Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze spitzt sich zu. Immer mehr Geflüchtete sind dort gefangen in der Perspektivlosigkeit und bedroht durch die griechische Polizei. Özlem Alev Demirel, Mitglied des Europaparlaments für die Linke, war vor Ort, wir haben mit ihr gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Du bist vor kurzem an der griechisch-türkischen Grenze gewesen, was hast du dort genau gemacht?
Özlem Demirel: Ich bin gemeinsam mit dem Linken-Bundestagsabgeordneten Michel Brandt an die griechisch-türkische Grenze gefahren, um mir ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Denn die Berichte über die Lage dort sind ja unübersichtlich und zum Teil widersprüchlich. Sowohl Griechenland und die EU als auch die Türkei verletzen Menschenrechte und internationales Recht. Die Rechte von Geflüchteten, darunter sind viele Kinder, werden mit Füßen getreten. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist Folge des verheerenden und gescheiterten EU-Türkei-Flüchtlings-Deals – an dem auch Kanzlerin Merkel und Deutschland maßgeblich mitgewirkt haben.
Die Freiheitsliebe: Die griechische Polizei geht hart gegen die Geflüchteten vor. Wie hat die EU darauf reagiert?
Özlem Demirel: Beide Seiten – also sowohl die EU und Griechenland als auch die Türkei – spielen ein dreckiges Spiel auf den Rücken von Menschen. In Pazarkule haben wir Verwundete und völlig erschöpfte Menschen gesehen. Die Menschen werden regelrecht von einer Seite der Grenze zur anderen gejagt. Mittendrin kleine Kinder, die weinen und spielen zugleich. Egal um welches Thema es sich handelt: In Debatten auf europäischer Ebene wird immer wieder irgendetwas über europäische Werte gefaselt. Wenn man die Szenen vor Ort sieht, wie ich sie jetzt an der türkisch-griechischen Grenze und im Dezember entlang der Balkanroute in Bosnien gesehen habe, dann frage ich mich nur noch, wie zynisch Menschen sein müssen, um so zu agieren, wie die EU gerade agiert. Die Haltung der EU ist relativ deutlich. Die Menschen sollen mit allen Mitteln draußen gehalten werden. Griechenland setzte das Asylrecht aus und bekommt dafür auch Rückendeckung von Frau von der Leyen.
Die Freiheitsliebe: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) war vor Kurzem in Griechenland und hat immerhin Hunderte Millionen Euro Soforthilfe zugesagt.
Özlem Demirel: Ursula von der Leyen hat Griechenland für die Grenzsicherung 350 Millionen Euro zugesichert und weitere 350 Millionen auf Abruf versprochen. Zudem hat sie auch materielle und personelle Unterstützung versprochen, wiederum für die Grenzsicherung: Ich finde das sehr zynisch, wie hier das Recht auf das Stellen von Asylanträgen einfach missachtet und stattdessen in Flüchtlingsabwehr investiert wird, statt den Menschen in Not zu helfen. „Soforthilfe“ ist also ein falsches Wort: Die helfen nicht, die schotten ab. Die Menschen – egal ob Syrer, Afghanen oder andere Staatsbürger – fliehen auch vor den Waffen, die die Europäische Union und Deutschland in die Krisengebiete geliefert hat. Diese Menschen wurden ihrer Heimat beraubt und jetzt wird von der EU ein Krieg gegen Geflüchtete geführt.
Die Freiheitsliebe: Welche Rolle spielt Frontex in dem ganzen Prozess?
Özlem Demirel: Natürlich spielt auch Frontex bei der so genannten „Hilfe“ eine entscheidende Rolle, denn zeitglich mit der finanziellen Unterstützung kündigte von der Leyen eine Verstärkung der Frontex-Truppen an. Mit von der Partie sind Einhundert neue Grenzschützer, Boote, Hubschrauber, Nachtsichtgeräte sowie ein Schiff und ein Flugzeug. Es ist mehr als perfide, dass nicht alle finanziellen Mittel in die sofortige Evakuierung der Menschen gesteckt werden, sondern in Überwachung, Stacheldraht und Abwehrinstrumente rund um die Festung Europa. Im Übrigen sind auch deutsche Grenzbeamte in Griechenland im Einsatz. Das haben wir auf dem Weg nach Hause am Flughafen in Griechenland mitbekommen.
Die Freiheitsliebe: Griechenlands Regierung erklärt, sie fühle sich allein gelassen von der EU – eine Einschätzung, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Wie haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten in den letzten Monaten agiert?
Özlem Demirel: Gar nicht, die Zustände auf den Inseln hat sich zusehends verschlechtert. Die Lager auf Lesbos und in anderen Gebieten sind nach wie vor überfüllt und die Bedingungen sind unerträglich und menschenunwürdig. Die griechische Regierung hat angekündigt, Land von Bewohnern zu beschlagnahmen, um noch größere Lager zu bauen – was keine Lösung sein kann, weder für die Geflüchteten noch für die griechischen Bewohner. Die EU hat sich wie immer wegeduckt und die Situation sehenden Auges eskalieren lassen. Das einzige, was getan wurde, was auch meine Anfragen an die EU-Kommission beweisen, ist die stetige Aufrüstung der Außengrenzen und Rüstungsexporte in Krisenregionen.
Natürlich steht Griechenland vor Herausforderungen, denen es alleingelassen nur schwer gewachsen ist. Mit dem Finger allein auf Griechenland zu zeigen, lenkt jedoch von den wirklich Verantwortlichen in Brüssel ab.
Die Freiheitsliebe: Wie viele Geflüchtete sind aktuell im Land und wie viele stehen an den Grenzen?
Özlem Demirel: Die genaue Zahl zu benennen, ist schwer. Und es gehört zur Wahrheit dazu, dass sowohl die türkische als auch die griechische Seite widersprüchliche Aussagen tätigen und beide Seiten eklatante Verstöße gegen die Menschenrechte begehen.
Rund 3,7 Millionen syrische Geflüchtete befinden sich derzeit in der Türkei und laut Berichten des türkischen Innenministeriums befinden sich aktuell mehr als 117.000 Menschen in den Grenzgebieten. Hinzu kommen natürlich die vielen Menschen, die sich in Syrien aktuell noch auf der Flucht befinden und nicht mehr in die Türkei reinkommen, sowie diejenigen, die schon länger unter katastrophalsten Bedingungen auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos festsitzen. Hier herrscht schon lange eine humanitäre Katastrophe. Ganz selten wird hierzulande zudem über die Lebensbedingungen der Syrierinnen und Syrer in der Türkei berichtet.
Die Freiheitsliebe: Wie sehen diese denn aus?
Özlem Demirel: Die Menschen leben auf der Straße und sind massiven Übergriffen und Anfeindungen ausgesetzt. Es gibt zahlreiche Berichte, dass sie zu menschenunwürdigen Bedingungen und Löhnen arbeiten müssen – zum Teil bekommen sie für harte Arbeit unter katastrophalen Bedingungen noch nicht einmal den ohnehin viel zu niedrig angesetzten Lohn ausbezahlt. Sehr viele von ihnen haben keinerlei Perspektive. Zudem gibt es auch Meldungen und Berichte darüber, dass auch die Türkei sie nicht nur mit Bussen Richtung griechische Grenze karrt, sondern auch zwingt, auf Boote zu steigen oder die Grenze zu überqueren. Mir ist es ein Rätsel, wie angesichts der zahlreichen, auch gut belegten Berichte noch weiter am menschenunwürdigen Flüchtlings-Deal festgehalten werden kann. Die angebliche Werteunion scheint ihrer einzigen Werte in einer Wirtschaftsunion zu sehen.
Die Freiheitsliebe: Du forderst eine Öffnung der Grenzen und eine Aufnahme der Geflüchteten. Wie genau soll das aussehen?
Özlem Demirel: Vorweg: Ich stehe für eine Welt, in der niemand gezwungen ist zu fliehen, und sich jeder frei bewegen kann. Das heißt für mich, dass ich Nein sage zu Waffenexporten und Kriegen und auch die Handels- und Wirtschaftsordnung in Frage stelle, die ursächlich für die aktuellen Fluchtbewegungen ist.
Jetzt geht es um eine Notsituation, auf die jetzt ohne Wenn und Aber wie folgt reagiert werden müsste: Erstens muss internationales Recht eingehalten werden, das heißt, Menschen haben ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren. Zweitens müssen Deutschland und auch andere EU-Länder Menschen aufnehmen. Und die Städte und Gemeinden, die Unterbringung angeboten haben, müssen unterstützt werden. Inzwischen gibt es allein in Deutschland rund 140 Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen wollen. Drittens müssen die riesigen Lager, in denen Menschen seit Jahren vor sich hinvegetieren, endlich aufgelöst werden. Alle Mitgliedstaaten der EU sind zur Aufnahme zu verpflichten, neu ankommenden Kindern muss der Zugang zur Schulbildung eröffnet werden. Integrationsmaßnahmen müssen dabei umgehend eingeleitet werden, damit Geflüchtete und Alteingesessene nicht gegeneinander ausgespielt werden können.
Die Freiheitsliebe: Wie kann eine solche Situation wie an der Grenze in Zukunft verhindert werden und den Geflüchteten eine sichere Ankunft in Europa ermöglicht werden?
Özlem Demirel: Der sofortige Stopp aller Waffenexporte und auch Verbote zur Waffenproduktion in der EU sind notwendig. Es darf keine dreckigen Pakte mehr geben, mit denen Menschen zur politischen Manövriermasse gemacht werden. Die lang angekündigte Dublin-Reform muss endlich umgesetzt werden, damit es europaweit einen gerechten Verteilungsschlüssel gibt. Und natürlich müssen alle ausländischen Truppen mit ihren jeweiligen Eigeninteressen aus Syrien abgezogen werden. Das ist die Grundvoraussetzung zur Einleitung eines Friedensprozesses in der Region.
Die Freiheitsliebe: Vielen Dank für das Gespräch.
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