30 Jahre Wiedervereinigung. Wir haben uns vorgenommen, selbst zu erleben, wie es um die „deutsche Einheit“ steht. Deshalb sind wir mit 30 im SDS organisierten Studierenden durch Thüringen, Sachsen und Brandenburg gereist. Neben Museumsbesuchen, Lektüre-Workshops und Stadtrundgängen führten wir Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Cottbus: Situation politischer Geflüchteter
Als eine von ungefähr 2.000 chilenischen Geflüchteten kam Carmen Gennermann vier Jahre nach dem Putsch 1973 in die DDR. Zusammen mit ihrem Mann floh sie 1977 vor dem faschistischen Pinochet-Regime und landete in Cottbus. Carmen machte positive Erfahrungen als politische Geflüchtete; sie bekam eine voll eingerichtete Wohnung gestellt, ihr wurden Sonderkredite gewährt. Sie lebte fortan in Sicherheit, konnte eine Ausbildung zur Hebamme machen. Nazigewalt erlebte sie nicht. Dass es vielen anders erging, betont sie jedoch.
Vor allem Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, von denen ein Großteil aus Vietnam und Mosambik kam, lebten und arbeiteten unter deutlich schlechteren Bedingungen. Dass diese in die Gesellschaft integriert werden sollten, war nicht das Ziel ihres Aufenthalts. Nachdem ihre Verträge ausliefen, gingen sie meist zurück in ihre Heimatländer. Bis dahin lebten sie oft abgeschottet in Wohnheimen.
Auf die Wende blickt Carmen kritisch, da sie in der DDR gut versorgt war und der Osten ihrer Ansicht nach keinen Vorteil aus der Wiedervereinigung zog. Letztendlich konnte sie sich jedoch erfolgreich in der BRD selbstständig machen und arbeitet bis heute als Hebamme in der Nähe von Cottbus.
Hoyerswerda: Strukturwandel
Hoyerswerda haftet das Stigma als „erste ausländerfreie Stadt“ während der Baseballschlägerjahre, einer Welle von Nazigewalt in den neuen Bundesländern in den 90ern, bis heute an. Aufgrund des Schaffens von Wohnraum und Arbeitsplätzen im Lausitzer Braunkohlerevier herrschte hier in Zeiten der DDR massenhafter Zuzug. Der abrupte Einbruch von 70.000 auf 30.000 Einwohnerinnen und Einwohner nach der Wende stürzte die Stadt in eine tiefe Krise. Die Beendigung des Tagebaus zerstörte für die Einwohnerinnen und Einwohner ihr jahrzehntelanges Werk. Die junge Generation zog und zieht noch immer weg und fehlt somit komplett im Stadtbild.
Uwe Proksch von der Kulturfabrik e.V. benennt den Kohleausstieg jedoch als Chance, durch den die Region langsam an Reiz gewinne. Den Verein Kulturfabrik gibt es seit 1994. Er gründete sich als Antwort auf die rechte Gewalt und versucht bis heute, der vorherrschenden Perspektivlosigkeit in Hoyerswerda etwas Positives entgegenzusetzen. Initiativen des Vereins nutzen den Leerstand in der Stadt, malen verlassene Plattenbauten an, veranstalten in ihnen Theaterstücke, feiern Wohngebietsfeste ohne Wohngebiet. Der einstige Rechtsruck gilt als erfolgreich bekämpft, wobei die AfD noch immer hohe Ergebnisse einfährt. Das Projekt dauere an und ließe sich nicht von heute auf morgen stemmen, so Uwe Proksch.
Chemnitz: Rechtsextremismus
Anders wirkt die Situation in Chemnitz – im Jahr 2018 Zentrum rechter Organisierung in Deutschland. Nach den Vorfällen vom 26. August am Rande des Stadtfestes, bei denen ein Mensch getötet und zwei schwer verletzt wurden, riefen die AfD, Mitglieder der Hooliganszene, Pro Chemnitz und andere rechtsextreme Gruppierungen zu Protesten auf. Diese gipfelten am 1. September in einem vorgeblichen „Trauermarsch“ mit ca. 6.500 Teilnehmenden, auf den eine Vielzahl rechter Ausschreitungen folgte. Die spontane Mobilisierung Rechter in einem solchen Ausmaß spiegelt den Einfluss der Neonaziszene in der Stadt wider.
Warum gerade Chemnitz? Dominik Intelmann benennt in seinen „Sieben Thesen zur urbanen Krise von Chemnitz“[1] verschiedene Gründe. Ein wesentlicher Faktor ist auch hier das Fehlen der jungen Generation. An Kulturprojekten mangelt es nicht, aber diese und die sie veranstaltenden Institutionen werden nicht allzu selten als westdeutsch dominiert empfunden. Betrachtet man etwa die Arbeitslosenquote oder die soziale und technische Infrastruktur, geht es der Stadt nicht schlecht. Dass die Mehrzahl der Immobilien in Chemnitz, aber auch in anderen ostdeutschen Großstädten, in westdeutscher Hand sind, trägt jedoch zur Selbstwahrnehmung als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse bei. Außerdem stellt die historisch gewachsene Verankerung der rechten Szene in der Zivilgesellschaft Strukturen bereit, in denen der NSU heranwachsen konnte. Bis heute bestehen Probleme, dieser etwas entgegenzusetzen.
Bischofferode: Treuhand
Die Stilllegung des Kalisalz-Bergwerks in Bischofferode ist ein anschauliches Beispiel für das Treuhand-Unrecht. Der DDR-Vorzeigebetrieb wurde 1993 durch die Treuhandanstalt unter fadenscheinigen Begründungen geschlossen. Offiziell gab es keinen Absatzmarkt für Kalisalz. Inoffiziell sollte der Kundenstamm an die BASF-Tochter Kali und Salz AG in Kassel übergehen, die auch viele der „veralteten“ Maschinen übernahm. Im Schacht befand sich noch verwertbares Produkt, ein westdeutscher Investor hätte den Betrieb übernommen. Aber auch der Hungerstreik der Kali-Kumpel, der bundesweite Aufmerksamkeit auf sich zog, konnte die Schließung nicht verhindern.
Das Kali-Museum in Bischofferode verdeutlicht, dass es sich um einen wirtschaftlich arbeitenden Betrieb handelte, geschlossen durch die Treuhand, mit dem Ziel, die DDR-Wirtschaft zu zerschlagen. Referent Willibald Nebel, 1993 selbst für 14 Tage im Hungerstreik, zeigte sich sichtlich frustriert über die generelle Ansicht, dass die Produktion in den volkseigenen Betrieben rückschrittlich und ineffizient gewesen sei. Seiner Meinung nach war es richtig, dass die Wende kam, aber nicht, wie sie kam. Im Rahmen der Privatisierungen gingen 85 Prozent der DDR-Betriebe an westdeutsche Investorinnen und Investoren, 10 Prozent an ausländische, nur 5 Prozent blieben in ostdeutscher Hand.
Erfurt: Erinnerungskultur
Um einen kritischen Blick auf die Erinnerungskultur an die DDR zu werfen, besuchten wir die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt, in der politische Häftlinge bis zu zwei Jahre einsaßen. Bei den meisten lautete die Anklage „Republikflucht“, schon ein Ausreiseantrag für eine Urlaubsreise konnte zu einer Haftstrafe führen. Repressionen erfuhren auch Künstlerinnen und Künstler, die sich dem staatlich vorgegebenen Stil nicht anpassen wollten. Freiheit über die Berufs- oder Studienwahl bestand nicht. Dass diese Unfreiheit mit dem SED-Regime abgeschafft wurde, ist zweifelhaft – dass viele Vergehen, wegen derer DDR-Bürgerinnen und -Bürger in Untersuchungshaft kamen, heute durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind, nicht. Das Einfordern des Rechts auf freie Ausreise oder Kritik an der SED, sei sie noch so vorsichtig, konnten Haft bedeuten. Der Einfluss der SED erstreckte sich sowohl über die Inhalte des Schulunterrichts, als auch in die Freizeitgestaltung. Einige Gründe von vielen, wegen denen die Menschen die Wende herbeisehnten.
Leipzig: Auswertung
In unserer Abschlussrunde in Leipzig haben wir diskutiert, was wir als Studierendenverband mitnehmen. Uns hat die Reise gezeigt, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, warum Ost und West keine Einheit sind.
Mit dem rapiden Überstülpen eines neuen Wirtschaftssystems ging für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger jegliche Sicherheit verloren. Kinderbetreuung, Arbeitsplatz, Wohnung – was zuvor vom Staat zugesichert war, stand nun in den Sternen. Die „soziale“ Marktwirtschaft der BRD erlebten und erleben viele Ostdeutsche noch immer als einen harten Konkurrenzkampf. Treuhand-Unrecht und Währungsunion waren der Todesstoß für die DDR-Wirtschaft, die sich vor der Wende selbst reproduzieren konnte.
Herauskristallisiert hat sich für uns, wie wichtig das Schaffen kultureller Angebote und ein Sichern der Infrastruktur sind, um den Wegzug zu verhindern. Den Rechten, die das Vakuum nach der Wende vielerorts gefüllt haben, muss eine starke Linke entgegenstehen, soziale Kämpfe müssen geführt, lokale Begegnungsstätten aufgebaut werden. Wir möchten kritisch-solidarisch mit der DDR umgehen und ohne zu beschönigen das BRD-Narrativ der Erinnerung hinterfragen.
Der Beitrag von Lea Klingberg erschien in gedruckter Form in der neuen Critica.
Referenz:
[1] Intelmann, Dominik: Sieben Thesen zur urbanen Krise von Chemnitz. In: sub/urban, 2019, Band 7, Heft 1/2, S. 189-202.
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