Staatsterror gegen Revolutionärinnen? Zur Kurdendemo in Paris.

Am Samstag, den 6. Januar, fand in Paris wie jedes Jahr eine große kurdische Demonstration statt. Thema war der Mord an drei kurdischen Revolutionärinnen vor fünf Jahren. Die Demonstrierende verlangten Gerechtigkeit für die Tat und machten die türkische Regierung verantwortlich für die Morde an den drei Frauen. Es kamen laut der Pariser Polizei knapp 5.000 Menschen zum Protestmarsch.

In den Medien wurde der Protest allerdings kaum erwähnt, bei einer Google-Suche finden sich in großen Medien wie dem Spiegel fast nur Einträge aus den vorherigen Jahren. Die tatsächliche Teilnehmerzahl wird wohl ein Rätsel bleiben – wie auch einiges über die Morde an den drei Frauen. Denn der Täter starb an einem Hirntumor, bevor endgültig und unwiderlegbar geklärt werden konnte, ob der türkische Staat hinter den Morden steckt.

Die drei Mordopfer hatten eine große Bedeutung für die Bewegung an sich. Die in Paris getötete Sakine Cansiz zum Beispiel war Mitbegründerin der Kurdischen Arbeiterpartei und verbrachte deshalb auch einige Zeit in Haft. 1991 kam sie vorzeitig frei und ging ins Exil. Sie war sowohl in Deutschland als auch in Frankreich bekannt, zeitweise war sie in Hamburg aktiv. 1998 erhielt sie in Frankreich Asyl. Sie war nicht immer mit der PKK auf einer Linie. Das war sogar der hauptsächliche Grund für die Bleibeerlaubnis. Für sehr viele kurdische Frauen war sie ein großes Vorbild, das wurde auch in den Interviews, die ich in Paris führte, sehr deutlich.

Fidan Dogan hingegen war die offizielle Vertretung Frankreichs im Kurdischen Nationalkongress, einem Zusammenschluss verschiedenster kurdischer Gruppen. Außerdem arbeitete sie für das Kurdische Informationszentrum in Paris. Sie lebte den Großteil ihres Lebens in Frankreich, ihre Familie zog während ihrer Kindheit dort hin. Nach ihrem Tod kam heraus, dass sie beste Verbindungen zu bekannten europäischen Politikern wie Martin Schulz oder François Hollande hatte, sie stand außerdem dem seit Jahrzehnten inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan persönlich nahe. Ihr Tod ließ Spekulationen aufkommen, dass die Tat ein Sabotageakt gegen die vorher gestarteten Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der Türkei gewesen sei.

Leyla Şaylemez war noch sehr jung und galt als Junior-Aktivistin. Sie war anscheinend zufällig in dem Büro. Sie soll in der kurdischen Jugendorganisation aktiv gewesen sein. Über sie ist nicht viel bekannt. In der PKK spielen Frauen eine große Rolle, die Schlagkraft der Organisation basiert zu einem nicht geringen Teil auf den Frauenverbänden innerhalb der Organisation.

Der Marsch durch Paris

Die Demonstration begann offiziell gegen 11 Uhr morgens in der Pariser Innenstadt vor dem Gare du Nord, aber die meisten Teilnehmnde waren schon vorher anwesend. Bereits gegen 10.30 war ich von Flaggen mit dem Abbild von Abdullah Öcalan und Symbolen der Kurdischen Arbeiterpartei umgeben. Auf den großen Bannern der anwesenden Gruppen standen Parolen, die die türkische Regierung verurteilten und Gerechtigkeit für die Morde forderten. Denn obwohl die Ermittlungen eine Verwicklung des türkischen Geheimdienstes MIT nahelegten, gab es nie eine offizielle Verurteilung.

Der Nordbahnhof, direkt gegenüber fing die Kundgebung an.

Die Lautstärke war ohrenbetäubend, bereits um 11 Uhr konnte man an manchen Stellen in der Menschenmenge die eigene Stimme kaum hören. Vorher ging es durch die Sicherheitskontrollen, bei denen wir alle mindestens zweimal kontrolliert wurden, einmal von den Ordnern selbst und einmal von der Polizei. Obwohl die Demonstration die ganze Zeit über ruhig verlief, waren die anwesenden Polizeikräfte schwer bewaffnet, nicht wenige trugen Maschinengewehre. Der Ausnahmezustand in Frankreich ist zwar offiziell vorbei, aber einige Regelungen sind von der Regierung des Landes zum Gesetz gemacht worden. Auch die große Polizeipräsenz, zum Beispiel an Bahnhöfen gehört noch zum Alltag. Die einzige erwähnenswerte Sache waren Diebstähle von Fahnen und anderem Material durch Gegnerinnen und Gegner der Demonstration. Ansonsten kam es während der Demonstration zu keinen Zwischenfällen, die das Polizeiaufgebot tatsächlich nötig gemacht hätten.

Etwas verspätet setzte sich der Marsch in Bewegung, von einem Lautsprecherwagen aus wurden die Reden gehalten, viele davon auf Kurdisch. Der Marsch war sehr lang und führte quer durch Paris. Es waren Tausende von Menschen aller Altersgruppen, es waren auch nicht wenige Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten anwesend. Große Banner mit Abbildern von Öcalan und den drei getöteten Frauen waren überall zu sehen. Die meisten vor Ort waren kurdischstämmig und aus Deutschland oder Frankreich angereist, doch auch andere linke Organisationen und solche ohne kurdischen Hintergrund waren vertreten. So zum Beispiel die französische Linkspartei Parti de Gauche oder verschiedene Basisgruppen der Linksjugend waren da, doch ich traf dort auch Menschen aus der Schweiz, den Niederlanden oder Rojava. Auch feministische Organisationen waren vor Ort. Denn der Protest hatte für viele der Anwesenden auch einen feministischen Aspekt, die drei ermordeten Frauen spielten für den Feminismus der PKK eine große Rolle.

Die ganze Straße war blockiert, auf die andere Seite zu kommen dauerte Minuten.

In den Reden auf der Demonstration ging es auch sehr stark um die Regierung von Erdogan in der Türkei. Einer der zentralen Gründe für den Auflauf, neben dem dreifachen Mord, war die Kriminalisierung von kurdischen Organisationen in der Türkei. Vor Ort waren viele internationale Medien, die ebenfalls filmten, Interviews führten und Informationen sammelten. Auf Yahoo wurde ein Artikel veröffentlicht, Ruptly TV sendete beispielsweise einen Live-Stream per YouTube. Russia Today und Sputnik News berichteten ebenfalls. Die großen Medienhäuser aus Deutschland ließen sich wiederum nicht blicken. Obwohl zum Beispiel der Spiegel Korrespondenten in aller Welt hat, war niemand anwesend.

„Wir sind hier für Gerechtigkeit“

Während der Demonstration hatte ich die Gelegenheit, mit einigen der Anwesenden zu sprechen. Alle Befragten hatten eine große Abneigung gegen Erdogans Regierung, für alle befragten Frauen war der feministische Aspekt an der Sache besonders wichtig. Niemand, mit dem ich sprach, zweifelte an der Verwicklung der türkischen Regierung an den Morden. Allerdings kamen sie aus ganz unterschiedlichen Ländern und manchmal war die Kommunikation sehr schwierig.

Der erste Demonstrant, der sich befragen ließ, war ein Flüchtling aus Rojava, einem de facto autonomen Gebiet in Syrien. Für ihn ginge es bei der Demonstration um die Forderung nach Gerechtigkeit und der Schaffung eines Großkurdistan. Er sei von Syrien deshalb nach Deutschland gekommen und halte den türkischen Staat für verantwortlich. Er forderte alle Kurdinnen und Kurden auf zu kommen und sagte außerdem, er sei in keiner Organisation. Auf die Frage, ob der Konflikt für ihn auch persönlich ist, antwortete er, er habe türkische Freunde und versuche, politische von privaten Angelegenheiten zu trennen. Ich fragte ihn danach, ob er den Erfolg seines Anliegens für realistisch halte. Sicher könnte man sich da nicht sein, antwortete er und fügte noch hinzu, dass er jedoch darauf hofft.

Dutzende kurdische Organisationen waren Ort, der Demonstrationszug bestand aus den verschiedensten Blöcken.

Für meinen nächsten Interviewpartner sei Sakine Cansiz ein großes Vorbild gewesen, sagte er. Auch er meinte, dass er keiner Organisation angehören würde und auch für ihn war der Konflikt rein politisch, er sprach davon, Freunde aus der Türkei zu haben. Er äußerte allerdings wenig Hoffnung auf eine Änderung der Lage.

Einer der Demonstranten, es war das letzte Interview, unterhielt sich besonders lang mit mir. Sein Vorname war Ali, er war ebenfalls aus Deutschland. Ich fragte ihn nach seinen Beweggründen. Das Pflichtgefühl sei seine Motivation, hier zu sein. Er machte ganz klar die türkische Regierung verantwortlich und bemängelte die Handlungen der französischen Justiz. Fünf Jahre seien seit den Morden vergangen und trotzdem würde es in einer belebten und durch Geheimdienste und Polizei sehr sicheren und stark überwachten Metropole wie Paris nicht möglich sein, die Hintermänner ausfindig zu machen. Ich fragte ihn danach, welchen Wert die drei Opfer für ihn und die Bewegung hätten. Nach kurzem Nachdenken fing Ali damit an, über Sakine Cansiz zu reden. Wie Rosa Luxemburg sei sie für viele Kurden gewesen, er rechne ihr den Widerstand gegen das türkische Militär und das Feudalsystem in Kurdistan an. Fidan Dogan sei eine wichtige Diplomatin gewesen und das Sprachrohr der Kurden in Frankreich. Er war ebenfalls von der Verwicklung des türkischen Staates in den Mordfall überzeugt. Als er das sagte, fragte ich ihn ob das für ihn einfach die logischste Annahme sei, oder ob es dafür einen konkreten Beweis geben würde. Ali dachte einen Moment nach und sprach dann davon, dass die PKK Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT gefangengenommen und Informationen beschafft habe, die das belegen würden. Zur PKK äußerte er sich ebenfalls.

Ich wollte von ihm wissen, wie er die PKK einschätzte. Die PKK ist als Terrororganisation eingestuft und hat bekanntlich gleichermaßen Todfeinde und Unterstützer. Er erwiderte, dass er sich strikt gegen die Einstufung der PKK als Terrororganisation positioniere. Besonders der Kampf gegen den IS und die Rettung tausender Christen, Jesiden, Aleviten, Turkmenen und Kurden rechne er der Organisation hoch an. Ihn störe, dass große Teile der Welt nur zugucken, während die PKK auf dem Boden kämpft und fände es schlimmer, wenn die PKK sich nicht einmischen und somit Tausende Menschen den Schlächtern vom IS überlassen würde. Außerdem habe Öcalan dem türkischen Staat zu gewissen Bedingungen immer wieder Frieden angeboten. An der Stelle wollte ich von ihm wissen, ob der Zweck für ihn die Mittel heilige, also ob Gewalt seiner Meinung nach für eine gute Sache legitim sei. Gewalt sei seiner Meinung nach grundsätzlich falsch, allerdings herrsche in dieser Situation der Zwang der Verhältnisse, die Massaker im Irak und in Syrien wären ohne die PKK weitaus schlimmer und die PKK sei eine Widerstandsorganisation, auch wenn er für manche Dinge kein Verständnis habe. Am Ende wollte ich von ihm wissen, ob die Lage in der Türkei bei ihm für persönliche Abneigungen gesorgt hat. Seine Familie sei wegen der Verfolgung von Kurden nach Deutschland gekommen und er habe mehr als 20 Verwandte durch den Konflikt verloren, sagte Ali. Trotzdem könne er deshalb niemals auf alle Türken rückschließen. Gegen Türken habe er nichts, viele seiner Freunde seien Türken. Gleichzeitig äußerte er scharfe Kritik an der Politik Erdogans und dem Verhalten seiner Anhängern. Respekt voreinander sei ihm besonders wichtig, auch wenn man politisch weit auseinanderliegt.

Die Kommunistische Partei der Türkei war ebenfalls in Paris.

Insgesamt muss ich leider sagen, es war sehr schwer, Interviewpartneren zu finden. Manche Interviews mussten wegen Verständigungsproblemen leider wieder abgebrochen werden. Trotzdem hatte sich der Aufwand gelohnt, einige sehr interessante Geschichten waren dabei. Während den Interviews habe ich erstmals erfahren, dass viele der kurdischen Demonstranten die getöteten Frauen persönlich kannten.

Wer war Ömer Güney?

Der Mörder der drei Frauen hat seine Verurteilung nicht mehr erlebt. Noch vor Prozessbeginn starb der Angeklagte Ende 2016 an einem Hirntumor. Zuvor wurde der 30-jährige von dem französischen Staatsanwalt François Molins als Hauptverdächtiger vorgestellt. Aufzeichnungen einer Überwachungskamera hatten laut dem Staatsanwalt enthüllt, dass Güney sich zur Tatzeit in den Räumen des kurdischen Vereins aufhielt, in dem die drei Morde begangen wurden. Spuren von Schießpulver wurden in seiner Tasche gefunden, später gestand er die Tat. Güney kannte die Frauen, er hätte die lange vorbereitete Tat sonst niemals begehen können. Der Verein „Informationszentrum Kurdistan“ in der Pariser Straße Rue Lafayette hat kein Hinweisschild und auch keinen Banner. Der Zugang zu den Räumen erfordert noch dazu einen Sicherheitscode. Laut Molins bezeichnete sich Güney während der Vernehmung als PKK-Mitglied. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur Firat News nahm Güney Ende 2010 erstmalig Kontakt zur kurdischen Gemeinschaft auf. Er füllte einen Mitgliedsantrag des Vereins aus und hielt sich seitdem häufig im Verein auf. Güney hatte in Paris einen Mitbewohner namens Y.A., laut diesem habe er durch seine guten Französischkenntnisse Vertrauen in der kurdischen Gemeinschaft erworben. Er soll behauptet haben, seine Eltern seien Kurden.

Als türkische Medien die Familie von Ömer Güney besuchten, sagte diese allerdings etwas völlig anderes. Sie behauptete von sich, dass sie „reine Türken“ seien und immer die sogenannten Grauen Wölfe (türkische Rechtsradikale) gewählt hätten. Er kam aus einer sehr rechten Familie und hat sich sehr lange in diesen Kreisen bewegt. Güney war ganz klar türkischer Nationalist, kein Kurde. Dann ganz plötzlich wurde er zum Kurden und fing an, sich in dem Vereinshaus zuhause zu fühlen, in dem er später mehrfach mordete. Für eine Verurteilung und eine abschließende und unwiderlegbare Klärung des Falls und der Rolle des türkischen Geheimdienstes wäre allerdings genug Zeit gewesen. Doch die Ermittlungen dauerten mehr als zwei Jahre. Im Juli 2015 wurde das Ergebnis dem Gericht mitgeteilt. Und trotzdem zog sich die Angelegenheit immer weiter hin.

Bilder der drei Opfer, daneben der Spruch „5 Jahre Stille! 5 Jahre Verweigerung von Gerechtigkeit! 5 Jahre Straffreiheit!“

Diese Tatsache löste in der kurdischen Gemeinschaft sehr große Wut aus, auf den Bannern der Demonstration standen beispielsweise Sprüche wie „5 Jahre Stille, 5 Jahre Verweigerung von Gerechtigkeit, 5 Jahre Straflosigkeit“ und in den Sprechchören wurde Erdogan als Mörder bezeichnet. Einige der Hinterbliebenen der Opfer verfassten zusammen einen offenen Brief. In dem Brief wird die Perspektive der Angehörigen geschildert und es werden einige bohrende Fragen gestellt. Zum Beispiel, warum das Verfahren gegen Ömer Güney nicht eröffnet wurde, obwohl schon länger bekannt war, dass es um dessen Gesundheit schlecht steht und er regelmäßig von Ärzten untersucht wurde. Oder weshalb die Untersuchungen gegen Ömer Güney sechs Monate weiter hinausgezögert wurden, obwohl nach den ersten zwei Jahren der Untersuchung keine weiteren wichtigen Erkenntnisse zu der Untersuchungsakte hinzugefügt wurden, außer ein paar offiziellen Dokumenten. Auch wurde die Frage aufgeworfen, warum die letzte Verschiebung des Prozessbeginns auf den 23. Januar stattfand. Das wichtigste in dem Schreiben ist aber die Frage, warum nur eine Person festgenommen wurde. In den Untersuchungsakten und auch in der Anklageschrift wird von einer organisierten Tat mit Hintermännern, konkret dem türkischen Geheimdienst MIT berichtet. Das Verfahren beschränkte sich aber auf eine einzige Person. Laut dem Schreiben ist auch die französische Justiz davon überzeugt gewesen, dass der türkische Geheimdienst seine Finger mit im Spiel hatte. Gleichzeitig stellt sich aber weiterhin die Frage nach den Gründen für die Verschiebungen des Prozesses. Es war bekannt, dass Güney sehr schwer krank war.

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