dieser Pose zu verbringen, eine, die den Polizisten ebenfalls unheimliche Schmerzen zugefügt haben muss, lässt sich nicht mehr als Hass beschreiben, nicht als Abneigung. Dieser Grad an offener Menschenverachtung, der so viel von den Tätern selbst verlangt, lässt sich, davon bin ich seit heute überzeugt, nur beschreiben, wenn Gewalt eine Emotion sein kann. Und diese Gewalt ist das, was Menschen jeden Tag erfahren, nur wegen etwas so Insignifikantem wie ihrer Hautfarbe.
Die neun Minuten sind vorbei und der gesamte Platz erhebt sich. Er vibriert. Der Jubel ist noch im weit entfernten Stadtzentrum zu hören. Es ist ein Urschrei, und einer, der dieses System erschüttert. Ich kann offen sagen, dass ich selten etwas derart Beeindruckendes erlebt habe.
Als ich sie frage, was sie bei all dem empfindet, was sie heute erlebt hat, beschreibt es mir Vivien später so (aus dem Englischen übersetzt): „Es ist beinahe so, als würde mein Traum wahr werden! Alle verschiedenen Gruppen kommen zusammen, nicht nur Schwarze, Weiße, jede Hautfarbe kam heute hierher, um mit uns zu kämpfen, mit uns mit einer Stimme zu sagen: Ihr seid nicht allein, wir sind hier, um mit euch zu kämpfen, gegen Diskriminierung, gegen Rassismus! (…) Es ist das erste Mal, dass wir so etwas wie heute sehen, und es ist traurig, dass erst jemand sterben muss, damit es passiert. (…) Aber wir sehen auch, dass, wenn wir alle [wie heute] zusammenkommen, wir alles erreichen, wir unsere Träume wahr werden lassen können!“
Auch im Zug aus der Stadt heraus sind viele Leute zu sehen, ganz in Schwarz. All Black. Alle diskutieren und reden, über die Themen der Demonstration oder über die Veranstaltung. Man merkt ihnen an, dass sie ebenfalls schwer davon beeindruckt sind von dem, was gerade passiert, von der Geschichte, die vor ihren Augen geschrieben wird und an der sie selbst mit Feder führen.
Nach heute ist die Luft anders. Besser.
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