Vom »Kapital« lernen? Die Aktualität von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung der Einleitung der von den Autoren verfassten Buches Vom Kapital lernen. Die Aktualität von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie (VSA: Verlag Hamburg 2017), das Anfang Juli erscheinen wird. In insgesamt sechs Kapiteln diskutieren die Autoren die kapitalistische Gesellschaft als Waren- und Geldwirtschaft, die Entwicklung von der Ausbeutung zur wissenschaftlich organisierten Produktion, die Kreislaufformen des Kapitals, die Reproduktion und Akkumulation und die Fragen: Was bedeuten »säkulare Stagnation« und tendenzieller Fall der Profitrate heute und steht das »Ende des Kapitalismus« bevor? Von Joachim Bischoff, Fritz Fiehler, Stephan Krüger und Christoph Lieber.

Vor 150 Jahren erschien das Hauptwerk von Karl Marx – »Das Kapital«. Lässt sich die Wirklichkeit von heute mit Marxschen Begriffen noch verstehen? Marx selbst hatte eine Idee von dem Neuen: »Das ist der Vorzug meiner Schriften, dass sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen. Mit der Jakob Grimmschen Methode ist dies unmöglich und geht überhaupt besser für Schriften, die kein dialektisch Gegliedertes sind.« (MEW 31: 132)[1] Diese dialektische Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie hat den Freund und Mitstreiter Friedrich Engels begeistert; er gratulierte Marx »zu der kompletten Weise, in der die verzwicktesten ökonomischen Probleme durch bloßes Zurechtrücken und Einstellen in den richtigen Zusammenhang einfach und fast sinnlich klargemacht werden. Desgleichen zu der, der Sache nach, höchst famosen Darstellung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital – im vollen Zusammenhange und komplett hier zum erstenmal.« (ebd.: 324) Begeistert äußerte sich Engels schließlich zur Analyse des Akkumulationsprozesses: »Das Theoretische ganz famos, auch die Entwicklung der Expropriationsgeschichte … Sehr brillant ist das Résumé über die Expropriation der Expropriateurs, das wird durchschlagen.« (ebd.: 334) Allerdings ist gleichwohl im Rückblick auf die theoretisch-politische Aneignungsgeschichte festzuhalten, dass die Marxsche Theorie über alle Theorien der bürgerlichen Ökonomen seiner Zeit triumphierte, aber der Kern der bis heute anhaltenden Attraktivität der Argumentation ist damit nicht getroffen.

Weiter hilft da der Hinweis von Marx auf die zentrale Rolle der Wertbestimmung durch die Arbeitszeit. Denn diese Verbindung von theoretischer Analyse mit der bis heute anhaltenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ein »Normalarbeitsverhältnis« liefert einen wichtigen Fingerzeig auf die periodisch wiederkehrende Aktualität der Marxschen Kapitalismuskritik: »Sobald [die Wertbestimmung] aber exakt mit dem Arbeitstag und seinen Variationen in Verbindung gebracht, geht ihnen ein ganz unangenehmer neuer Leuchter auf.« (MEW 32: 11)

In Verbindung mit dem immer wieder ausgetragenen Kampf um die Regulierung des Normalarbeitstages werden die »drei grundneuen Elemente des Buchs« sichtbar:

»1. daß im Gegensatz zu aller früheren Ökonomie, die von vornherein die besondren Fragmente des Mehrwerts mit ihren fixen Formen von Rente, Profit, Zins als gegeben behandelt, von mir zunächst die allgemeine Form des Mehrwerts, worin all das sich noch ungeschieden, sozusagen in Lösung befindet, behandelt wird;

  1. daß den Ökonomen ohne Ausnahme das Einfache entging, daß, wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muß, während die bloße Analyse auf Arbeit sans phrase wie bei Smith, Ricardo etc. überall auf Unerklärliches stoßen muß. Es ist dies in der Tat das ganze Geheimnis der kritischen Auffassung;
  2. daß zum erstenmal der Arbeitslohn als irrationelle Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses dargestellt und dies genau an den beiden Formen des Arbeitslohns: Zeitlohn und Stücklohn dargestellt wird.« (ebd.)

Marx rückt in der Analyse des Kapitalismus die Auseinandersetzung um den Arbeitstag und die Verteilung des gesellschaftlichen Surplus in den Mittelpunkt der Betrachtung. Marx und viele in seiner Tradition sich verstehende Kämpfer um eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Leistung trägt die Vorstellung: »In der Tat, keine Gesellschaftsform kann verhindern, daß one way or another die disponible Arbeitszeit der Gesellschaft die Produktion regelt. Aber, solange sich diese Reglung nicht durch direkte bewußte Kontrolle der Gesellschaft über ihre Arbeitszeit – was nur möglich bei Gemeineigentum – vollzieht, sondern durch die Bewegung der Preise der Waren« (ebd.: 12), bleibt es bei grundlegenden sozialen Konflikten und einem Ringen um die Zukunftsgestaltung.

Die Marxsche Theorie konnte also wegen des grundlegenden Verteilungskonfliktes einen Einfluss behalten und diese Interpretation erregt immer wieder aufs neue die Gemüter. Hat sie uns für die heutigen Probleme auch noch etwas zu sagen?

Die Weltwirtschaft hat sich von der großen Finanz- und Wirtschaftskrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch nach inzwischen fast zehn Jahren noch nicht erholt. Die Ökonomen reden von einer säkularen Stagnation: Gemeint ist damit eine deutliche Abschwächung der wirtschaftlichen Leistung und der Produktivität. Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat sich in den hoch entwickelten Volkswirtschaften der Anstieg des realen potenziellen BIP (diesen gedacht als grundlegenden Trend der Gesamtnachfrage) im bisherigen Verlauf dieses Jahrhunderts von 2,71% im Jahr 2001 auf 1,28% vor wenigen Jahren halbiert. Ein noch dramatischerer Abfall ist laut Angaben des Congressional Budget Office in den USA zu beobachten: von rund 4% auf 1,5% (Congressional Budget Office: Budget and Economic Data; www.cbo.gov/about/products/budget-economic-data#6).

Mehr noch: Die nächste technologische Revolution lässt eine neue Welle der Arbeitslosigkeit erwarten. Millionen von Menschen, die in vielen Bereichen des globalen Marktes keine Chance zum Verkauf ihrer Arbeitskraft haben, machen sich auf die Wanderschaft.

In Amerika und in anderen westlichen Ländern fanden viele früher gute Jobs in der Industrie. Solche Stellen gehen zusehends verloren. Das löst Frustration aus, weshalb die Betroffenen nach einem »Retter« suchen. Demagogen nutzen das aus und schieben die Schuld für unsere Probleme auf die Globalisierung und die Einwanderung ab. Ein Hauptgrund ist jedoch der Technologiewandel. Und eine neue Finanzkrise kündigt sich an: Wer Ansprüche des Finanzsektors privilegiere, so Michael Hudson in seinem 2016 veröffentlichten Buch »Der Sektor«, schütze damit Eigentumsforderungen der Superreichen gegen den verschuldeten Rest.

Im »Kapital« analysiert Marx die fundamentalen Strukturen des sich entwickelnden Kapitalismus – nicht in einem beschränkten fachökonomischen Sinn, sondern als gesellschaftliche Verhältnisse, als Grundlage der Dynamik von Klassenverhältnissen und (sozialen wie auch politischen) Klassenauseinandersetzungen. Er erfasst mit den Bestimmungen der Mehrwertproduktion das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen kapitalistischen Gesellschaftsformation. Der gesellschaftliche Surplus unterliegt vielen marktbasierten und staatlichen Umverteilungen. Der gesamte Arbeits- oder Konsumtionsfonds der Lohnarbeiter besteht also aus dem netto verbleibenden Geldlohn sowie den aus der sozialstaatlichen Umverteilung erhaltenen Transfers der Sozialversicherungen und Gebietskörperschaften. Damit ist auch der Wert der Arbeitskraft erst im Resultat komplizierter Umverteilungsprozesse bestimmt. Das historisch-moralische Element im Wert der Arbeitskraft, welches auf die jeweiligen gesellschaftlich »notwendigen Bedürfnisse« und »die Art ihrer Befriedigung« abhebt, ist ein »historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat«. (MEW 23: 185) Dabei beinhaltet diese Bestimmung der »notwendigen Bedürfnisse« nicht nur die historisch vergangenen Bedingungen des Konstitutionsprozesses der Arbeiterklasse, sondern ebenso sehr die kontemporären Verhältnisse, in denen der Verlauf der Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen dieses historisch-moralische Element des Werts der Arbeitskraft in mittleren Zeiträumen jeweils neu ausbalanciert. Die kapitalistischen Grundstrukturen sind auch für die meisten der heutigen Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Insofern ist die Marxsche Analyse – unabhängig davon, wie man ihre Ergebnisse im Einzelnen beurteilen mag – auch heute noch aktuell; es geht um Fragen, die auch für die gegenwärtigen Gesellschaften relevant sind.

Bisher haben die Nationen dem Hang des Kapitalismus zur Selbstzerstörung widerstanden. Doch heute entziehen wieder bemerkenswert viele Leute dem System den sicheren Boden: Manager, Finanzjongleure oder auch Politiker. Dass die USA den Protektionismus neu entdecken, hätte Marx als Scheinlösung entlarvt. Die Welt muss sich anstrengen, um Marx, den Revolutionsprognostiker, weiterhin Lügen zu strafen. Dafür sollte sie unbedingt Marx, den Analytiker, und Marx, den Weltökonomen, lesen.

Taugt Marx noch zur Analyse des modernen Geld- und Währungssystems?

Das Paradoxon der bürgerlichen Ökonomie: »Im Unterschied von anderen Baumeistern zeichnet die Wissenschaft nicht nur Luftschlösser, sondern führt einzelne wohnliche Stockwerke des Gebäudes auf, bevor sie den Grundstein legt.« (MEW 13: 43)

Marx hat die politische Ökonomie vor Augen, wo die kategorialen Erscheinungsformen und die eigentliche Anatomie nicht im Gleichklang entwickelt werden. Die theoriegeschichtliche Bedeutung des »Kapitals« besteht gerade darin, Einblicke in die Ausarbeitung des Systems der Kritik der politischen Ökonomie zu liefern. Bereits im »Kapitel vom Geld«, in der kritischen Auseinandersetzung mit den Geldvorstellungen und Reformillusionen der »Sozialisten«, stößt Marx auf die Einsicht, dass sich in der systematischen Begründung des Anfangs- und Ausgangspunktes der Darstellung bzw. in dem Verhältnis zwischen einfachen und entwickelteren Formen des Werts übergreifende Strukturzusammenhänge des Gesamtsystems der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise zusammenfassen.

Von der Ausbeutung zur wissenschaftlich organisierten Produktion

Im Folgenden beschreibt Marx die Tendenz zur Verwissenschaftlichung: »In dem Maße aber, in dem die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als … vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.« (MEW 42: 600) Die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Entwicklung des »gesellschaftlichen Individuums«, sprich einer Gesellschaft von gut ausgebildeten und gebildeten Menschen, sie »erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren«. Und dann folgt der kühne Satz: »In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.« (ebd.: 602) Marx war weniger ein Künder des Untergangs, sondern ein Erklärer des Kapitalismus.

Die allgemeine Mehrwertrate

Die Rate des Mehrwerts als Verhältnis zwischen Mehrwert und demjenigen Teil des Kapitals, aus welchem dieser Mehrwert entspringt, drückt die Verwertung des Kapitals qualitativ und quantitativ am exaktesten aus. Es ist das Verhältnis zwischen dem bezahlten und unbezahlten Teil des produktiven Arbeitstages, welches innerhalb des in einem durchschnittlichen Produktionsprozess neu geschaffenen Werts den Exploitationsgrad der Arbeitskraft durch das Kapital bezeichnet. Der Natur der Sache nach ist diese Mehrwertrate erst im Nachhinein, d.h. im Resultat des Produktionsprozesses bzw. als Resultat wiederholter Produktionsprozesse innerhalb eines bestimmten Zeitraums (ein Jahr), fixierbar; denn der Mehrwert ist als Residualgröße der Wertbildung, die neben der Neuwertschöpfung auch die Übertragung des Werts des konstanten Kapitals einschließt, erst im Ergebnis der Realisierung des Werts des gesamten produzierten Produkts (bzw. der erbrachten Leistung) in Geldform bestimmt.

Von der Krise des Fordismus zu Industrie 4.0

Die nach Thomas Kuczynski seit den frühen 1970er Jahren anhaltende Krise des Fordismus ist »im Grunde die Krise des Fließbandsystems, das der US-Industrielle Henry Ford als einer der Ersten in großem Maßstab angewendet hat.« (Kuczynski 2017) Mit dem Fordismus gingen eine Automatisierung, ein erheblicher Produktivitätszuwachs und Lohnsteigerungen einher, die letztlich Normalbürgern den Kauf von neuen Konsumgütern (wie z.B. Autos oder Kühlschränke) ermöglichten. Die bis heute anhaltende Krise dieses Systems wechselt sich immer wieder mit Zwischenhochs, wie z.B. nach dem Untergang des Sozialismus oder während Spekulationsblasen, ab. Lediglich neue Wachstumsimpulse könnten Heilung versprechen, etwa infolge einer neuen Technologie. Doch von dieser ist noch nichts zu sehen. Anders sähe es dagegen aus, wenn Wirtschaft und Politik die ökologische Transformation unseres bestehenden Wirtschaftssystems als hochprofitables Geschäft begreifen würden (vgl. ebd.).

Denn auch wenn unter technologischen Gesichtspunkten das Zeitalter der voranschreitenden Digitalisierung faszinierend und aufregend erscheint, die damit verbundenen ökonomischen Auswirkungen sind begrenzt – abgesehen von den gepushten Börsenwerten von Facebook, Twitter & Co. Tatsache ist, dass das ökonomische Gewicht der Computerindustrie in den Vereinigten Staaten kleiner wird und die Produktivitätszuwächse nur noch marginal sind. Von einer Realakkumulation ist kaum etwas zu sehen.

Es kann durchaus sein, dass uns ein großer Akkumulationsschub noch bevorsteht. Doch die IT-Branche spielt bisher keine so bedeutende Rolle wie seinerzeit die Elektro-, Stahl- oder Chemieindustrie. Zwar ist die Informationstechnologie für unseren Alltag immens von Bedeutung, als Impuls für eine neu anbrechende Kapitalakkumulation eignet sie sich jedoch nicht. So stellte der US-Ökonom Robert Solow bereits vor Langem fest, dass wir Computer zwar überall sehen können, jedoch nicht in den Produktivitätsstatistiken. (vgl. ebd.)

Marx recherchierte gründlich, auch für das knapp 140 Seiten umfassende »Maschinenkapitel« im ersten Band. Es zeichnet mithilfe von Beispielen und Statistiken nach, wie die Mechanisierung, die doch die Arbeit erleichtern könnte, unter kapitalistischen Bedingungen die Last nur noch drückender machte. Wieder eine Lektüre von beklemmender Aktualität, denn auch heute kommen sich Lohnabhängige oft wie Anhängsel von Maschinen vor, nur passen die Apparate mittlerweile in die Jackentasche. Die angesichts der Robotik erneut aufgeworfene Frage, unter welchen Bedingungen technische Innovationen nicht nur Arbeit überflüssig machen, sondern auch neue Arbeitsplätze entstehen lassen, wird im Maschinenkapitel ebenfalls durchdacht und anschaulich abgehandelt.

Reproduktion und Akkumulation

Angesichts der oben skizzierten, bis heute anhaltenden Krise des Fordismus kann es nicht verwundern, dass der Ökonom Michael Hudson bereits weiteres Unheil auf uns zukommen sieht. So braue sich nach dem wirtschaftlichen Beben von 2008 auf den Finanzmärkten bereits weiteres Unheil zusammen. Denn Banken würden immer weniger in Industrie oder Forschung investieren und stattdessen Immobilienkredite oder Darlehen an Rohstoffhändler vergeben. (vgl. Hudson 2016) Damit wächst die private Verschuldung, und die Kreditnehmer führen einen steigenden Anteil ihrer Einkünfte an die Gläubiger ab. Dieser Trend führe, so Hudson weiter, aber unweigerlich zum »Zusammenbruch des Systems«.

Woraus aber resultiert dieser Bedeutungszuwachs der Finanzindustrie? Autoren wie Wolfgang Streeck begreifen ihn als Reaktion auf eine strukturelle Schwäche des Kapitalismus seit Mitte der 1970er Jahre. Untersucht werden muss das Verhältnis von gesellschaftlicher Reproduktion, beschleunigter Akkumulation des Geldkapitals und dem Kreditwesen. Dem geht Kapitel 3 nach, das die Reproduktion und Akkumulation unter Rückgriff auf Rosa Luxemburg analysiert. Denn gerade die Akkumulation des Kapitals ist mehr als nur ein makroökonomisches Rahmenwerk, sie hat vielmehr das Zeug für die Deutung gegenwärtiger und vergangener Entwicklungen.

Trotz aller Wertrevolutionen kann die kapitalistische Produktion nur solange existieren und fortexistieren, als der Kapitalwert verwertet wird. Unterliegt der gesellschaftliche Kapitalwert einer Wertrevolution, kann es dazu kommen, dass ein individuelles Kapital untergeht, weil es die Bedingungen dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. »Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen werden, desto mehr macht sich die automatische, mit der Gewalt eines elementaren Naturprozesses wirkende Bewegung des verselbständigten Werts geltend gegenüber der Voraussicht und Berechnung des einzelnen Kapitalisten, desto mehr wird der Lauf der normalen Produktion untertan der anormalen Spekulation, desto größer wird die Gefahr für die Existenz der Einzelkapitale. Diese periodischen Wertrevolutionen bestätigen also, was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die der Wert als Kapital erfährt und durch seine Bewegung forterhält und verschärft.« (MEW 24: 109)

Kreislaufformen oder die komplexe Zirkulationssphäre des Kapitals

Engels, der Herausgeber des zweiten und dritten Bandes der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie«, war sich sicher: Im zweiten Band des »Kapitals« werden wichtige wissenschaftliche Entdeckungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems weiterentwickelt und damit auch die im ersten Band noch nicht berührten Seiten der politischen Ökonomie einer Umwälzung unterworfen. Allerdings wies der Herausgeber der von Marx selbst nicht für den Druck fertiggemachten Bände 2 und 3 zugleich darauf hin, dass die Aneignung der Argumentation durchaus eine Herausforderung darstellt: »Das 2. Buch des ›Kapitals‹ wird noch mehr Kopfbrechens machen, wenigstens im Anfang, als das erste. Es sind aber wunderschöne Untersuchungen, die den Leuten erst klarmachen werden, was Geld und was Kapital ist und manches andre.« (MEW 36: 165)

Nicht nur für die Vulgärökonomen und Kathedersozialisten ist der 2. Band ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. »Es ist ein gutes Beispiel dafür, was Hegel die Ironie der Weltgeschichte nennt, daß die deutsche Geschichtswissenschaft durch die Erhebung Deutschlands zur ersten europäischen Macht wieder auf den gleichen jämmerlichen Stand reduziert werden sollte, auf den sie durch die tiefste politische Erniedrigung Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg gebracht wurde … Und so beglotzt die deutsche ›Wissenschaft‹ diesen neuen Band, ohne ihn verstehen zu können; lediglich eine gesunde Angst vor den Konsequenzen hindert sie, ihn öffentlich zu kritisieren, und daher hüllt sich die offizielle ökonomische Literatur in vorsichtiges Schweigen.« (ebd.: 384) Dies erklärt, warum in der Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie die Unterschätzung der im 2. Band behandelten Zirkulation des Kapitals. Dabei war Marx einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat den Zusammenhang von Kreislaufformen und der Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals begründet.

»Säkulare Stagnation« und tendenzieller Fall der Profitrate

Bei der Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie stößt Marx auf die Beobachtung, dass gleichzeitig mit dem Fortschritt der Akkumulation eine fortschreitende Veränderung in der Zusammensetzung des Kapitals stattfindet. Der Teil des Gesamtkapitals, der aus konstantem Kapital – Maschinerie, Rohstoffe sowie Produktionsmitteln in allen erdenklichen Formen – besteht, nimmt stärker zu, verglichen mit dem anderen Teil des Kapitals, der in Arbeitslohn oder im Ankauf von Arbeitskräften ausgelegt wird. Diese von Marx später als »Gesetz des steigenden Wachstums des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen« formulierte Beobachtung ist mehr oder weniger präzise auch von der klassischen politischen Ökonomie formuliert worden. Im Fortschritt der Industrie hält die Nachfrage nach lebendiger Arbeit nicht Schritt mit der Akkumulation des Kapitals. Sie wird zwar noch wachsen, aber in ständig abnehmender Proportion, verglichen mit der Vergrößerung des Kapitals. Marx zieht daraus die Schlussfolgerung, dass in der Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale sich immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muss.

Ende des Kapitalismus

In den letzten Jahrzehnten erlahmen in den Ländern des entwickelten Kapitalismus die Wachstumskräfte; spekulative Blasen und daraus folgende Krisen waren die Folge. Auch zehn Jahre nach der großen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 sind die Folgen trotz verschiedener Regulierungsmaßnahmen immer noch präsent. Der charakteristische Zusammenhang im modernen Kapitalismus von hoher Produktivitätsentwicklung, sozialstaatlicher Modifikation der Verteilungsverhältnisse und einer Entwicklung pluralistischer Lebensverhältnisse löst sich infolge eines Bündels von gesellschaftlichen Widersprüchen auf. Durch diesen Umbruch veränderten sich Arbeitsorganisation, die Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, aber auch die Akkumulationsstrukturen und die politisch bestimmten Regulationsformen. Die Stärke der nationalen Organisationen der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung sorgte dafür, dass vor allem die entwickelten kapitalistischen Länder in West- und Nordeuropa – im Unterschied zu den USA und Japan – zu einem starken Stabilitätsfaktor des fordistischen Akkumulationsregimes durch gewerkschaftliche Verteilungspolitik, soziale Sicherungssysteme und keynesianische Nachfragepolitik geprägt wurden. Dabei bildeten sich unterschiedliche transnationale Entwicklungspfade heraus, die wiederum durch unterschiedliche Rollenzuweisungen (Machtverhältnisse) oder einen asymmetrischen Klassenkompromiss geprägt waren.

Seit Mitte der 1970er Jahre treten deutliche Phänomene einer chronischen Überakkumulation in Erscheinung. Das enorm gewachsene Gewicht der Eigentums- und Vermögensbestände bricht sich über die Bewegung des Geldkapitals Bahn. Der Übergang zu weitgehend unregulierten Geld- und Kreditmärkten setzte eine beschleunigte Akkumulation des Finanzkapitals in Gang. Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation ist die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der 1970er Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Die unzureichende Akkumulationsdynamik schlägt sich in der Globalökonomie in einer Ausweitung von »gescheiterten Staaten« und der Auflösung von regionalen Ordnungen (wie dem Brexit) nieder.

Ein alter Streit geht in eine neue Runde: das Ringen um die »Imbalances«, die globalen Ungleichgewichte. Worum handelt es sich dabei? Der Mechanismus geht so: Es gibt Länder wie Deutschland oder China. Sie verkaufen für mehr Geld Maschinen, Autos oder Anlagen ins Ausland, als sie Fernseher, Nahrungsmittel und Öl einführen. Der Export ist größer als der Import. Das ist ein »Leistungsbilanzüberschuss«. Der Begriff der globalen Ungleichgewichte klingt so herrlich vage und so bedrohlich zugleich, dass Akteure unterschiedlicher Richtungen ihn gern für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Das kreditfinanzierte oder schuldenbasierte neoliberale Wirtschaftsmodell ist am Ende, die Mängelverwaltung durch die zentralen Notenbanken verhindert lediglich den Zusammenbruch. Der Vertrauensverlust gegenüber den politischen Entscheidungsträgern nimmt deutlich zu. Die Eliten sind orientierungslos. Die Enttäuschung und Distanz großer Teile der Bevölkerung in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist keineswegs Ausdruck von akuten wirtschaftlichen Nöten. Die Rechtspopulisten unterschiedlicher Provenienz inszenieren sich als Parteien des »Anti-Establishments«. Die Alt- oder Konsensparteien der westlichen Republiken hätten komplett versagt und ein ökonomisches wie kulturelles Desaster angerichtet. Man fragt sich: Befinden wir uns in einer Fundamentalkrise des Kapitalismus? Ist dessen Ende gekommen? Denn auch der Kapitalismus ist eine historische Formation. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. »Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, hat immer großen Nutzen aus der Präsenz von Gegenkräften gegen eine Alleinherrschaft des Profits und des Marktes gezogen. Sozialismus und Gewerkschaftsbewegung haben, indem sie der Kommodifizierung Grenzen setzten, den Kapitalismus davor bewahrt, seine nichtkapitalistischen Grundlagen zu zerstören … So gesehen könnte der Sieg des Kapitalismus über seine Widersacher sich als Pyrrhussieg erweisen, weil er ihn von eben jenen Gegenkräften befreite, die ihm zwar gelegentlich unbequem, tatsächlich aber seiner Fortexistenz stets dienlich gewesen waren.« (Streeck 2015: 111)

Mögliche Erfolge von Transformationsprozessen sowohl im Kapitalismus als auch über ihn hinaus setzen vor allem voraus, dass die Subjekte bzw. Akteure vorhanden sind, um die notwendigen Veränderungen gegen den erbitterten Widerstand der ökonomisch und politisch Herrschenden in langwierigen, schwierigen Kämpfen durchzusetzen. Hierfür ist es auch wichtig, dass realistische, glaubhafte und überzeugende Vorstellungen vorhanden sind bzw. herausgebildet werden, dass die Verwirklichungen der vorgeschlagenen Alternativen mit den Interessen der Menschen an einem besseren Leben heute und in Zukunft übereinstimmen.

Kein anderes Werk der ökonomischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts enthält eine solche Kraft der Prognose. Marx’ Grundthese lautet: Wenn nur die Arbeit Wert produziert, aber der Anteil der Arbeit gegenüber der Macht der Maschinen immer weiter zurückgeht, dann wächst das Problem der Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum. Dieses Problembewusstsein hat gerade in der Gegenwart neue Aktualität gewonnen.

Joachim Bischoff, Fritz Fiehler, Stephan Krüger und Christoph Lieber arbeiten seit vielen Jahren über die »Kritik der Politischen Ökonomie« und führen Lesekurse zum »Kapital« durch.

Literatur
Hudson, M. (2016): Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört, Stuttgart
Kuczynski, T. (2017): »Quasi auf Marx’ Schultern«, in: Frankfurter Rundschau vom 20.1. (www.fr.de/wirtschaft/thomas-kuczynski-quasi-auf-marx-schultern-a-740676).
Streeck, W. (2015): Wie wird der Kapitalismus enden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2015, S. 99-111.
[1] Im Folgenden werden Marx und Engels zitiert nach Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1956ff., Band und Seitenangabe, und nach der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1975ff., Abteilung, Band und Seitenangabe.

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