Auch berühmte Künstler wie Banksy haben sich der Spaltung in der EU gewidmet. Foto: Duncan Hall, licensed under CC BY 2.0, Banksy does Brexit, via flickr.com

Konservative Weichenstellungen für den Brexit

Ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit und der Partnerschaft des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Europäischen Union beschwor die britische Premierministerin Theresa May jüngst in einer Rede – nicht im britischen Parlament unweit des Finanzzentrums City of London, sondern in Florenz, der einst mächtigen Handels- und Finanzmetropole des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die modernen Finanzmärkte reagierten prompt. Die britische Währung wertete ein weiteres Mal ab, und die US-Ratingagentur Moody’s korrigierte ihre Einschätzung der Kreditwürdigkeit Großbritanniens nach unten.

(Der Artikel erscheint gedruckt in der Oktober-Ausgabe von »Sozialismus«, einer monatlich erscheinenden Zeitschrift der gewerkschaftlichen und politischen Linken. (Probe-)Abos können auf www.sozialismus.de abgeschlossen werden.)

Die Begründung für die Senkung des Ratings von »Aa1« auf »Aa2« lautete: Die Aussicht für die Staatsfinanzen hätten sich erheblich verschlechtert. Ein Anstieg der Staatsverschuldung sei zu erwarten und der Erfolg der auf Austeritätspolitik basierenden Konsolidierungsbemühungen sei fraglich. Die ökonomischen, sozialen und fiskalischen Probleme würden durch eine wahrscheinliche wirtschaftliche Abschwächung auf mittlere Sicht infolge des Austritts aus der Europäischen Union verschärft.
Seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 ist die mittel- und langfristige ökonomische Perspektive des Vereinigten Königreichs trotz aktueller positiver Kennziffern von einer anhaltenden Unsicherheit gekennzeichnet. Alle Sektoren – Landwirtschaft, verarbeitende Industrie, Hoch- und Tiefbau, Handel und Finanzwirtschaft – sehen sich weitgehenden Änderungen ihrer Produktions- und Absatzbedingungen gegenüber. Die öffentliche Infrastruktur in Verkehr, Bildung und Gesundheit ist durch die jahrelange harte Austeritätspolitik ausgedünnt und inflexibel geworden.
Bei dem für das Verlassen der EU fixierten Datum 29. März 2019 und eines nicht absehbaren Datums für den Abschluss des Austrittsvertrags wird der Zeitraum für entsprechende Investitionsentscheidungen und Anpassungen knapp. Vor allem Unternehmen der Finanzwirtschaft haben bereits mit Teilverlagerungen ihrer Firmensitze begonnen, um nach Inkrafttreten des Austrittsvertrags über die juristischen und logistischen Voraussetzungen zu verfügen, um uneingeschränkt weiter im Rahmen der Euro-Währungsunion agieren zu können. Zugleich wird aus den Ministerien bekannt, dass die Anpassung bzw. Neuaufsetzung der EDV-Programme vor allem für die Abwicklung der steuerlichen und zollmäßigen Erfassung der Außenhandelsbeziehungen nicht bis Anfang 2019 abgeschlossen werden kann, und dass die anschließende Implementierung der neuen Prozesse in den Außenhandels- und Logistikunternehmen etliche Monate dauern wird.
Trotz aller verblümten Rhetorik enthielt Mays Positionsbestimmung daher erstmals eine regierungsoffizielle Annäherung an die realen Ausgangsbedingungen für den EU-Austritt. Statt wie noch Anfang des Jahres die Perspektive eines harten Brexits ohne Austrittsvertrag ins Kalkül zu ziehen, muss jetzt eingestanden werden, dass sich eine Anpassung der Regulierungen für außenwirtschaftliche Beziehungen nicht innerhalb weniger Monate bewerkstelligen lässt.

Dennoch: Die Grundposition bleibt unverändert. »Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union. Wir werden dem Binnenmarkt nicht mehr angehören und auch nicht der Zollunion.« Denn die »vier Freiheiten des Binnenmarkts« seien untrennbar für die EU27. Damit verweist May – von den Medien schon nicht mehr kommentiert – auf ihren Hauptgrund zur strikten Umsetzung des Brexits: die Kontrolle der Grenzen und die Kontrolle der Freizügigkeit aller EU-BürgerInnen im britischen Hoheitsgebiet. Die mit fremdenfeindlichen Ressentiments verbundene Ablehnung der Personenfreizügigkeit war das erfolgreiche Kernargument der rechtspopulistischen Bewegung für den EU-Austritt, das vom nationalkonservativen Flügel der Tories offensiv unterstützt worden war.
Austrittsdatum und Zeitrahmen der Austrittsverhandlungen bleiben unberührt. Der Ort und der konziliante Ton der Rede sowie der Verweis auf die Fortsetzung europäischer Sicherheits-Zusammenarbeit wurden als Versuch einer Lösung der Konfrontation in den bisherigen Verhandlungsrunden gewertet. Der Sache nach tragen Mays drei konkrete Vorschläge weder zur Beschleunigung noch zu einem für beide Seiten erfolgreichen Abschluss bei. Im Gegenteil, sie sind kontraproduktiv.
Erstens schlägt May eine strikt befristete Übergangsphase von etwa zwei Jahren ab dem Austrittstermin vor. Neu ist nicht der Vorschlag, sondern der Zeitrahmen. Entscheidend ist, dass May wie zuvor von einer »Implementierungsphase« spricht und damit vordergründig auf die rein technischen Aspekte des Übergangs abstellt, weil etwa die Installation des neuen Immigrationssystems Zeit benötige, damit EU-BürgerInnen während der Implementierungsphase wie bisher ein- und ausreisen, aber auch registriert und nach deren Ablauf entsprechend den neuen Restriktionen kontrolliert werden können. Dasselbe solle für die Marktanpassungen gelten, also das Fortdauern der Regeln des Binnenmarkts und der Zollunion bis zum effektiven Einsatz des neuen Regulationssystems für den Handel von Waren und Dienstleistungen.

Das Vereinigte Königreich wird also ab März 2019 nicht mehr an den politischen Entscheidungsprozessen der Europäischen Union beteiligt sein, kann dafür aber – so May – bei zunächst unveränderten Rahmenbedingungen des Binnenmarkts und der Zollunion Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Staaten aushandeln und abschließen und als dann vollsouveräner Staat mit der Europäischen Union den neuen Vertrag für eine herausgehobene Partnerschaft schließen.
»Wir werden nicht mehr am Tisch des Europäischen Rates oder im Ministerrat sitzen, und wir werden keine Mitglieder des Europäischen Parlaments mehr haben. Unsere Beziehungen zu Ländern außerhalb der EU können auf neue Weise ausgebaut werden, auch durch unsere eigenen Handelsverhandlungen, denn wir werden kein EU-Land mehr sein, und wir werden nicht mehr direkt von den künftigen Handelsverhandlungen der EU profitieren. Tatsache ist jedoch, dass weder das Vereinigte Königreich noch die EU und ihre Mitgliedstaaten in der Lage sein werden, viele der Detailregelungen, die diese neue Beziehung, die wir anstreben, reibungslos umzusetzen. Die Europäische Union ist auch rechtlich nicht in der Lage, ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich als externem Partner zu schließen, solange es selbst noch Teil der Europäischen Union ist.«
Die Sukzession von Abschluss des Austrittsvertrags und anschließender Neuverhandlung der außenwirtschaftlichen Beziehungen, die der Europäische Rat dem Verhandlungsführer Barnier aufgetragen hat, ist nicht zielführend. Aber diese Trennung mit einer Koppelung von faktisch unverändertem Zugang zum Binnenmarkt bei gleichzeitiger Beanspruchung der uneingeschränkt souveränen Verhandlungsfreiheit mit Drittstaaten aushebeln zu wollen, wird politisch kaum umsetzbar sein.
Zweitens sagte May zu, die Zahlungen in den EU-Haushalt über den Austrittstermin hinaus bis 2021 aufrecht zu erhalten. Das stärkt zwar die Planungssicherheit für den EU-Haushalt gegenüber einer etwaigen Aussetzung der britischen Beitragszahlungen. Doch im Rahmen des nach EU-Primärrecht rechtsverbindlichen mehrjährigen Finanzrahmens für die Periode 2014-2020 ist die britische Zahlungsverpflichtung zumindest bis 2020 festgeschrieben. Der Beitragszahlung in Höhe von 10 Mrd. Euro für 2020 steht die Forderung der EU zur Ablösung der Vertragsverpflichtungen in Höhe von 60 bis 100 Mrd. Euro gegenüber.

Drittens stellte die britische Premierministerin in Aussicht, dass in Fragen der gegenseitigen Anerkennung der Rechte von Staatsangehörigen des UK und der EU-Staaten die britischen Gerichte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs berücksichtigen könnten. Der Europäische Gerichtshof könne jedoch auf keinen Fall als Schiedsgericht fungieren bei der Implementierung eines neuen Handelsvertrags zwischen dem UK und der EU. Insofern findet das strikte Festhalten am Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion seine Entsprechung in der erneuten Bekräftigung, dass die staatliche Souveränität des Vereinigten Königreichs jegliche Anerkennung der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs ausschließt.
Mays Positionsbestimmung für die weiteren Austrittsverhandlungen ist ein Appell an eine europäische Partnerschaft auf der Ebene des Militärs, der Polizei und des Außenhandels in eigenstaatlicher Verantwortung. Die historische Richtungsentscheidung für Europa, die mit dem Brexit-Votum auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, benennt sie klar: Hier das »souveräne Vereinigte Königreich«, dort die »zuversichtliche Europäische Union«. Dem historischen Fortschritt des endlich erreichten teilweisen Souveränitätsverzichts europäischer Staaten stellt sie zentral den nationalkonservativen Wert der souveränen Nation und den rechtspopulistischen Rekurs auf das Volk entgegen. Denn die künftige Zusammenarbeit mit der EU »gestalten wir als eine souveräne Nation, in der das britische Volk die Kontrolle ausübt. Seine Entscheidung, die Institutionen der Europäischen Union zu verlassen, war Ausdruck dieses Kontrollwunsches – ein Votum darüber, wie seine Demokratie wirken soll. Es will eine direktere Kontrolle über Entscheidungen, die das tägliche Leben betreffen, und das bedeutet, dass diese Entscheidungen in Britannien von Menschen getroffen werden, die ihm direkt verantwortlich sind… Es geht also um Entscheidungen. Die tiefgreifende Bündelung der Souveränität, die ein wesentliches Merkmal der Europäischen Union ist, ermöglicht eine beispiellos intensive Zusammenarbeit, die Vorteile bringt. Aber es bedeutet auch, dass Länder, die in der Minderheit sind, zuweilen gegen ihren Willen Entscheidungen akzeptieren müssen, selbst wenn sie sich auf innerstaatliche Angelegenheiten auswirken, die in keinem Zusammenhang zur Außenwirtschaft stehen… Die britischen Wähler haben also ihre Entscheidung getroffen. Sie haben sich für die Macht der innerstaatlichen demokratischen Kontrolle entschieden, um diese Art der Kontrolle zu bündeln und die Rolle des britischen Parlaments und des dezentralisierten schottischen Parlaments sowie der walisischen und nordirischen Versammlungen bei der Beschlussfassung über unsere Gesetze zu stärken.«

Foto: Avaaz, licensed under CC0 1.0 Universal, RIP Brexit, via flickr.com.

Der gemeinsame Ausflug der britischen Regierungschefin, des Außenministers Johnson, des Finanzministers Hammond und des Brexit-Ministers Davis nach Florenz illustriert einen ganz anderen Zusammenhang als intendiert: Standen der innereuropäische Textilhandel zwischen England und Florenz und die Bankgeschäfte der Medici am Beginn der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und der modernen Nationalstaaten, so ist das Beharren auf dem Zusammenhang von Volk und Nationalstaat gegenüber der Herausbildung einer supranationalen Souveränität der Versuch, die ökonomischen und sozialen Beziehungen der internationalen Arbeitsteilung wieder in die engen Grenzen historisch überholter Nationalstaaten zu pferchen. Sich allen ökonomischen, sozialen und fiskalischen Ausgleichsprozessen, die ein international verwobener gesellschaftlicher Reproduktionszusammenhang benötigt, zu entziehen und dennoch auf eine gedeihliche Partnerschaft zu hoffen, um an den Vorteilen internationaler Kooperation einseitig teilhaben zu können, verlangt von den bisherigen Kooperationspartnern, die ja auch die künftigen sind, ein hohes Maß an politischer Flexibilität, damit gegenüber diesem nationalen Egoismus weiterhin die Modernität des Souveränitätsverzichts verteidigt werden kann und zugleich die Ansätze einer Weiterentwicklung der EU zu einer Fiskal-, Sozial- und Ausgleichsunion nicht verloren gehen.
So explizit die britische Ministerpräsidentin die alternativen Entwicklungswege der Gesellschaften in Europa benennt, so vage bleiben jenseits der Verheißungen der Früchte künftiger Freihandelsabkommen ihre Aussagen und die ihrer Administration zu den ökonomischen und sozialen Folgen des EU-Austritts.
Einerseits hat die britische Regierung in den letzten Wochen als Antwort auf die Transparenzoffensive des EU-Verhandlungsführers Barnier ebenfalls etliche Positionspapiere publiziert, die die Konkretisierung ihrer Verhandlungsposition belegen sollen. Das änderte aber nichts daran, dass die Austrittsverhandlungen ins Stocken geraten sind und ungewiss bleibt, ob der Europäische Rat schon am 20. Oktober oder erst im Dezember darüber entscheidet, ob die zweite Verhandlungsphase zur vertraglichen Gestaltung der Post-Brexit-Beziehungen zwischen dem UK und der EU eingeleitet wird. Voraussetzung ist, dass die Verhandlungskörbe Austrittsvertrag und Abschlussrechnung, gegenseitige Sicherung der Rechte der Staatsbürger und Regelung der irisch-nordirischen Beziehungen hinreichend geklärt sind.

Andererseits hat die britische Regierung bisher nicht ihre internen Analysen offengelegt, was verschiedene Verhandlungsergebnisse für die einzelnen Wirtschaftssektoren des Vereinigten Königreichs bedeuten könnten. Die Weigerung der Regierung, diese Dokumente zu veröffentlichen, lässt die Öffentlichkeit und die Parlamente weiterhin im Dunkeln über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit, und damit über die Zielrichtung der Verhandlungsführung des Brexit-Ministeriums.
Die einzigen offiziellen Bewertungen der wirtschaftlichen Folgen des Brexits, die bisher veröffentlicht wurden, sind zwei Analysen, die das Finanzministerium während des EU-Referendums 2016 erstellt hatte und deren Datenbasis nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist. Es ist nicht bekannt, wie viele Brexit-Folgeabschätzungen seitdem von der Regierung durchgeführt wurden. Dennoch sind Hinweise auf derartige Analysen durchgesickert, deren Publikation die öffentliche Debatte über den Brexit beeinflussen könnten. Es handelt sich dabei vor allem um drei Untersuchungen.
Einem Hinweis des ehemaligen Stabschefs im Brexit-Ministerium zufolge orientiert sich die britische Verhandlungsführung an einem Dokument, in dem die Auswirkungen unterschiedlicher Austrittszenarien für mehr als 50 Wirtschaftssektoren untersucht werden. Eines der Szenarien ist der harte Brexit, an dem May in ihrer Florentiner Rede im Kern festgehalten hat. Die prognostizierten Auswirkungen dieses Szenarios – ohne oder mit Implementierungsphase – könnten die WählerInnen beunruhigen. Das Dokument unterliegt strikter Geheimhaltung.
Das zweite Dokument ist eine Analyse des Schatzamts über den wirtschaftlichen Nutzen künftiger Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Staaten für das Vereinigte Königreich. Zuerst hatte das Centre for European Reform im Juni dieses Jahres die Existenz dieses Papiers aufgedeckt. Aus ihm soll hervorgehen, dass die Vorteile der neuen Freihandelsabkommen deutlich unter den wirtschaftlichen Kosten liegen würden, die mit dem Ausscheiden aus der EU-Zollunion verbunden wären. Die Ergebnisse dieser Untersuchung stützen die Argumentation des Finanzministers Hammond, dass Britannien nach dem Brexit zumindest während einer Übergangsphase Mitglied der EU-Zollunion bleiben solle. Die Publikation des Papiers könnte aber auch die in der Labour Party vertretene Position stärken, dass das Vereinigte Königreich dauerhaft in der Zollunion verbleiben müsse.

Eine dritte wichtige Analyse dürfte die Stellungnahme des unabhängigen Migration Advisory Committee zur Frage sein, welche Auswirkungen die Nach-Brexit-Migrationspolitik auf die Wanderungsbewegungen zwischen der EU und dem UK und auf den britischen Arbeitsmarkt haben könnte. Diese Untersuchung ist allerdings erst im Juli von der Regierung in Auftrag gegeben worden, und der Abschlussbericht soll erst September 2018 – also nur sechs Monate vor dem Brexit – vorgelegt werden.
Die Regierung May hatte im Juli 2016 das Mantra der EU-Austrittsbefürworter übernommen, ein Brexit könne ökonomisch erfolgreich gestaltet und dadurch schon mittelfristig die angestrebte Kurskorrektur in der Austeritätspolitik mit ihren erhöhten Reparaturausgaben für die desolate soziale und materielle Infrastruktur unterstützt werden. Schon vor der vorgezogenen Parlamentswahl im Juni hatte der Druck aus diversen Wirtschaftssektoren zugenommen, den EU-Austritt möglichst langfristig abzufedern.
Während des Wahlkampfs hatte sich abgezeichnet, dass die Labour Party mit ihrer Zielsetzung einer Erneuerung des Sozialstaats und der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen den Kern der Austeritätspolitik der Tories erschüttern konnte. Mit der Perspektive, der Ausweitung der sozialen Ungleichheit könne durch konkrete Reformschrittschritte im Gesundheits-, Pflege- und Bildungsbereich Einhalt geboten werden, und mit der Perspektive, die Reallohnverluste der letzten Dekade ausgleichen zu können, wurde auch die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung der zunehmenden Prekarisierung wieder als umkehrbar erkennbar – und damit einer der Gründe für die Brexit-Entscheidung bei weiten Teilen der Wählerschaft als revisionsfähig.
Mit dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit der Konservativen Partei und der Einengung der politischen Handlungsfähigkeit der Premierministerin traten die Spaltungstendenzen bei den Tories, die Mays Vorgänger mit dem EU-Referendum hatte kitten wollen, wieder offen zutage.
In der britischen Regierung hat Finanzminister Hammond am deutlichsten darauf hingewiesen, dass eine technische Implementierungsphase nicht ausreicht, sondern dass eine Transformationsphase notwendig ist, damit in Industrie und Finanzwirtschaft die entsprechenden Entscheidungen mit einem längeren Vorlauf vorbereitet werden, die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen und gegebenenfalls die 35 Regulierungs-, Zulassungs- und Aufsichtsbehörden errichtet werden können, die mit dem vollständigen Wegfall der EU-Regulierung im UK erforderlich sind, damit die Handelsbeziehungen aufrecht erhalten werden können.
Auf dem rechtspopulistischen Flügel der Tories hat Außenminister Johnson die Initiative an sich gerissen und sich als Sprachrohr des harten Brexit positioniert. In einem längeren Essay hat er kürzlich erneut das empirisch wiederlegte Scheinargument aufgegriffen, mit dem seinerzeit die Austrittsbewegung den entscheidenden Schwung bekommen hatte: Nach dem Austritt könnten sofort wöchentliche Zahlungen in Höhe von 350 Mill. Pfund an den National Health Service überwiesen werden.
Mays Florentiner Rede war dann auch der Versuch, erneut einen innerparteilichen Kompromiss zu dokumentieren. Die innerparteiliche Verständigung der Tories auf die inhaltliche Zielsetzung der Brexit-Verhandlungen steht allerdings immer noch aus. Ohne eine klare politische Festlegung in der regierenden Konservativen Partei, und ohne sachliche Auseinandersetzung mit der parlamentarischen Opposition und den Regionalregierungen drohen sowohl das gesamte Gesetzgebungsverfahren zum Brexit-Austritt im parlamentarischen Chaos unterzugehen, als auch die Austrittsverhandlungen in Brüssel zu scheitern.

Es ist davon auszugehen, dass die politische Ziellosigkeit der konservativen Minderheitsregierung auch auf dem Tory-Parteitag Anfang Oktober nicht aufgelöst wird, und dass die Debatte über die Gestaltung des EU-Austritts weiterhin ideologisch überlagert wird. Die außerparlamentarische und parlamentarische Opposition gegen die anhaltende Austeritätspolitik wird die Differenzen in der Konservativen Partei zusätzlich verstärken. Der politische Kurs der Regierung, mit dem der Brexit bewerkstelligt werden soll, wird fiskalisch im Budget-Gesetz abgebildet werden, das am 12. November für das nächste Jahr eingebracht wird. Offen ist, ob das ein weiterer Anlass für eine Korrektur der Kreditwürdigkeit des Vereinigten Königreichs seitens der Ratingagenturen sein wird. Offen ist aber auch, wer als Finanzminister das Haushaltsgesetz vorlegen wird – und wer als Premierminister amtieren wird.

Hinrich Kuhls, Düsseldorf, arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

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