Wolfgang Schäuble ist tot. In den sozialen Medien überschlagen sich die Tweets. Sie würdigen ihn als großen Jahrhundertpolitiker, überzeugten Europäer, Patrioten, Architekten der deutschen Einheit, herausragenden Demokraten und liebenswerten Kollegen. Es sind die Würdigungen des Bürgertums, inhaltsleer, heuchlerisch und moralisch verkommen.
Nicht in der Lage, anders in die Welt zu blicken als von oben. Mit dieser Sichtweise auf die Person Schäuble blenden sie die Widersprüche und Fragen vollständig aus, die sich gerade jetzt mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die soziale Spaltung oder die Stabilität der Demokratie drängender denn je stellen. Denn wer Schäuble als „Architekten der Einheit“ würdigt, der ignoriert, dass das wiedervereinte Deutschland auf den Sand wachsender sozialer Ungleichheit gebaut wurde. Wer ihn als „überzeugten Europäer“ lobpreist, der will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Austeritätspolitik Schäubles Europa nicht zusammengeführt, sondern auseinandergetrieben hat. Und wer seine Verdienste als „Vater der Schuldenbremse“ herausstellt, der ist offensichtlich blind für die fatalen Folgen des gesellschaftlichen Infrastrukturdefizits.
Als Schäuble nach seinem Jurastudium 1972 das erste Mal in den Bundestag einzog, war Willy Brandt noch Bundeskanzler. Nicht nur meine Tochter war noch nicht geboren, ich war es auch nicht. So lange ist das schon her. Die insgesamt 51 Jahre ununterbrochen andauernde parlamentarische Tätigkeit sollte uns keine Ehrfurcht abringen, wie gegenwärtig in den medialen Lobpreisungen suggeriert, sondern uns Anlass sein, einen kritischen Blick auf die Stationen seines politischen Lebens zu werfen.
„Das Boot ist voll“
Als Schäuble 1989 Innenminister wurde, war die deutsche Einheit noch in weiter Ferne. Die Bundesrepublik erlebte in den Monaten vor dem Mauerfall eine „Das Boot ist voll“-Stimmung, die sich gegen die Flüchtlinge aus der DDR richtete. In Hessen sah sich das Sozialministerium vor „notstandsähnlichen Verhältnissen“. In Westberlin, wo in jenen Monaten täglich knapp 100 DDR-Bürger ankamen, sah das Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben die Stadt „jeden Tag vor dem Kollaps“. Aus Schäubles Ministerium war – nur wenige Monate, bevor das gesamte westdeutsche Establishment beim Anblick des Mauerfalls vor Rührung feuchte Augen bekam – zu vernehmen, dass die Menschen doch „möglichst drüben bleiben (sollten), wo sie sind, damit die Wiedervereinigung nicht in der Bundesrepublik stattfinden muss“. Es war Schäuble, der in jener Zeit die Kürzung der Sozialleistungen für Zuwanderer aus der DDR zu verantworten hatte.
Nur wenige Monate später war das alles vergessen. Die Bundesregierung verteilte großzügig Begrüßungsgeld, und Schäuble verhandelte den Einigungsvertrag. Das Vertragswerk regelte auf 1.000 Seiten die rechtlichen Grundlagen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Wenn also heute daran erinnert wird, dass Schäuble der Architekt der deutschen Einheit ist, dann sollte nicht vergessen werden, dass das Grundgesetz damals zwei Möglichkeiten zur Herstellung der Einheit Deutschlands vorsah: Den Beitritt der untergehenden DDR zum damaligen Bundesgebiet oder die Verabschiedung einer neuen Verfassung für das gesamte Staatsgebiet. Obwohl es große Kritik an einem Beitritt der neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gab, weil er den Bürgern in Ost- und Westdeutschland keinen gleichberechtigten Neubeginn ermöglichte, fiel die Wahl auf dieses Szenario.
Es ist nur eine Fußnote der Geschichte, die allerdings mehr als 30 Jahre später an Bedeutung gewinnt: Der Einigungsvertrag legte ebenfalls fest, dass die dritte Strophe des Deutschlandliedes die Nationalhymne des wiedervereinten Deutschlands werden solle. Die IG Metall und mit ihr verschiedene Vertreter der Zivilgesellschaft hatte vorgeschlagen, stattdessen die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht zur gemeinsamen Hymne zu machen. Brecht hatte die Hymne 1950 bewusst als Gegenstück zum Deutschlandslied geschrieben, weil er das Lied durch den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus missbraucht sah. Der Zeile „Deutschland, Deutschland – über alles, über alles in der Welt“ setzte Brecht eine friedliebende Formulierung entgegen: „Und nicht über, und nicht unter anderen Völkern wollen wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein“. Aber noch aus einem anderen Grund, wäre Brechts Kinderhymne das bessere Lied für das wiedervereinte Deutschland gewesen: Wenn man je zwei Strophen zusammenfasste, entsprach das Versmaß exakt dem des Deutschlandliedes UND der Nationalhymne der DDR. „… es gibt wohl keine Hymne, die die Liebe zum eigenen Land so schön, so rational, so kritisch begründet, und keine, die mit so versöhnlichen Zeilen endet“, urteilte damals der Politikwissenschaftler Iring Fetscher.
Acht Wochen verhandelte Schäuble den Vertrag – etwas mehr Zeit, um zu prüfen, ob die Bundesrepublik womöglich einige rechtliche Regelungen der DDR hätte übernehmen können, hätte dem Einigungsprozess sicher gut getan. Zudem sind einige Bestimmungen des Vertragswerkes bis heute umstritten, darunter die Regelung der Besitzverhältnisse nach dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, den Umgang mit dem DDR-Vermögen oder die Einrichtung der Treuhandanstalt. Wer Schäuble heute als Architekten der deutschen Einheit lobt, der lobt die ins Vertragswerk gegossene Schieflage zwischen Ost und West, die noch immer unter den älteren Ostdeutschen für das Gefühl sorgt, nur „Deutsche zweiter Klasse“ zu sein.
Pogromstimmung
Erinnert werden muss auch daran, dass im Windschatten des Freudentaumels über die deutsche Einheit eine neue „Das Boot ist voll“-Stimmung durch die Republik kroch. Vor allem in den neuen Bundesländern jagten Neonazi-Banden hinter Ausländern, Obdachlosen und linken Jugendlichen her. Bilder von brennenden Asylbewerberheimen dagegen gab es in allen Teilen der Republik. Ortsnamen wie Eberswalde, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Hünxe, Mölln oder Solingen sind für immer mit den rassistischen Pogromen jener Zeit verbunden.
Die Stimmung entstand nicht zufällig. Sie wurde geschürt, um von den tiefen sozialen Verwerfungen der Nachwendezeit abzulenken und zugleich den unliebsamen Asyl-Paragrafen anzutasten. Deutschland erlebte in jener Zeit Zuwanderung und Migration aus der zerfallenden Sowjetunion, dem Irak und dem beginnenden Krieg in Jugoslawien. Für die Union, die gemeinsam mit der FDP die Regierung stellte war der Artikel 16 des Grundgesetzes Schuld an dieser Situation. Dieser regelte unmissverständlich: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“. Es war Schäuble, der damals problematisierte, dass diese verfassungsrechtliche Schutzgewähr selbst über die Genfer Konvention hinausginge: „Wir müssen das Singularisieren Deutschlands beenden,“ forderte er. Am 6. Dezember 1992 – zufälligerweise dem zweiten Todestag des ersten Opfers rassistischer Gewalt in der Nachwendezeit, des Angolaners Amadeu Antonio – verständigten sich CDU, FDP und SPD auf einen Asylkompromiss. Der neue Artikel regelte fortan, dass sich niemand mehr auf das Asylrecht berufen könne, der aus einem EU-Land oder einem sogenannten sicheren Drittstaat einreiste. Es war der Einstieg in die Aufweichung des Asyl-Paragrafen, den die Gründungsväter der deutschen Verfassung nicht zuletzt wegen der Erfahrungen mit politischer Verfolgung im deutschen Faschismus so klar ins Grundgesetz geschrieben hatten. Er war zudem „ein Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates“, wie Pro Asyl treffend zusammenfasste.
CDU-Spendenaffäre
Als im November 1999 eine illegale Spendenpraxis der CDU aufgedeckt wurde, stürzte auch Schäuble darüber. Über Jahre waren millionenschwere Bargeldspenden auf mysteriösen Schweizer Parkplätzen übergeben oder auf Schwarzgeld-Konten eingezahlt worden, die die CDU unterhielt. Industriespenden, die nicht versteuert wurden und zudem mutmaßlich als Schmiergeldzahlungen für politische Entscheidungen wie Panzerlieferungen oder den Zuschlag für öffentliche Aufträge eingestuft werden können. Als Partei- und Fraktionsvorsitzender war Schäuble in die Spendenaffäre involviert. Erst auf Druck räumte er im Januar 2000 ein, 1994 vom Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Bar-Spende über 100.000 DM entgegengenommen zu haben.
Der Gipfel der Geschmacklosigkeit war schließlich der Versuch, die illegalen Spenden als Erbbeträge verstorbener Juden, als sogenannte „jüdische Vermächtnisse“ zu deklarieren. Es sagt viel über das politische Establishment der Bundesrepublik, dass ausgerechnet Wolfgang Schäuble mit einer derartigen Vergangenheit erst als Innenminister über die Einhaltung von Recht und Ordnung wachen und später als Finanzminister die finanzpolitischen Angelegenheiten der Bundesrepublik steuern konnte.
Migrationspolitik in Europa
Seine zweite Phase als Innenminister fiel in die Zeit verstärkter Zuwanderungsbewegungen aus Nahost und Afrika. Weil gelernt nun mal gelernt ist, konnte er nahtlos anknüpfen an seine Rolle als früherer Innenminister. Ebenso selbstbewusst wie rücksichtslos wies er die Forderung der Mittelmeerländer zurück, Bootsflüchtlinge aus Gründen der Fairness über die gesamte EU zu verteilen.
Als Angela Merkel wegen der deutschen Flüchtlingspolitik schließlich unter Druck geriet und es erste Rücktrittsforderungen gab, brachte sich Schäuble, dem bis heute große Loyalität nachgesagt wird, der aber offenbar mit der Rolle als ewiger Zweiter unzufrieden war – für die Rolle als Nachfolger geschickt ins Gespräch. „Er selbst befeuert dieses Spiel von Medien und Parteifreunden, indem er sich mit listigen Einlassungen mal loyal gibt und dann wieder indirekt für sich wirbt. ‚Adenauer war bei Amtsantritt 73 Jahre alt‘, sagte er neulich. Das soll wohl heißen: mein Alter wäre für das Kanzleramt kein Problem, liebe Leute“, wusste der Spiegel zu berichten.
Die schwarze Null
Das Schäuble heute als Vater der Schuldenbremse gilt, ist auf seine Zeit als Finanzminister von 2009 bis 2017 zurückzuführen. Eine Zeit, in der Schäuble mit einer eisernen Haushaltsdisziplin regierte. Wenn die bürgerlichen Medien ihn also heute andächtig dafür feiern, dass ihm in jenen Jahren die „schwarze Null“, also ein Bundeshaushalt ohne neue Schulden, gelungen war, sollten wir an die politische Rücksichtslosigkeit erinnern, mit der er diese durchgesetzt hatte. Dafür legte er die Schuldenbremse strikter aus, als notwendig gewesen wäre. Die Folge war ein sich Jahr für Jahr auftürmendes Infrstrukturdefizit. Statt mit öffentlichen Investitionen Werte und ein öffentliches Vermögen zu schaffen, das auch den nachkommenden Generationen zur Verfügung steht, setzte Schäuble überall den Rotstift an.
In der Folge verfiel das öffentliche Vermögen. Schultoiletten wurden nicht renoviert. Brücken und Straßen wurden unbefahrbar, weil nicht einmal in den Substanzerhalt investiert wurde. Krankenhäuser wurden privatisiert, weil sich die Sanierung des Bundeshaushaltes auch auf die finanzielle Situation von Ländern und Kommunen auswirkte. Das Ziel der Schwarzen Null war kostspielig, es war zerstörerisch, und es diente einzig der Aufrechterhaltung der ungerechten Vermögensverhältnisse. Vor einem Vierteljahrhundert wurde die Vermögensteuer ausgesetzt. In acht Jahren schaffte es der Staatsmann Schäuble nicht, dieser wiedereinzuführen oder zumindest die Erbschaftssteuer zu reformieren, um starke Schultern wieder stärker an der Finanzierung des Sozialstaates zu beteiligen und die staatliche Einnahmeseite zu verbessern. Gleiches galt natürlich auch für alle anderen Finanzminister in den letzten 25 Jahren. Dass Schäuble dieser Tage dennoch als Vater der Schuldenbremse gefeiert wird und das obwohl die Bundesregierung – auch bedingt durch die Schuldenbremse – derzeit in der schwersten Haushaltskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges steckt, ist bezeichnet und zeigt, dass Umverteilungsideen offenbar keinen Rückhalt mehr im politischen Establishment haben.
Die Griechenland-Krise
Unvergessen ist zudem Schäubles Rolle, die er als deutscher Finanzminister im Kontext der europäischen Finanzkrise spielte. Milliardenschwere Rettungspakete für die strauchelnden Banken hatten europaweit zu einer Verschuldung nationaler Haushalte geführt. Insbesondere im Falle Griechenlands standen die Schulden in den Büchern deutscher und französischer Banken, weshalb die europäischen Finanzminister unter Führung Schäubles dem Mittelmeerland eine rücksichtslose Austeritätspolitik und harte Spardiktate verordneten. Rentenkürzungen wurden angeordnet, Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst diktiert, Privatisierungen verlangt und die Zerschlagung des griechischen Tarifvertragssystems veranlasst. Dass die Selbstmordrate in Griechenland allein im Juni 2011 um 36 Prozent zunahm und sich danach kontinuierlich hielt, geht direkt auf das Konto dieser Politik. Sie ließ die Vermögensverhältnisse unangetastet und ließ die unteren Klassen für die Krise zahlen.
Wäre Schäuble tatsächlich der „aufrechte Demokrat“, als der er in unzähligen Nachrufen gewürdigt wird, hätte er die Wahlentscheidung vom Januar 2015 respektiert, die zur linken Syriza-Regierung geführt hatte und mit ihren politischen Vertretern auf Augenhöhe verhandelt. Doch Schäuble beugte die griechische Regierung rücksichtslos, drohte sogar mit Ausschluss aus der Eurozone, sollten sich die Hellenen nicht seinem Austeritätsdiktat unterwerfen. Er fügte der griechischen Demokratie damit schweren Schaden zu. Vollkommen zu Recht kritisierte der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis: „Wolfgang Schäuble (…) verkörperte den explosiven Widerspruch, der die Euro-Krise und die (zwangsläufig gescheiterten) politischen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung hervorbrachte, die einerseits zur Verarmung Griechenlands und andererseits zur gegenwärtigen Deindustrialisierung Deutschlands und des übrigen Europas führten. Die Geschichte wird ihn hart verurteilen.“
Gegen die bürgerliche Etikette
Es mag sein, dass Schäuble im persönlichen Umgang tatsächlich ein „liebenswürdiger Kollege“ gewesen war. Die Empathielosigkeit, die er gegenüber den unteren Klassen an den Tag legte, die durch seine Politik vor immer neue Zumutungen gestellt wurden, lässt daran allerdings zweifeln. Es mag auch sein, dass er sich insbesondere in seiner Zeit als Bundestagspräsident um einen fairen Umgang im Parlament bemüht hatte – vielleicht konnte selbst jemand wie Schäuble altersmilde werden. Der Umgang mit der Spendenaffäre zeigt jedoch viel mehr: Schäuble war einer, der sich wegduckte, wenn es eng wurde und wenn es der politischen Überlebensfähigkeit dienlich war. Und er war einer, der autoritär durchregierte, wenn er die Möglichkeit dazu hatte.
Die bürgerliche Etikette, dass man über einen Verstorbenen nur Gutes sagen darf, sollte die politische Linke nicht daran hindern, auf die furchtbaren Belastungen hinzuweisen, die Schäuble den unteren Klassen ein halbes Jahrhundert lang zugemutet hat. Schäuble war ein Vertreter des Bürgertums, der sich zur neoliberalen Schule zählte, der mit rücksichtsloser Kürzungspolitik die Gewinne seiner Klasse sicherte und dabei nicht davor zurückschreckte, eine rassistisch geschürte Stimmung zu nutzen, damit verteilungspolitisch alles bleiben kann, wie es ist.
Vieles was wir heute zum Zustand Deutschlands diagnostizieren – die Zunahme sozialer Spaltung, die wachsende Lohnungerechtigkeit zwischen Ost und West, der Aufstieg der extremen Rechen – geht nicht zuletzt auch auf das Konto von Wolfgang Schäuble. In Griechenland missachtete er zudem demokratisch legitimierte Entscheidungen und gefährdete damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Weise, dass es eigentlich nicht einmal den bürgerlichen Maßstäben entsprechen dürfte, Schäuble als Demokraten zu bezeichnen.
Schäubles politisches Leben, aber auch die Nachrufe auf ihn zeigen: Die Sichtweise des Bürgertums auf Umverteilung ist nicht unsere Sichtweise. Die Würdigung Schäubles sollte es auch nicht sein.