Ideologie und Wahlprogramm des Front National

Marins Le Pens Wahlkampagne unterscheidet sich von den bisherigen programmatischen Aussagen. Aber es trägt die klare Handschrift der Fremdenfeindlichkeit, der ökonomischen Absicherung der Mittelschichten und einer sozialpolitischen Linkswende, gibt sich jedoch in den konkreten Forderungen eher moderat und „wählbar“ für die verschiedenen Zielgruppen.
Dies ist der zweite Teil eines Beitrags zu Frankreich, der erste erschien vergangenen Samstag.

Die 144 Forderungen versprechen ein „freies Frankreich“«, ein „stolzes Frankreich“, ein „prosperierendes Frankreich“, ein „gerechtes Frankreich“.

Der FN verzichtet auf eine klare Aussage zum Euro-Ausstieg, denn das Thema findet keine Mehrheit in der Bevölkerung und ist auch in der Partei selbst umstritten. Es ist lediglich von einer Rückkehr zur nationalen Währungs-, Wirtschafts-, Territorial- und Gesetzgebungs-Souveränität die Rede. Man will ein Referendum über die Zugehörigkeit zur EU organisieren und aus den militärischen Kommandostrukturen der NATO austreten.

Kernpunkt des FN-Programms ist die Sozialpolitik. Im Vordergrund steht eine „Kaufkraft-Prämie“, die an RentnerInnen und alle Einkommen unter 1.500 Euro im Monat ausgezahlt werden soll und die Forderung von 2012 ersetzt, für Lohnabhängige mit bis zu 1,4-fachen des Mindestlohns (9,67 Euro) die Sozialabgaben um 200 Euro zu senken. Die Umorientierung zielt auf die Wählerschaft, die sich bisher durch hartnäckige Wahlenthaltung auszeichnet.

Auf die von Le Pen getestete Forderung, MigrantInnen ohne französischen Pass in den ersten zwei Jahren ihrer Beschäftigung zwar in die Sozialsysteme einzahlen zu lassen, aber erst danach deren medizinische Versorgung zu übernehmen, wurde als zu radikal fallen gelassen. „Das würde die Franzosen zu sehr schockieren.“ Aber die kostenlose medizinische Notversorgung für nicht Krankenversicherte soll gestrichen werden.

Den öffentlichen Dienst will der FN wieder aufstocken: Le Pen fordert die Rekrutierung von 15.000 Polizisten und Gendarmen, 6.000 Zöllnern und 50.000 Militärs sowie eine unbestimmte Zahl in den Krankenhäusern und Stadtverwaltungen. Hier hatte FN-Kandidatin vor allem in den unteren Rängen bei den Regionalwahlen große Stimmgewinne erzielt. Das Verteidigungsbudget würde innerhalb von fünf Jahren verdoppelt werden (von derzeit 1,5% des BIP auf 3% im Jahr 2022).

Der Mittelstand ist zwar in Frankreich kein Begriff, zählt aber zur treuesten Wählerschaft des FN. Daher wendet sich die Partei in ihrem Wahlprogramm gerade den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu, deren Gewerbe-Steuerlast von heute 33 auf 24% gesenkt werden soll, für Kleinstunternehmen sogar auf 15%. Ebenso soll die in Frankreich fünfstufig erhobene Einkommenssteuer in den unteren drei Stufen abgesenkt werden. Der Freibetrag für Vermögensübertragungen soll auf 100.000 Euro pro Kind oder Enkel erhöht werden.

Die „nationale Präferenz“ wird im Wahlprogramm konkretisiert durch eine 3%-Steuer auf Importe, eine Kennzeichnungspflicht für inländische Produkte und eine Marktzugangsbeschränkung bei öffentlichen Ausschreibungen und Beschaffungen, „sofern ein vernünftiger Preisabstand gewahrt bleibt“. Auf die ursprüngliche Festlegung eines solchen Abstands auf 25% habe man verzichtet, um die inländischen Anbieter nicht von vorneherein zu Preiserhöhungen zu ermutigen, hieß es. Der FN fordert das Verbot des Fracking und genveränderter Lebensmittel in Frankreich.

Innen- und sicherheitspolitisch hart wie erwartet, fordert der FN eine Obergrenze von 10.000 Personen, das Ende des Staatsbürgerrechts für im Land Geborene („droit du sol“), der doppelten Staatsbürgerschaft für außereuropäische Staatsangehörigkeiten und für „Djihadisten“.

In der Arbeitsmarktpolitik ist die nationale Handschrift ebenfalls lesbar: Die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit soll eingeschränkt, die Entsenderichtlinie suspendiert werden. Der Zugang zur Krankenversicherung soll für alle Franzosen garantiert sein, für die Freiberufler auf Basis einer Selbsteinschätzung ihrer Beitragshöhe. Dies ist angesichts der hohen und steigenden Zahl von Plattform-Arbeitenden von erheblicher Bedeutung.

Für die klassischen ArbeitnehmerInnen bieten die Rechtspopulisten den Erhalt der 35-Stunden-Woche und die Abschaffung der Arbeitsmarktreformen Macrons an. Das Renteneintrittsalter soll wieder von 62 auf 60 Jahre (nach 40 Beitragsjahren, derzeit 41,5 Jahre) gesenkt werden.

Für den Fall eines Wahlsieges will der Front National seine Macht unmittelbar absichern, indem das Wahlrecht geändert wird. Die Zahl der Abgeordneten in der Nationalversammlung wird von 577 auf 300 reduziert, das Verhältniswahlrecht eingeführt und die stärkste Partei mit einem Bonus von 30% der Abgeordneten zusätzlich abgesichert.

Im Unterschied zu den faschistischen Organisationen im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts handelt es sich beim Front National nicht um eine (unifomierte) Miliz, noch sind im aktuellen Programm korporatistische Zielvorstellungen zur Neuordnung des Staates enthalten.

Das Präsidentenamt verfügt in der De Gaulleschen Verfassung der V. Republik über hohe außenpolitische und militärische Kompetenzen, über deren Anwendung das FN-Programm jedoch schweigt. Es fehlen Eroberungs- und Lebensraumpläne, Träume von einer „neuen Ordnung«“ einer mystifizierten Vergangenheit (auch wenn man die Zeit des Kolonialismus vor Verunglimpfungen verteidigt) oder davon, einen „neuen Menschen“ schaffen zu wollen. Allerdings wolle man Frankreich gemäß seiner historischen Mission wieder groß machen.

Insofern handelt es sich nicht um ein neofaschistisches Projekt, wohl aber um ein national-identitäres Programm, das ausgehend von einem integralen Staatsvolk mit einheitlicher Kultur und einem übereinstimmenden Geschichtsverständnis direkt und demokratisch (homogenisiert durch den 30%-Zuschlag in der Verhältniswahl und eine 5%-Sperrklausel) mit dem Staatspräsidenten kommuniziert (in Plebisziten), der dann mit einem autoritären Staat diesen Willen exekutiert. Der FN bekundet an keiner Stelle den Willen, das bisherige politische System und seine Parteiendemokratie mit illegalen und gewaltsamen Mitteln zu beseitigen, sondern bekennt sich ausdrücklich – dies war Teil des „Entdiabolisierungsprozesses“ – zur Machteroberung durch demokratische Wahlen in einem pluralistischen Prozess.

Dem Präsidialprogramm unterliegt nach wie vor die klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind und die Tendenz, den Ausnahmezustand, der in Frankreich seit den Attentaten im Januar 2015 verhängt ist, zu verabsolutieren. Das beinhaltet nicht den Ein-Parteien-Staat. „Es ist derzeit schwer zu sagen, wie ein Staat aussehen und funktionieren würde, in dem der FN die Exekutive und/oder die Legislative kontrolliert. Über diesen Staat wissen wir nur eines: Er muss ›stark‹ sein.“ Aus dem Parteiprogramm des FN ist zu schließen, dass Frankreich eine Republik bliebe, deren Verfassung ihren Vorrang vor internationalen – auch europäischen – Verträgen wiedererlangen würde.

Die Aufwertung der direkten Demokratie, die das Versagen des repräsentativen Systems ausgleichen soll, ist neben der Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft und der Überbetonung einer mystifizierten nationalen Identität eines der Charakteristika des sogenannten Nationalpopulismus, wie ihn der Politikwissenschaftler Pierre-André Taguieff bereits Mitte der 1980er Jahre beschrieben hat.

„In der Tat steht der FN für einen identitären Populismus, der sich antiparlamentarischer Allgemeinplätze bedient, indem er den ›gesunden Menschenverstand‹ des als organische Einheit definierten Volkes der vermeintlichen Fehlentwicklung der Eliten entgegenstellt, die die Demokratie in Beschlag genommen hätten. Das Konzept des Rassismus, das eine Rangordnung der ethnischen Gruppen begründet, wird ersetzt durch einen anderen Gegensatz: jener zwischen ›uns‹, den ›Ur-Franzosen‹, die allein die historische Legitimation besitzen, sich auf französischem Boden aufzuhalten, und ›ihnen‹, den Immigranten und Ausländern im Allgemeinen. Diese können allenfalls die französische Staatsbürgerschaft erlangen, wenn sie kulturell europäisch geprägt sind und sich assimilieren, was im Falle einer außereuropäischen Herkunft jedoch selbst durch einen Willensakt nicht gelingen kann. Hinzu kommen der ausgeprägte Souveränismus des FN, der sich im Bestreben äußert, Frankreich aus der Europäischen Union herauszuführen, um insbesondere die Kontrolle über die Staatsfinanzen und die Außenpolitik wiederzuerlangen, sodass das Konzept des Nationalpopulismus die Identität des FN heute am besten beschreibt.“i

Die FN-Ideologie richtet sich an den Nachbarn nebenan, der die soziale Spaltung der Republik spürt, der um die Zukunft seiner Kinder bangt, den Wert seiner Immobilie durch Urbanisierungsprozesse gefährdet sieht und dessen Rücklagen nicht genug Zinsen mehr abwerfen, um die private Verschuldung zu stoppen. Überhaupt sieht man sich um die Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg betrogen. Daran können nur das „Assistanat“ (Sozialschmarotzer) und die islamisch-terroristischen Immigranten (in unsere Sozialsysteme) Schuld tragen.

Der FN hat sich zumindest in dieser Wahlkamphase der neoliberalen Dogmatik weitgehend entledigt und polemisiert stattdessen gegen Fillon aus einer „linken“ Ecke heraus. Eine Programmatik der nationalen Präferenz und der Kritik der Globalisierung kann nicht neoliberalen Ursprungs sein. Das Kleinunternehmertum, auf das sich FN stützt, mag zwar rigoros gegen Steuerbelastung und Lohnnebenkosten ankämpfen (ähnlich Trumps Dekonstruktion des Staates), aber die Großindustrie ist auf ihre Weltmärkte sowohl in den Zulieferketten als auch als Absatzgebiete angewiesen.

Die Parole, unter die der FN die Wahlkampagne gestellt hat, lautet „Im Namen des Volkes“. Damit appelliert Le Pen an eine ähnliche Haltung wie Trumps „I’ll take care of you“ (Ich kümmere mich um euch) oder Wilders „Wird erledigt!“.

Macron: Erneuerung Frankreichs aus dem Geiste des Laissez-faire

Eine Umfrage wollte schon vor dem ersten Wahlgang Emmanuel Macron vor Marine Le Pen gesehen haben. Aber ein Durchmarsch des „Aufsteigers“ aus dem Milieu der sozialistischen Partei ist kein Selbstgänger. Der Nicht-Sozialist in der PS-Regierung hat zusammen mit der Arbeitsministerin die Arbeitsmarktflexibilisierung durchgesetzt und sich dann als Präsidentschaftskandidat – „nicht links/nicht rechts“ – aus der Regierung gelöst und damit die Gegensätze bei den Sozialdemokraten zugespitzt.

Immer mehr Rechtskonservative ziehen sich nach der Eröffnung eines formellen Untersuchungsverfahrens von ihrem Kandidaten François Fillon zurück. De Villepin, Vertrauter von Sarkozy und damit zum Unterstützerkreis zählend, hatten den Kandidaten zum Rücktritt aufgefordert, doch der schmachvolle Abgang bleibt ihm erspart. Seine hemmungslose Selbstbereicherung an den Staatsgeldern gilt in Kreisen seiner katholischen Fans als lässliche Sünde im Vergleich zur „Ehe für alle“, die Fillon wieder abzuschaffen versprach. Nach der Mobilisierung von 40.000 Statisten zu einer Solidaritätskundgebung im feinen Pariser Westen kamen sein Pressesprecher und andere Helfershelfer wieder zurück, aber in den Umfragen bleibt Fillon abgeschlagen auf dem dritten Platz. An sein katholisches Potenzial ist Le Pen mit ihrem strikt laizistischen Kurs trotz der Beschwörung von Chlodwig-Taufe und Jeanne d’Arc-Gotteserscheinung nicht herangekommen.

Macron punktet mit seinem ansteckenden Optimismus, seiner Weltoffenheit und ist ein krasser Gegenentwurf zur Ängste schürenden Abschottungsrhetorik der Rechtspopulisten. Der ehemalige Elite-Zögling, Investment-Banker, Finanzinspektor und Präsidentenberater Macron ist damit nicht nur der neue Star des bürgerlich gesinnten Wahlvolks, die mit Le Pens Globalisierungs- und Europa-Feindlichkeit wenig anfangen können. „Ich will nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa keine neuen Mauern hochziehen, ich will ein der Welt zugewandtes Frankreich, das die digitale und ökologische Revolution vorantreibt, von der ihr profitiert“, verkündet Macron. „Ich will aber auch, dass neben der Freiheit die Brüderlichkeit wieder auflebt.“ 3.500 Ortskomitees organisieren wöchentlich 400 bis 500 Versammlungen – auch ohne Parteiapparat. 40 Abgeordnete des PS haben zu seiner Wahl aufgerufen und vertiefen damit den Riss zu dem von der Basis bevorzugten Benoît Hamon. Zur Parlamentswahl bereitet sich“En Marche“ darauf vor, 577 KandidatInnen zu präsentieren, die zur Hälfte nicht aus der Politik kommen sollen.

Aber für welches Programm steht Macron? Mit Tweets wie „Unternehmer sind im Alltag Agenten der Hoffnung“ oder „Die Landwirtschaft, das sind die Männer und Frauen, die uns Tag für Tag ernähren“, verbreitet er eher emotionalen Nebel. In einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Les Echos weckt er Ende Februar weitreichende Erwartungen. Er verfolgt offenbar eine Vision von schlankem Staat, makroökonomischer Wachstumsstimulation und Schröder-inspirierter Flexibilisierung der Arbeitsmärkte.

Anders als die Kandidaten der Linken, aber auch Le Pen, bettet er seine Agenda in die europäische Realität. Europa habe sich in unpassender Weise in die Austeritätspolitik verrannt. „Wir erben einen Mangel an privaten und öffentlichen Investitionen.“ Man müsse in Europa eine ambitioniertere Investitionsfähigkeit bereitstellen, gesteuert von einem Wirtschafts- und Finanzministerium der Eurozone. Mal abgesehen davon, dass die Eurozone keine formelle Institution der EU ist, stellt sich die Frage, ob die anderen 15 EU-Länder davon ausgeschlossen werden. Macron sieht in seinem Vorschlag „die einzige Art, Verantwortung und Solidarität zu versöhnen“.

An Deutschland gerichtet heißt es: „Um Wachstum zu fördern, kann man nicht endlos Handelsüberschüsse akkumulieren.“ Er sieht Deutschland am Ende seines „Modells der Über-Konsolidierung des Haushalts“ angekommen. Aber er betont auch, man sei Partner und müsse innerhalb der ersten sechs Monate beweisen, dass man das Vertrauen auch verdiene, die Ziele des Fiskalpaktes einhalte (Neuverschuldungsrate 1,8% am Ende seiner Amtszeit).

Spezifisch französisch sei aber das Problem der Massenarbeitslosigkeit (was es definitiv, sieht man nach Spanien oder Griechenland, nicht ist). Zweites Problem sei, dass die Güter-und Dienstleistungsmärkte schlecht funktionieren und vor allem der öffentliche Sektor an fehlender Effizienz leide.

Im zweiten Teil seiner Programmatik verspricht Macron deshalb Kürzungen der öffentlichen Ausgaben auf ein europäisches Durchschnittsniveau, also um 3% des BIP und damit schrittweise auf 60 Mrd. Euro. Gleichzeitig sollen die öffentlichen Investitionen aber um 50 Mrd. Euro steigen. Das sei aufgrund der historisch niedrigen Zinsen kein Problem.

Einsparungen um 15 Mrd. Euro sollen im Gesundheitswesen ohne Stellenstreichungen durch Entbürokratisierung und Digitalisierung erzielt werden. Weitere 10 Mrd. Euro könnten durch strukturelle Reformen bei der Arbeitslosenversicherung herauskommen. Die Rente wird nicht angetastet, also auch nicht das Niveau oder das Eintrittsalter gesenkt. Aber die Systeme sollen vereinheitlicht werden.

Bei den staatlichen Gebietskörperschaften will Macron 10 Mrd. Euro einsparen. Die Gehälter im öffentlichen Dienst sollen künftig dezentral ausgehandelt und individualisiert werden und Neueinstellungen nach privatem Recht erlaubt sein. Ein Karenztag im Krankheitsfall soll ebenfalls zur Kostensenkung beitragen. 120.000 Stellen stehen durch natürliche Fluktuation zur Disposition. Dieser Stellenabbau läge weit unter den von Fillon angedrohten 500.000. Im Zentralstaat will Macron durch Verringerung der Zahl der Ministerien allein 50.000 Stellen streichen.

Die Forderung des französischen Unternehmerverbandes geht seit Jahren dahin, die öffentlichen Ausgaben auf 50% des BIP zu senken (2014: 57,5% und 2016: 55,3%), die im europäischen Durchschnitt 2014 bei 48,2% lagen. Macron gibt nicht an, wie diese Schrumpfung der staatlichen Ausgaben kompensiert werden kann.

Auf der Einnahmeseite sollen die Unternehmen um 20 Mrd. Euro entlastet werden (nach den bereits erfolgten 40 Mrd. Euro des Verantwortungspaktes, den er als Präsidentschaftsberater auf Basis des Gallois-Reports durchgesetzt hatte). Macron, der nicht zwischen Finanzunternehmen und Industrie unterscheidet, will die Körperschaftssteuer auf 25% (von 33,3%) senken, womit er sich bei Hollande nicht durchsetzen konnte.

Ab 2018 sollen die damit verbundenen, vorgezogenen Gutschriften auf die Steuerschuld in Kürzungen der Sozialbeiträge umgewandelt werden. Das koste nichts, weil die Staatsschuld dafür ja bereits existiere. Macron schlägt eine Erhöhung der „Contribution Sociale Généralisée« (CSG), einer allgemeinen Sozialsteuer, die auf alle Einkommensarten erhoben wird (auch Kapitaleinkommen), vor, um die Sozialabgaben für Kranken- und Arbeitslosenversicherung senken zu können. „Jeder Mindestlohnempfänger wird unter dem Strich am Ende monatlich 100 Euro mehr haben“, verspricht Macron . In einem Interview ist dann schon von 250 Euro die Rede. Aber das Steuerniveau solle nie höher als 30% sein (Deutschland: 29,72%, Italien: 31,4%, Luxemburg: 29,22% laut Liberation). Fillon hatte vorgeschlagen, die Unternehmer um 40 Mrd. Euro und die übrigen Steuerzahler um 10 Mrd. Euro zu entlasten, und wollte dies mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer überkompensieren. Die Tendenz in Europa ist seit zwanzig Jahren so, dass die Körperschaftsteuer gesenkt wird, von 33% im Jahr 1999 bis auf 25% heutzutage (Liberation 24.2.2017). Mehreinnahmen verspricht sich Macron von der Erhöhung der Kohlenstoffsteuer, die Hollande einführen ließ. Teilweise soll damit eine Konversionsprämie für Dieselfahrzeuge finanziert werden.

Als „Herzstück meines Projekts“ bezeichnet Macron seine Arbeitsmarktreform. Die 35-Stunden-Woche soll auf Basis von Betriebsvereinbarungen aufgeweicht werden können und befristete Arbeitsverträge sollen stärker besteuert werden (Leiharbeit wird in Frankreich bereits durch einen Aufschlag verteuert). Insgesamt will er die Gewerkschaften „entpolitisieren“: „Ich habe Vertrauen in die Gewerkschaften bei der Regelung der Arbeitsbeziehungen in der Branche und im Unternehmen. Aber sie sollten nicht als Vertreter des Allgemeinwohls auftreten.“ Tarifverhandlungen sollen also zergliedert werden.

Macron spricht sich gegen die zeitliche Degressivität der Arbeitslosenunterstützung aus, die Fillon vorgeschlagen hatte. Sie sei ungerecht in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit. Stattdessen werde es „Sicherheit für jeden verbunden mit echten Anforderungen“, also „Fördern & Fordern“ auf Französisch, geben: ein Recht auf berufliche Fortbildung gekoppelt mit der „drastisch kontrollierten“ Pflicht, das zweite Arbeitsplatzangebot annehmen zu müssen. „Wir verlassen wirklich das Versicherungssystem, wo jeder sich sagen konnte: ›Ich habe Beiträge gezahlt, also habe ich das Recht auf Unterhalt‹.“

Die von Macron geplanten Investitionen gliedern sich in 15 Mrd. Euro für Bildung und Kompetenzvermittlung, weil seiner Agenda-Konzeption die Kapazitäten fehlen (dazu scheint ein Kulturpass für Jugendliche zu gehören, der ein 500-Euro-Guthaben für Bücher, Filme oder Eintrittskarten aufweist), weitere 15 Mrd. Euro für die Energiewende mit einem teilweise Atomausstieg (auch das ein Konzept, dass bereits Hollande nach Verabschiedung des Junckers-Plan angestoßen hatte), je fünf Mrd. Euro sollen in die Modernisierung des Gesundheitswesen, die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, den ÖPNV und die Landwirtschaft investiert werden.

„Im Gegensatz zu Benoît Hamon akzeptiere ich keine Niederlage im Hinblick auf die Arbeit. Die Schlacht um die Arbeit ist gewinnbar“, fasst Macron sein „neues Gesellschaftsmodell“ zusammen. Er inszeniert sich als grundlegender Erneuerer. Grundlage ist ein sechsgliedriger „Vertrag mit der Nation“  und ein rund 150 Seiten umfassender Maßnahmenkatalog. Schon in seinem Buch „Révolution“ hatte sich der ehemalige Investmentbanker Macron als kühner Reformer verkauft, der die Wirtschaft deblockieren will. Sollte er die Wahl gewinnen, könnte Frankreich mehr Flexibilität und mehr Investitionen erwarten. An den Grundpfeilern des bisherigen Sozialmodells wird nicht gerüttelt werden. Daher halten ihm PolitikerInnen des Mitte-Rechts-Lagers wie der Linken entgegen, dass er nur einen „Hollandismus in neuen Schläuchen“ propagiere und gleichermaßen scheitern würde.

Macron ist zweifellos der beliebteste Kandidat des Mitte-Links-Lagers. Er ist populärer als Hollande, Valls oder sein linker Vorgänger als Wirtschaftsminister, Arnaud Montebourg. Der Aufstieg von Macron hat viel mit der programmatischen und personellen Selbstzerstörung des linken Lagers zu tun. Ein realistisches Reformprogramm zur Zurückdrängung der sozialen Spaltung und Entfaltung der produktiven Potenziale Frankreichs sähe anders aus.

Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus.

 

Dieser Beitrag erschien in der neuen April-Ausgabe der Zeitschrift „Sozialismus“. Die Zeitschrift ist ein monatlich erscheinendes Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken. Kostenlose Probehefte und (Probe-)Abonnements können auf www.sozialismus.de bestellt werden.

 

i Jean-Yves Camus, Der Front National zwischen Normalisierung und Isolation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66. Jahrgang, 48/2016, 28. November 2016, S. 25f.

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