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Wenn Staaten morden

Kennen Sie Agnès Callamard? Zugegeben, bis vor Kurzem wusste auch ich nichts von ihr. Aber von dem Mord an Jamal Khashoggi haben Sie gehört: am 2. Oktober 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul; der Ermordete war ein Journalist, der in der Washington Post regelmäßig das saudische Regime kritisierte. Wer waren die Auftraggeber? Agnès Callamard veröffentlichte im Juni 2019 einen 100 Seiten umfassenden Bericht mit einem brisanten Ergebnis: Es ist glaubwürdig belegt, dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der politisch Maßgebliche, und Mitglieder der saudischen Regierung für den Mord verantwortlich waren (OHCHR/A/HRC/41/36).

Tatort saudisches Konsulat

Agnès Callamard hat ihren Bericht als Sonderberichterstatterin des UNO-Menschenrechtskommissars über außergerichtliche, standrechtliche oder willkürliche Hinrichtungen geschrieben. Wenn man das schreibt oder liest, bemerkt man, wie sich der bürokratische Aufbau der Vereinten Nationen vor die politischen Taten schiebt, die uns unmittelbar interessieren. So erfahren wir wenig über die aufklärende Arbeit der UNO aus den Zeitungen – von anderen Medien ganz zu schweigen. Dadurch entgeht uns vieles, das uns über die Verhältnisse an anderen Orten des Globus und über die Mitverantwortung Deutschlands und Europas belehren kann.

Einen Überblick über Staatsverbrechen gab Callamard, als sie kürzlich aus der UNO ausschied, um Generalsekretärin von Amnesty International zu werden. Aufsehen erregen Staaten mit Mordanschlägen, wenn sie sie im Ausland verüben lassen, wie wir es vor allem mit Russland assoziieren. Aber die UNO-Berichterstatterin klärt uns darüber auf, dass auch Burundi, Iran, die Türkei oder Ägypten manche ihrer Gegner im Ausland „hinrichten“ – und eben Saudi-Arabien. Das habe damit zu tun, dass die Staaten die Informationen über ihre internen Verhältnisse unter ihrer Kontrolle halten wollen, der sich die Ausgewanderten entziehen (so in einem Interview mit dem französischen „Le Monde“ vom 27. März 2021).

In einem 100-seitigen Bericht kam Callamard zum Ergebnis, es sei glaubwürdig belegt, MbS stecke hinter dem Mord an Khashoggi – und erntete dafür indirekte Morddrohungen. By POMED, Flickr, licensed under CC BY 2.0.

Der Fall des Journalisten Khashoggi bestätigt diese Erklärung. Und in diesem Zusammenhang erfahren wir aus dem britischen Guardian noch von einem Vorfall, der etwas über das Verhältnis der Saudis zur UNO aussagt: Bei einem Treffen mit UNO-Beamten im Januar 2020 äußerten saudische Menschenrechtsbeauftragte ihren Zorn über den Bericht der abwesenden Callamard, verdächtigten sie, für ihn von Katar bezahlt worden zu sein, und einer von ihnen sagte, er habe Anrufe von Leuten bekommen, die bereit seien, „sich ihrer anzunehmen“. Die UNO-Beamten verstanden das als eine Morddrohung. Die Bedrohte selbst erklärt solches Verhalten mit der völligen Straflosigkeit, an die die Machthaber gewöhnt seien. Deshalb werde das Völkerrecht unterhöhlt, wenn gegen den hauptverantwortlichen Kronprinzen Mohammed bin Salman keine Sanktionen verhängt werden, wie es der Fall ist. Die Verteidigerin der Menschenrechte lässt also mindestens in diesem Fall das Argument der Politiker nicht gelten, einen eventuellen Verhandlungspartner solle man nicht unter Sanktionen stellen.

Schlachtfeld Philippinen

Der Präsident der Republik der Philippinen, Rodrigo Duterte, drohte Callamard Schläge an, als sie sich im Mai 2017 inoffiziell in seinem Land aufhielt, und ließ sie suchen; nur weil sie schon abgereist war, entging sie seinen Agenten. Dieser Vorfall illustriert, was wir alle wissen: Das Gewaltmonopol liegt bei den souveränen Staaten, das einzige Machtmittel der UNO ist der mehr oder weniger weitgehende Konsens ihrer Mitglieder. Und der stärkte nicht, wie Sie sehen werden, die UNO-Kommissarin für Menschenrechte, als sie konsequent gegen die Regierung der Philippinen vorgehen wollte.

Was gehen uns die Philippinen an?

Einerseits bekämpft der Staat – anders als etwa China – seine mutmaßlichen Gegner nicht nur mit Freiheitsberaubung und anderen Übergriffen wie Folter, die noch begrenzte Lebenschancen offenlassen, sondern vorzugsweise mit Todesschüssen. Und die werden vom Präsidenten seit seinem Amtsantritt 2016 öffentlich als Tötungen verlangt und angekündigt.

Andererseits bemerkte Callamard gegenüber Le Monde, dass insbesondere die europäischen Mitglieder des UNO-Rates für Menschenrechte im Oktober 2020 auf eine schonende Behandlung der philippinischen Regierung hinwirkten: Der Rat beschloss nicht, wie es angemessen gewesen wäre – und etwa gegenüber Venezuela auch geschah –, eine internationale Untersuchungskommission einzusetzen (zu Venezuela, vgl. OHCHR/A/HRC/RES/42/25). Diese „Ohrfeige für die Opfer“ (Callamard) wurde für die zehn Ratsmitglieder aus der Europäischen Union und für die Ukraine und Armenien dadurch mindestens leichter gemacht, dass die Zustände auf den Philippinen – im Unterschied zu denen in Venezuela – in europäischen Medien, politischen Gruppen der Zivilgesellschaften und Parteien wenig kritisiert werden. Und das geht uns als Gesellschaft eines Mitgliedlandes des Rates durchaus an.

Politik mit der Pistole

Haben wir uns daran gewöhnt, dass auf den Philippinen mehr als andernorts „Faustrecht“ herrscht? Als Duterte 2016 für die Präsidentschaft kandidierte und als er mit 39 Prozent der Stimmen gewählt war und amtierte, empörten sich Politiker und Meinungsmacher hierzulande über seine vulgären Rüpeleien und seine Gewaltexzesse:

„Auf den Philippinen gibt es drei Millionen Drogensüchtige, die würde ich auch mit Vergnügen abschlachten.“ (Tagesschau vom 15.12.2016)

Weder diese Brutalität noch, dass sie sich zuerst in einem „Krieg gegen die Drogen“ austobte, beides ist kein Zufall. Schon eine Vorgängerin Dutertes, die Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo (2001–2010), hatte den Drogenkonsum „den Feind Nr.1 des ganzen philippinischen Volkes“ genannt; dabei liegt der Anteil der Drogenkonsumenten an der Bevölkerung mit 2,3 Prozent eher unter dem Weltdurchschnitt (ca. 3,47 Prozent). Nach Jahren einer anscheinend erfolglosen Drogenbekämpfung war die öffentliche Meinung offenbar dafür reif, einem Kandidaten zu vertrauen, der, wie brutal auch immer, eine „Endlösung“ versprach; Duterte verglich seinen Kampf ausdrücklich mit demjenigen Hitlers (Deutschlandfunk, 22.7.2017).

Proteste gegen Dutertes „War on Drugs“ vor dem philippinischen Konsulat in New York, 10. Oktober 2016. By VOCAL-NY (Voices Of Community Activists & Leaders), Flickr, licensed under CC BY 2.0.

Und die Brutalität? Sie erklärt sich nicht, macht einen aber doch etwas weniger fassungslos, wenn man sich die inneren Konflikte des Landes ein wenig bewusst macht. So wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als die zu 80 Prozent katholischen Philippinen eine US-amerikanische Kolonie waren, die Muslime im Süden der Insel Mindanao bekämpft – sie wurden in einem langen Krieg (1904–1916) unterworfen – und unterdrückt, insbesondere durch die Ansiedlung von Christen aus dem Norden zur Minderheit auf ihrem eigenen Territorium gemacht, wie heute die Tibeter und Uiguren in China. Das lässt einen die Aufstände radikaler Muslimgruppen verstehen, die seit den sechziger Jahren immer wieder die Regierungstruppen bekriegten und manchmal auch Städte außerhalb des Gebietes überfielen, das sie für sich beanspruchten.

Es gab seit den 1950er Jahren auch eine kommunistische Aufstandsbewegung. In den siebziger Jahren reichte das Spektrum des marxistischen Widerstands von Studentenprotesten bis zur Bildung von zwei Guerillaverbänden. Präsident Marcos, dessen Ruf auch zu uns gedrungen war, reagierte mit kriegerischen Einsätzen der Armee und paramilitärischer Verbände, die bei ihrer Jagd auf Kommunisten vor allem Zivilpersonen ermordeten. Marcos verhängte 1972 das Kriegsrecht und verbot die Medien der Opposition, inhaftierte viele ihrer Vertreter und begann mit der Praxis, angebliche Kommunisten verschwinden oder von Militärs verstümmelt irgendwo liegen zu lassen. Unter der schon genannten Präsidentin Arroyo (2001–2010) steigerten sich die Verbrechen des Staates: über 1.200 außergerichtliche Hinrichtungen, über 200 Verschwundene, ungezählte Folterungen. Insofern ist der Staatsterror des heutigen Präsidenten nichts Neues – er erreicht nur ein bisher unbekanntes Ausmaß: Nach dem Obersten Gerichtshof der Philippinen wurden allein zwischen Juli 2016 und November 2017 über 20.300 Menschen im sogenannten Krieg gegen die Drogen von der Polizei und selbsternannten Vollstreckern des präsidialen Willens ermordet (OHCHR/A/HRC/44/22, § 20).

Duterte unterscheidet sich von seinen Vorgängern nicht nur durch das ungeheure Ausmaß der Staatsverbrechen, für die er verantwortlich ist, sondern in zwei weiteren Hinsichten:

Erstens verlangt beziehungsweise befiehlt er diese Verbrechen, wie gesagt, in aller Öffentlichkeit. Dabei war der „Krieg gegen die Drogen“ nur die Einstiegsdroge. Schon vor seiner Wahl antwortete Duterte auf die Frage, wie er das Problem der Morde an Journalisten angehen wolle:

„Wenn du ein Scheißkerl bist, bist du vor Mord nicht sicher, nur weil du Journalist bist.“ (Amnesty International, „My Job Is to Kill“, 2020, S. 20)

Und vor gut einem Jahr erklärte er vor lokalen Beamten:

„Mein Job ist, Leuten Schrecken einzujagen, Leute einzuschüchtern und Leute zu töten.“ (ai, „My Job Is to Kill“, S. 5) – Dabei ist sogar die gerichtlich verhängte Todesstrafe seit 2006 abgeschafft. Duterte will das per Gesetz rückgängig machen.

Die präsidiale Mordsucht wird mittels Todeslisten wirksam. Die meisten Todesopfer, überwiegend Arme, wurden von der Polizei oder ihren Hilfstruppen umgebracht, weil sie auf „Listen zur Drogenbeobachtung“ standen, die von kommunalen Funktionären jeweils eines Wohnviertels aufgestellt und der Polizei übergeben wurden. Auf anderen Listen stehen die Namen von „Terroristen“, die Verteidiger von Menschenrechten sowie von landlosen Bauern und Minderheiten, aber auch Gewerkschafter und Journalisten sein können. Von ihnen wurden Hunderte ermordet. Der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte verweigerte die Duterte-Regierung Zahlenangaben dazu, sie ermittelte aber selbständig 208 Morde zwischen 2015 und 2019 (OHCHR/A/HRC/44/22, § 50). In den Medien und im Internet werden kritische Anwälte und Journalisten individuell „rotmarkiert“, das heißt, als Kommunisten gebrandmarkt und oft in der Folge von Unbekannten erschossen. Nur maximal 3 Prozent dieser Verbrechen werden vor Gericht gebracht und bestraft – eine weitere Ermutigung zusätzlich zum bis heute öffentlich ausgesprochenen Willen des Präsidenten.

Die Reaktion der UNO

Dutertes zweite Besonderheit ist sein Konfliktverhältnis zum Menschenrechtsrat der UNO. Dem Menschenrechtsrat kommt er manchmal taktisch entgegen, im Wesentlichen widersetzt er sich seinen Beschlüssen. Diese Opposition bricht nicht selten in beleidigende bis unflätige Angriffe auf Vertreter der UNO aus, wie auf den Hochkommissar, den er als „Hurensohn“ anredete und konkret als einen Hohlkopf beschrieb, und besonders auf Agnès Callamard (AFP, 4.4.2018). Sie, die nicht bei der UNO angestellt, sondern freie Gutachterin ist, hatte die präsidiale Wut damit erregt, dass sie im Mai 2017 als Expertin an einem Forum in Manila für einen therapeutischen Ansatz in der Drogenpolitik plädiert hatte. Zuvor war ihr offizieller Besuch zur menschenrechtlichen Tatsachenerhebung daran gescheitert, dass Duterte dessen Bedingungen verweigerte, etwa den diplomatischen Schutz (Le Monde, 17.11.2017). „Tochter einer Hure. Sie ist eine Idiotin“, sind nur zwei der vielen Beschimpfungen, die sie sich von Duterte gefallen lassen musste (The Asean Post, 30.8.2017).

Die jüngsten Auseinandersetzungen des Menschenrechtsrats (in der Rolle einer Legislative) mit Dutertes Regime begannen im Juli 2019 mit dem Beschluss des Rates, die Hochkommissarin Michelle Bachelet (in der Rolle der Exekutive) möge umfassend über die Menschenrechtslage auf den Philippinen berichten (Deutsche Welle, 11.7.2019). Der philippinische Außenminister erklärte den Beschluss für ungültig, weil die Gegenstimmen (14) zusammen mit den Enthaltungen (15) die Ja-Stimmen (18) überwogen. Duterte ließ auch keine UNO-Vertreter zu Untersuchungen vor Ort einreisen. Anfang Juni 2020 erstattete die Hochkommissarin dem Rat einen ausführlichen Bericht über das ganze Spektrum der Mordaktionen, der „Rotmarkierungen“ und der widerrechtlichen Inhaftierungen in zu 534 Prozent überfüllten Gefängnissen (OHCHR/A/HRC/44/22). Im Hinblick auf den weiteren Verlauf ist nun wichtig, dass der Bericht

  • die sofortige Aufhebung der Erlasse empfiehlt, mit denen die Mordaktionen angeordnet wurden, und natürlich deren Beendigung sowie die Auflösung der paramilitärischen Kampfgruppen (§ 87, a 1 u. b 2);
  • dem Menschenrechtsrat empfiehlt, die philippinische Regierung mit einer internationalen Maßnahme zur Rechenschaft zu ziehen, falls nationale Maßnahmen keine messbaren Ergebnisse bringen (§ 88, 3).

Während Michelle Bachelet sich zur Zusammenarbeit mit der Duterte-Regierung auf der Grundlage der Empfehlungen des Berichts bereit erklärte, reagierte der philippinische Justizminister im Juli 2020 mit der Ankündigung, er werde selbst zusammen mit dem philippinischen Menschenrechtsrat 5.600 Tötungen im Zuge des Kriegs gegen die Drogen untersuchen (ai, „My Job Is to Kill“, S. 11). Bis Oktober hatte der nationale Menschenrechtsrat noch nichts über seine Funktion in diesem Vorhaben erfahren. Amnesty International wies darauf hin, dass auch die Polizei und die Behörde zur Durchsetzung des Drogenverbots teilnehmen sollten, was für Zeugen nur abschreckend sein könne.

Wohl um dieses Ablenkungsmanöver zu neutralisieren, folgte Callamard im September 2020 über 60 philippinischen und internationalen Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch mit der Forderung, der Menschenrechtsrat der UNO solle eine internationale Untersuchung der Menschenrechtslage auf den Philippinen beschließen (HRW, 16.12.2020; Rappler, September 14, 2020). Solche Untersuchungen der UNO gelten „Unruhegebieten“ und sollen „die Besorgnis anzeigen, dass die Lage ‚explodieren’ könnte“ (Erklärung der UN-Generalversammlung 47/59). Es handelt sich also um eine Steigerung im Verhältnis zu dem Beschluss von 2019, die Hochkommissarin möge einen Bericht über die Philippinen erstatten.

Am 7. Oktober 2020 machte sich der Menschenrechtsrat der UNO diese Forderung aber nicht zu eigen (OHCHR/A/HRC/RES/45/33). Er berief sich vielmehr auf die Ankündigung einer gemeinsamen Untersuchung von Justizministerium und philippinischen Menschenrechtsrat, um sich mit der Aufforderung an die philippinische Regierung zu begnügen, sie solle die Probleme lösen, die der Bachelet-Bericht dargestellt hatte. Die Hochkommissarin solle die philippinische Regierung bei ihrer Suche nach den Verantwortlichen für die früheren Verbrechen mit technischen Mitteln und mit Ausbildungsmaßnahmen unterstützen. Der Rat forderte also keineswegs, die Anordnungen zum Töten aufzuheben und die Paramilitärs zu entwaffnen. Er setzte die Regierung auch nicht mit der Drohung unter Druck, es werde eine internationale Untersuchung beschlossen, wenn die Verbrechen nicht aufhörten.

Man erführe gern, wie es zu dem radikalen Verzicht auf die Forderungen des Bachelet-Berichts kam. Mangels Einsicht in Verhandlungsprotokolle kann ich nur auf drei Umstände hinweisen: Zehn von 47 Ratsmitgliedern gehören der EU an (Bulgarien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Polen, Österreich, Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Italien, Spanien); diese arbeitet schon seit 2017 mit der philippinischen Regierung bei der Reform des Managements im Justizapparat zusammen. Eine spanische Entwicklungsinstitution soll außerdem Staat und Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen die Straflosigkeit bei Menschenrechtsverbrechen unterstützen (EU-Programm „GoJust“). Haben die EU-Mitglieder im Rat, wie Callamard annimmt, auf einen radikal verharmlosenden Ratsbeschluss der UNO hingewirkt, damit die Menschenrechtspolitik der UNO auf den Philippinen mit der EU-Entwicklungshilfe in Sachen Justiz übereinstimmt?

Wenn man den Amnesty-Bericht 2020 (Amnesty International, 2021) zu den Philippinen liest, dann erscheinen das EU-Programm und der UNO-Beschluss einigermaßen surreal. Duterte forderte die Polizei jetzt auch zur Erschießung der Leute auf, die sich dem Lockdown nicht fügten. Und sogar nach Angaben der Regierung brachten die Polizisten von April bis Juli 2020 155 Menschen um – eineinhalb Mal so viele wie von Dezember 2019 bis März 2020. Im August wurden die zivilgesellschaftlichen Aktivisten R. Echanis und Z. Alvarez, die die Regierung 2018 auf eine Terroristenliste gesetzt hatte, von Unbekannten erschossen. Bis dahin war die Reform des Justizmanagements wohl noch nicht gelangt.

Ein Drohnenschuss der USA

Wie hätte der amerikanische Präsident angemessen auf die verfängliche Frage antworten können, ob sein russischer Kollege ein Mörder ist? „Wir sind es auch“, hätte er sagen können. Und hinzufügen: „Wir machen es geschickter.“ In den NATO-Ländern wurden die diplomatischen Beziehungen zu Russland wesentlich eingeschränkt, nachdem russische Agenten 2018 auf britischem Territorium einen Giftanschlag auf ihren früheren Kollegen Skripal und seine Begleiterin unternommen hatten. Am 3. Januar 2020 ermordeten die USA den iranischen General Qassem Soleimani auf dem Staatsgebiet des mit ihnen verbündeten Irak. Sie gebrauchten dafür eine Kampfdrohne, die entgegen ihrem Ruf nicht so präzise zielte, dass sie nicht auch vier iranische Begleiter und fünf Iraker vernichtet hätte, darunter den stellvertretenden Befehlshaber des Milizenbündnisses „Volksmobilisierungskräfte“.

Agnès Callamard hat im Juni 2020 für den Menschenrechtsrat der UNO einen Bericht über Mordeinsätze von Drohnen geschrieben und eine völkerrechtliche Beurteilung der Vernichtung von Soleimani und der anderen Getroffenen angehängt (OHCHR/A/HRC/44/38). Völkerrecht – gibt es so etwas? Scheinbar nicht, wenn man sich an den Diskurs hält, wie er in den meinungsbildenden Medien vorherrscht, die sich auf den Nachvollzug von politischen Kalkülen beschränken. Da erfährt man dann auch nicht, dass der skrupellose Machtmensch Trump fünf Tage nach dem Attentat dasselbe in einem Brief an den Sicherheitsrat der UNO rechtfertigen ließ: es habe sich um einen Akt der Selbstverteidigung gehandelt, wie ihn das Völkerrecht erlaubt (UN-Charta, Art. 51). Mit dieser Rechtfertigung und mit den Mordaktionen hätten er und andere es etwas schwerer, wenn die Normen des Völkerrechts in der öffentlichen Meinung besser bekannt wären und etwas mehr gälten. Sie existieren praktisch in dem Maß, in dem sie für bedeutsam gehalten, politisches Handeln nach ihnen beurteilt wird und sie zu einem Maßstab für die Akzeptanz werden, die Politiker nicht entbehren können.

In ihrer strengen Argumentation ging Callamard von dem Recht aus, das uns angesichts der Pandemie als schlechthin vorrangig dargestellt wird – von dem Recht auf Leben. Dieses Recht wird dadurch Teil des Völkerrechts, dass es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1976), Artikel 6, 1, formuliert ist: „Niemandem darf sein Leben willkürlich geraubt werden“. Während die USA wiederholt bestritten, dass sie außerhalb ihres Territoriums zur Achtung von Menschenrechten verpflichtet seien, hat der Menschenrechtsausschuss der UNO – als Expertengremium zu unterscheiden vom politisch besetzten Menschenrechtsrat – 2019 festgelegt, dass das Verbot der willkürlichen Tötung auch in bewaffneten Konflikten gilt, die Staaten also auch außerhalb ihres Territoriums bindet (CCPR/C/GC/36, I 2). Wie kann es ein militärischer Befehlshaber vermeiden, dass er willkürlich töten lässt? Er muss Alternativen zum Anschlag auf das Leben des oder der anderen erwägen; über Informationen verfügen, dass der oder die andere(n) eine unmittelbare oder zeitnah bevorstehende Gefahr für das Leben Dritter darstellt; er muss vermeiden, nebenbei auch Personen zu töten, die keine Gefahr darstellen. Diesen Anforderungen haben die USA im Fall Soleimani nicht genügt.

Die USA klagten in ihrem Rechtfertigungsschreiben Iran an, er und von ihm unterstützte irakische Milizen hätten 2019 mehrfach amerikanische und andere Schiffe sowie amerikanische Basen im Irak angegriffen. Außerdem habe man Iran vor künftigen Angriffen abschrecken und seine Kapazitäten dazu verringern wollen. Auf die Verletzung der Souveränität eines Mitgliedlandes der UNO, Prinzip der internationalen Friedensordnung, und auf die Ermordung irakischer Bürger ging das Schreiben nicht ein. In ihrer Kritik widerlegte Callamard die amerikanischen Argumente Punkt für Punkt. Wir als Betrachter können daraus vor allem eines lernen: Vergeltung und Abschreckung mögen uns, die wir internationale Beziehungen nach unzivilisierten, weil vorrechtlichen Maßstäben zu beurteilen gewohnt sind, als Rechtfertigung für Mord und Krieg einleuchten. Nach dem Völkerrecht scheitert aber der amerikanische Rechtfertigungsversuch, denn das Völkerrecht erlaubt Krieg nur als Selbstverteidigung gegen einen laufenden oder unmittelbar bevorstehenden Angriff.

Agnès Callamard gehört zu den Vielen, deren Erfahrung und Praxis ihnen keine andere Wahl mehr lässt, als den Kampf für die Rechtlosen fortzusetzen. So sandte sie Ende 2018 die folgende Solidaritätsbotschaft an eine Versammlung philippinischer Menschenrechtsgruppen:

„Liebe Freunde, die Welt wird am 10. Dezember den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begehen. Leider werden an diesem Tag, kein Zweifel, manche Familien auf den Philippinen ihre Angehörigen begraben, die die Polizei oder unbekannte Killer getötet haben, im Zuge eines sinnlosen, von der Regierung in Gang gesetzten Kriegs gegen Drogen.“ Gegen die herrschende Propaganda will sie eine andere Geschichte erzählen: „(…) eine, die stärkt, die mächtiger ist als die von Hass und Angst: die Geschichte vom Mut,

– vom Mut, in einem Polizeibüro einen Mord anzuzeigen,
– vom Mut, vor einem Gericht das auszusagen, was man als Zeuge erlebt hat,
– vom Mut, einen Mord zu gestehen oder dessen Anstifter in Uniform anzuzeigen (…)

Viele Geschichten vom Mut und mutige Handlungen werden den Tausenden Morden, der Grausamkeit, der Gleichgültigkeit, der Korruption ein Ende setzen.“

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