Die Diskussion über den Eintritt von Sozialisten in eine bürgerliche Regierung kam in der internationalen sozialistischen Bewegung zum ersten Mal in den Jahren 1899 bis 1902 auf. Eine Analyse von Chris Harman.
Die französische Gesellschaft war im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch die berühmt-berüchtigte Affäre Dreyfus und die Hetzkampagne der weit rechts stehenden Antisemiten und Monarchisten schwer erschüttert worden. Dreyfus war ein jüdischer Offizier, der aufgrund einer fabrizierten Anklage wegen Hochverrats ins Gefängnis geworfen wurde. Eine Gruppe von Sozialisten um den soeben vom bürgerlichen Radikalismus konvertierten Jean Jaurès spielte eine entscheidende Rolle bei dem Kampf gegen die Hetzereien und dem Aufbau einer Bewegung für die Freilassung von Dreyfus. Im Juni 1899 versuchte der konservative Rechtsanwalt und Politiker Pierre Waldeck-Rousseau einen Schlussstrich unter die Episode zu ziehen und Frankreichs Institutionen wieder zu stabilisieren, indem er Alexandre-Étienne Millerand, einen sozialistischen Verbündeten von Jaurès, aufforderte, als Handelsminister in die Regierung einzutreten. Der Regierung gehörte auch General Gaston de Galliffet an, unter dessen Kommando das Gemetzel an den Arbeitern der Pariser Kommune im Jahr 1871 verrichtet und der die fortgesetzte Haft für Dreyfus befürwortet hatte.
Jaurès nannte zwei Gründe zur Rechtfertigung des Regierungseintritts: Erstens sei dies zur „Verteidigung der Republik“ gegen die monarchistische Rechte notwendig. Zweitens handele es sich um ein „Übergangsstadium in der Entwicklung einer kapitalistischen Gesellschaft, ein Stadium, in dem die politische Herrschaft von Proletariat und Bourgeoisie gemeinsam ausgeübt werde, was äußerlich in der Teilnahme von Sozialisten an der Regierung zum Ausdruck komme“. [1]
Solche Argumente fanden bei der Mehrheit der sozialistischen Bewegung Frankreichs großen Anklang. Obwohl die Führer des marxistischen Flügels, Jules Guesde und Laura und Paul Lafargue, Karl Marx’ Tochter und sein Schwiegersohn, sich gegen den Eintritt in die Regierung aussprachen, gab es „bei ihrer eigenen Basis“ breite Ablehnung dieser Position. [2] Als die Zweite Internationale im September 1900 in Paris ihre Konferenz abhielt, begrüßte auch sie die „ministeriale“ Position. Ihr Haupttheoretiker Karl Kautsky weigerte sich, „den Ministerialismus aufgrund von Prinzipien“ zu kritisieren (trotz seiner Polemiken gegen Bernsteins Revisionismus in Deutschland), und Delegierte lehnten eine Resolution ab, mit der Regierungsbeteiligungen untersagt werden sollten. [3]
Rosa Luxemburg dagegen zweifelte keine Sekunde, dass Jaurès einen entscheidenden Fehler beging, als er dem Regierungseintritt zustimmte. In der sozialistischen Leipziger Volkszeitung nahm sie in einer Artikelreihe seine Argumente auseinander und wies auf die außerordentliche Gefahr des von ihm eingeschlagenen Kurses hin.
Ein Teil ihrer Kritik lautete, er habe die Natur der rechten Kampagne der 1890er Jahre falsch analysiert. Deren Ziel habe darin bestanden, den Einfluss der Rechten auf die französische Politik zu vergrößern und die Macht des Militarismus zu stärken. Ein erfolgreicher monarchistischer Staatsstreich habe jedoch nicht angestanden, betonte sie, da die wesentlichen Flügel der französischen Bourgeoisie längst zum Träger der Republik geworden seien.
Sie vertrat aber noch ein grundsätzlicheres Argument, nämlich dass der Eintritt in die Regierung weder die Natur der französischen Gesellschaft noch des Staats verändern würde:
Vom Standpunkte der opportunistischen Auffassung des Sozialismus, wie sie in der letzten Zeit in unserer Partei namentlich in den Theorien Bernsteins laut wurde, das heißt vom Standpunkte der stückweisen Einführung des Sozialismus in die bürgerliche Gesellschaft, muss auch der Eintritt der sozialistischen Elemente in die Regierung ebenso erwünscht wie natürlich erscheinen. Kann man einmal den Sozialismus überhaupt allmählich, in kleinen Dosen in die kapitalistische Gesellschaft einschmuggeln, und verwandelt sich andererseits der kapitalistische Staat von selbst allmählich in einen sozialistischen, dann ist eine fortschreitende Aufnahme von Sozialisten in die bürgerliche Regierung sogar ein natürliches Ergebnis der fortschreitenden Entwicklung der bürgerlichen Staaten […] [4]
[…] die [der bürgerlichen Regierung] eigene Natur schließ die Möglichkeit des sozialistischen Klassenkampfes innerhalb derselben aus. Es sind nicht die Gefahren und die Schwierigkeiten der ministeriellen Tätigkeit, die wir für die Sozialisten fürchten. Wir werden vor keiner Gefahr und vor keiner Schwierigkeit zurückweichen, die an eine Position gebunden ist, auf die uns das Interesse des Proletariats stellt. Aber das Ministerium ist generell kein Kampffeld für eine Partei des proletarischen Klassenkampfes. Das Wesen einer bürgerlichen Regierung wird nicht vom persönlichen Charakter ihrer Mitglieder bestimmt, sondern von ihrer grundsätzlichen Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Regierung des modernen Staates ist ihrem Wesen nach ein Instrument der Klassenherrschaft, deren planmäßiges Funktionieren eine der Existenzbedingungen des Klassenstaates darstellt. Mit dem Eintritt eines Sozialisten in die Regierung besteht die Klassenherrschaft weiter, die bürgerliche Regierung wird nicht zu einer sozialistischen, jedoch ein Sozialist verwandelt sich in einen bürgerlichen Minister. Die Sozialreformen, die ein Minister als Freund der Arbeiter verwirklichen kann, haben nichts Sozialistisches an sich, sie sind nur insoweit sozialistisch, als sie durch den Klassenkampf erzielt worden sind. Die Sozialreformen, die von einem Minister kommen, können keinen proletarischen, sondern nur bürgerlichen Klassencharakter haben, denn der Minister verbindet sie durch den Posten, den er einnimmt, mit seiner Verantwortung für all die anderen Funktionen der bürgerlichen Regierung wie Militarismus usw. Während wir im Parlament, im Munizipalrat nützliche Reformen erreichen, indem wir die bürgerliche Regierung bekämpfen, können wir dieselben Reformen durch die Wahrnehmung eines Ministeramtes nur erhalten, indem wir den bürgerlichen Staat unterstützen. Der Eintritt von Sozialisten in eine bürgerliche Regierung bedeutet daher nicht, wie man glaubt, eine teilweise Eroberung des bürgerlichen Staates durch die Sozialisten, sondern eine teilweise Eroberung der sozialistischen Partei durch den bürgerlichen Staat. [5]
Deshalb betonte sie:
In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten. [6]
Hätte ernsthaft ein Putsch gegen die Republik gedroht, argumentierte sie, dann hätte das Verhalten der Regierung Waldeck-Rousseau das nicht verhindern können. Sie arbeitete im Rahmen der Institutionen der Republik und war deshalb nicht bereit, das Recht der Heeresführung auf Handeln unabhängig von demokratischer Kontrolle infrage zu stellen. Jaurès’ Sozialisten machten sogar Zugeständnisse, um die Regierung zusammenzuhalten, statt sie anzugreifen.
Und damit das radikale Ministerium Waldeck-Rousseau […] nach einer Reihe von Scheinmanövern im Laufe von neunzehn Monaten nichts, aber auch gar nichts unternimmt, […] damit es […] schließlich nach langem Drum und Dran erklärt, die Republik sei nicht imstande, mit der militärischen Gaunerbande fertig zu werden […], dazu war die Mitarbeit eines Sozialisten im Ministerium erforderlich?! [7]
War [..] diese Gefahr [des monarchistischen Staatsstreichs] groß und ernst, dann ist die Scheinaktion des Kabinetts ein Verrat an der Republik und an den ihm vertrauenden Parteien. [8]
Wie sich zeigen sollte, schreckte die Regierung auch vor dem einen großen Thema zurück, dem die breite Unterstützung für die Beteiligung eines Sozialisten an der Regierung geschuldet war: der Affäre Dreyfus. Bei der Regierungsbildung stand Dreyfus’ Unschuld bereits fest, ebenso war bekannt, dass führende Armeeoffiziere gelogen hatten, um ihn weiter festzuhalten und seine Fürsprecher zu verfolgen. Die Begründung für Millerands Regierungseintritt lautete, die verantwortlichen Militärs, die sich gegen Dreyfus verschworen hatten, müssten ihrer gerechten Strafe zugeführt und Dreyfus müsse rehabilitiert werden. Stattdessen begnadigte die Regierung Dreyfus nur (womit sie unterstellte, dass er doch schuldig sei) und ließ die Armeeverschwörer unbehelligt davonkommen. Mit anderen Worten war Jaurès’ Sozialist in der Regierung bereit, die Forderung nach uneingeschränkter Gerechtigkeit für Dreyfus fallen zu lassen, um in der Regierung zu bleiben. Es dauerte vier weitere Jahre, bis neue Enthüllungen eine andere Regierung zwang, endlich die Wahrheit über die ganze Dreyfus-Angelegenheit zu sagen.
Rosa Luxemburgs Ablehnung einer Beteiligung von Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung hieß nicht, dass sie bis zur Revolution die Hände in den Schoß legen wollte. Sie glaubte, dass Revolutionäre eine wichtige Rolle im Kampf für Reformen zu spielen hatten – auch bei dem Kampf um das Benutzen parlamentarischer Einrichtungen. Wie die Lafargues glaubte sie, es sei ein Fehler der französischen sozialistischen Gruppe um Jules Guesde gewesen, sich nicht in die Kampagne gegen das an Dreyfus begangene Unrecht einzuklinken. Sie hätte mit Lafargue übereingestimmt, als dieser über „das absurde und unfasslich Verhalten“ von Guesde und seinen Mitstreitern klagte, das verantwortlich für die große Popularität der Position von Jaurès und Millerand war. [9]
Sie schrieb:
Die Dreyfus-Affäre hatte alle latenten Kräfte der Reaktion in Frankreich wachgerufen. Der alte Feind der Arbeiterklasse, der Militarismus, stand enthüllt da, und es galt, alle Speere gegen seine Brust zu richten. Die Arbeiterklasse war zum ersten Male berufen, einen großen politischen Kampf auszufechten. [10]
Jaurès hatte völlig zu Recht diesen Kampf Mitte der 1890er Jahre aufgenommen, fiel ihm aber nach Ansicht Luxemburgs durch den sozialistischen Regierungseintritt 1899 in den Rücken. [11] Der Zusammenbruch der Regierung Waldeck-Rousseau kurz darauf bewies, wie recht sie hatte – ebenso die Tatsache, dass Millerand und sein engster Verbündeter Briand sich vom Sozialismus verabschiedeten.
Jaurès vollzog einen Linksschwenk und wurde schließlich von einem rechten Nationalisten am Vorabend zum Ersten Weltkrieg ermordet.
Die Auseinandersetzungen über Regierungsbeteiligungen setzten sich nach dem Ersten Weltkrieg fort. Rosa Luxemburg hatte 1899 die Möglichkeit eines Regierungsbeitritts von Sozialisten in besonderen Fällen offengelassen, um die Massen gegen die Konterrevolution zu mobilisieren, wenn die Arbeiterklasse zu schwach war, selbst die Macht zu ergreifen. Aber sie hatte betont, dies dürfe nur eine vorübergehende Maßnahme sein [12] und die Handlungen der Sozialisten dürften nicht auf „die Solidarität mit ihrer Tätigkeit und ihrem Bestand“ hinauslaufen. [13] Als sich diese Frage während der Deutschen Revolution vom November 1918 konkret stellte, äußerte sie beißende Kritik an der linken Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei und deren Regierungseintritt. Sie erkannte, dass dies benutzt werden würde, um die Arbeiter in Sicherheit zu wiegen, während die Konterrevolution sich darauf vorbereitete, die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft wieder herzustellen.
Anmerkungen
1. Diese Zusammenfassung von Jaurès’ Position findet sich in Paul Frölich, Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Berlin 1990, S. 93.
2. Leslie Derfler, Paul Lafargue and the Flowering of French Socialism, Massachusetts 1988, S. 217.
3. Derfler, S. 233.
4. Rosa Luxemburg, Eine taktische Frage, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (GW) 1.1, Berlin 1987, S. 483.
5. Aus einer Antwort Luxemburgs auf eine internationale Umfrage des Chefredakteurs von La Petite République bei bekannten Vertretern der europäischen sozialistischen Parteien; veröffentlicht unter dem Titel Affaire Dreyfus et Cas Millerand. Réponse à une „consultation internationale“, in: Cahier de la Quinzaine, Nr. 11, 1899. Nachgedruckt in: Daniel Guerin (Hg.), Rosa Luxemburg: Le socialisme en France (1898–1912), Paris 1981. S. 84 f. Vgl. auch: Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 1, Berlin 1982, S. 359 und 380. Dank an Annelies Laschitza, Verfasserin der Luxemburg-Biografie Im Lebensrausch, trotz alledem, die mir die Details übermittelt hat; d. Übers.
6. Luxemburg, Eine taktische Frage, GW 1.1, S. 486.
7. Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, GW 1.2, Berlin 2000, S. 25.
8. Ebenda, S. 26.
9. Lafargues Kritik an Guesde siehe in: Derfler, S. 222.
10. Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, GW 1.2, S. 28.
11. Ebenda, S. 26–31.
12. In dieser Frage war Luxemburgs Position der von Lenin 1905 in Russland ähnlich – siehe den Artikel von Mark Thomas in dieser Ausgabe von International Socialism, S. 63–97.
13. Luxemburg, Eine taktische Frage, GW 1.1, S. 486.