Die jüngste Ausgabe des britischen Wirtschaftsmagazins Economist titelt am 18. April mit der Schlagzeile „Gewinnt China?“ und diskutiert mögliche geopolitische Konsequenzen der Corona-Pandemie. Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem auf die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in China selbst.
Denn der Aufstieg zur demnächst größten Wirtschaftsmacht der Welt ist das Ergebnis einer planvollen inneren Entwicklung des bevölkerungsreichsten Landes der Erde.
Erstmals seit 40 Jahren geschrumpft
Chinas Wirtschaft ist im ersten Quartal zum ersten Mal seit 1976, seit dem Tod von Mao, geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt lag nach Daten des nationalen Statistikbüros NBS um 6,8 Prozent niedriger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Anlageinvestitionen fielen um 16 Prozent, ebenso die Konsumausgaben. Ein Sprecher des Statistikbüros spielte die Dramatik des Wirtschaftseinbruchs herunter und erklärte, das Wachstum für dieses und das kommende Jahr werde immer noch bei ca. 5 Prozent liegen. Dagegen prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) für dieses Jahr ein Wachstum von nur 1,2 Prozent in China (Financial Times vom 17.4.2020).
Schon im März hat sich die chinesische Wirtschaft im Vergleich zum Vormonat wieder etwas erholt. Die Kohleverstromung lag wieder bei 90 Prozent früherer Werte. Nach verschiedenen Indizes liegt Chinas Wirtschaft inzwischen wieder bei 83 Prozent ihres normalen Outputs, Mitte März waren es noch 66 Prozent. Zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar, kurz vor Verhängung der Ausgangs- und Reisesperren, waren die meisten Arbeitsmigranten in ihre Heimatprovinzen zurückgekehrt. Mitte April waren viele noch nicht wieder zurück in den Industriezentren an der Ostküste und im Perlflussdelta. Viele Fabriken produzieren gegenwärtig erst mit 85 Prozent der Belegschaftsstärke aus der Zeit vor dem Ausbruch von Corona.
Es war schon eine Leistung, nach Monaten des Stillstands dieses Niveau wieder zu erreichen. Bereits Mitte Februar hatte die chinesische Regierung mit dem Umsteuern begonnen. Sie forderte die Unternehmen auf, unter Einhaltung massiver Schutzvorkehrungen und Quarantäne-Maßnahmen die Produktion schrittweise wieder aufzunehmen. Die meisten Autofabriken produzieren seit Anfang April wieder. Der taiwanesische Foxconn-Konzern, Auftragsfertiger unter anderem für Apple und mit etwa einer Million Beschäftigten größter privater Arbeitgeber in der Volksrepublik China, hat verkündet, dass alle Werke wieder laufen und damit auch der weltweite Launch für die neuesten Apple-Produkte im Herbst gesichert ist.
Manche Ökonomen hatten einen noch tieferen Wirtschaftseinbruch von etwa 10 Prozent vorhergesagt – mit 50-60 Millionen Arbeitslosen im Dienstleistungsbereich und weiteren 20 Millionen in der Industrie und auf dem Bau. Aber am Ende des ersten Halbjahres 2020 könnte die Zahl der Arbeitslosen schon bei insgesamt weniger als 50 Millionen liegen.
Das zweite Quartal wird noch schwach sein: Die Produktionsunterbrechungen wirken immer noch nach, und die Nachfrage aus dem Rest der Welt ist dramatisch eingebrochen. Falls Chinas Wirtschaft bis Ende Juni nicht wieder deutlich wächst, wäre das die erste Rezession seit 1976. Dann gibt es auch keine Chance mehr für ein reales Wachstum im ganzen Jahr 2020.
Kein Wiederanlauf der großen Industrie per Knopfdruck
Nach Angaben des CAAM, des Verbandes der chinesischen Autohersteller, auf Basis einer Untersuchung von 204 Produktionsstätten hatten im April über 99 Prozent der Werke die Fertigung wieder aufgenommen. 86 Prozent der Arbeiter waren wieder zurückgekehrt (China Automotive News vom 8.4.2020). Der Wiederanlauf eines Autowerks kann sich wochenlang verzögern, wenn ein Teilelieferant ausfällt und ein neuer Zulieferer gefunden, ausgerüstet und zertifiziert werden muss.
Der japanische Autozulieferer Yorozu, Hersteller von Radaufhängungen für Kunden in ganz Asien, produziert in Wuhan, wo die Corona-Pandemie wahrscheinlich ausbrach, wieder mit 80 Prozent seiner Kapazität, 90 Prozent der 850 Beschäftigten sind an Bord. Aber 9 Prozent der in Wuhan hergestellten 152 Komponenten sind kritische Teile, die nur dort gefertigt werden und die zeitweilig nicht geliefert werden konnten.
Nicht erst seit der Corona-Pandemie gehen die PKW-Verkäufe in China zurück: Im März waren die PKW-Verkäufe nach Daten vom CAAM um 43 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gefallen (China Automotive News vom 11.4.2020). 1,43 Millionen Fahrzeuge wurden verkauft, darunter nur 53.000 Elektroautos, Hybride und PKW mit Wasserstoffantrieb. Wegen der Kürzung der staatlichen Kaufprämien fällt seit neun Monaten in Folge die Zahl der verkauften NEV (New Electric Vehicle) in China. Die PKW-Verkäufe insgesamt sind jetzt 21 Monate in Folge im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresmonat gefallen. 2020 wird die Autonachfrage um 5-10 Prozent niedriger sein als 2019, als noch 21 Millionen PKW verkauft wurden (8,2 Prozent weniger als 2018). Lokalbehörden in Regionen mit einer hohen Konzentration von Autoproduktion und Zulieferern wie Foshan und Guangzhou in Südchina und Ningbo (nahe Shanghai) in Ostchina haben deshalb Kaufprämien aufgelegt, um den PKW-Absatz anzukurbeln.
Arbeitslosigkeit: Chinas soziales Netz hat große Löcher
Die chinesische Wirtschaft wird noch lange mit den Folgen der Corona-Krise zu tun haben. Pekings drakonische Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie hatten fast eine halbe Million Betriebe in die Knie gezwungen. Die Neuregistrierung von Unternehmen fiel im Vergleich zum Vorjahr um 29 Prozent auf 3,2 Millionen. Die Arbeitslosenquote in Chinas Städten erreichte im Februar einen Rekordwert von offiziell 6,2 Prozent gegenüber 5,3 Prozent im Januar 2020; Ende März lag die städtische Arbeitslosigkeit noch bei 5,9 Prozent. Schätzungen zufolge wurden acht Millionen Menschen entlassen.
Aber die reale Arbeitslosigkeit ist sicher zweistellig. Denn in der offiziellen Arbeitslosenquote sind die 280 Millionen Wanderarbeiter nicht erfasst, weil sie formal zur Landbevölkerung als Bauern zählen. In den Städten, in denen sie oft schon viele Jahre leben und arbeiten, werden sie meist nicht als Arbeitslose registriert. Sie bekommen nur Arbeitslosengeld, wenn sie mindestens zehn Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und wenn auch ihre Arbeitgeber die Abgaben beglichen haben. Geschätzt etwa 200 Millionen Arbeitsmigranten haben überhaupt keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das ist mit monatlich ca. 1.800 RMB in Peking ohnehin äußerst niedrig, weit weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns eines Wanderarbeiters. Nach Daten des China Labor Bulletin, einer NGO in Hongkong, gab es wegen der Auswirkungen der Krise allein im März 50 Protestaktionen von Beschäftigten aus dem Dienstleistungssektor und dem Baugewerbe.
In dieser Krise zeigt sich, dass Chinas soziales Netz immer noch große Löcher hat. Nach wie vor sind Ersparnisse und die Familie (mitsamt einem Land-Eigentumstitel) am wichtigsten für die soziale Absicherung. Zur Unterstützung von Arbeitslosen hat die chinesische Regierung jetzt ein Milliarden-Programm aufgelegt.
Exporte eingebrochen, aber das Schlimmste kommt noch
Chinas Exporte fielen nach Daten der Zollbehörden im März „nur“ um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nach zweistelligen Einbrüchen in den ersten beiden Monaten 2020 gingen die Exporte damit im ersten Quartal um insgesamt 6,4 Prozent zurück. Es ist aber damit zu rechnen, dass für die chinesische Exportindustrie aufgrund des Einbruchs der Weltwirtschaft das Schlimmste noch bevorsteht, während sich im Land die Probleme der Lieferketten – fehlende Arbeitskräfte und fehlende Teile – normalisiert haben.
Die globale Rezession wird den Druck auf Chinas Wirtschaft weiter erhöhen. Die Nachfrage von Konsumenten und Unternehmen in Chinas Exportmärkten in der ganzen Welt ist massiv eingebrochen. Das trifft besonders die exportorientierten Privatunternehmen, darunter eine Vielzahl von kleinen und mittleren Firmen. Zahlungsausfälle von Unternehmen und Privathaushalten werden zunehmen.
Für Liu Shijin, Vizedirektor des Wirtschaftsausschusses der Politischen Konsultativkonferenz, ein Beratungsgremium des Volkskongresses, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie im ersten Quartal nur temporär. Aber für die nächsten Quartale rechnet er aufgrund der globalen Rezession mit einem massiven Einbruch von Chinas Außenhandel. Er schließt auch finanzielle Schocks wie Zusammenbrüche von kleineren Banken nicht aus. Der Inhaber einer Fabrik für Maschinenkomponenten in der ostchinesischen Provinz Shandong beschreibt die Situation wie folgt: „Zuerst hatten wir Aufträge, aber keine Arbeiter, um sie zu erledigen. Jetzt sind die Arbeiter zurück, aber wir haben keine Aufträge mehr … Mein einziges Ziel ist, dieses Jahr zu überleben.“ (Financial Times vom 18.4.2020)
Ministerpräsident Li Keqiang: Arbeitsplätze wichtiger als Wachstumsziele
Aktuelle Hauptsorge der chinesischen Politik ist immer noch die Eindämmung von Corona, konkret die Verhinderung einer zweiten Pandemie-Welle. Die Produktion ist in den Fabriken unter extremen Schutzvorkehrungen wieder angelaufen. Schon seit Ende Februar produzierten die Stahlwerke, aber die Stahlarbeiter waren in Heimen isoliert von sonstigen Kontakten. Aus vielen chinesischen Städten werden zwar schon wieder die üblichen Staus auf den Straßen gemeldet, aber für Wuhan und die Hauptstadt Peking gelten immer noch spezielle Sicherheitsmaßnahmen. Jede und jeder, die oder der aus dem Ausland einreist, wird ausführlich getestet und kommt in Quarantäne.
Chinas Ministerpräsident Li Keqiang erklärte im Februar, das Erreichen der Wachstumsrate für 2020 sei nicht so wichtig, solange die Beschäftigungsziele der Regierung – pro Jahr ca. zehn Millionen neue städtische Jobs – erreicht würden. Das pragmatische Umsteuern auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Stabilisierung der Binnenkonjunktur macht Sinn. Damit steht aber auch das von der Regierung 2010 formulierte ambitionierte Ziel zur Disposition, die Wirtschaftsleistung bis 2020 zu verdoppeln. Nach dem zeitweiligen Stillstand und angesichts der globalen Rezession ist das kaum noch zu erreichen.
In den ersten zwei Monaten 2020 hat die Regierung daher mit Appellen und Direktiven an die Staatsunternehmen versucht, den Arbeitsplatzabbau zu stoppen. Nach einer Zählung haben allein Chinas Ministerien seit Januar 24 Dekrete herausgegeben – immer mit der gleichen Botschaft, die Unternehmen sollten ihre Geschäfte stabilisieren und Entlassungen möglichst vermeiden. Auch Staats- und Parteichef Xi Jinping wurde von den chinesischen Medien immer wieder mit der Aufforderung zitiert, möglichst die Arbeitsplätze zu erhalten.
Es geht der Führung nicht nur darum, den kumulativen, die Krise massiv verstärkenden Effekt von Millionen zusätzlichen Arbeitslosen möglichst einzudämmen und die gesellschaftliche Nachfrage zu stabilisieren. Es geht auch um den gesellschaftlichen Kontrakt, der darin besteht, dass Chinas autoritäres Politik- und Gesellschaftssystem bislang seine Legitimation durch die Schaffung von Wohlstand und von genügend Arbeitsplätzen erhält.
Sicher werden sich die Staats- und deren Gemeinschaftsunternehmen mit multinationalen Konzernen wie VW, GM oder Toyota an die Direktive der Partei halten. Auch die größeren Privatunternehmen, die sich unter anderem über das staatliche Bankensystem finanzieren und Verbindungen zu verschiedenen Behördenebenen haben, werden sich dieser Verpflichtung kaum entziehen können. Es bleibt abzuwarten, was aus der Ankündigung des Hausgeräte-Herstellers Hisense wird, 10.000 Jobs abzubauen (Caixin vom 3.4.2020). Hisense hat in Europa unter anderem die slowenische Firma Gorenje übernommen.
Insofern könne „Chinas Kommandowirtschaft solche massiven Schocks besser abfedern als Marktwirtschaften“, stellte Eswar Prasad vom US-Thinktank Brookings fest (Financial Times vom 13.4.2020). Aber allein mit Appellen von Partei und Regierung, Arbeitsplätze zu erhalten, ist die Wirtschaft nicht dauerhaft zu stabilisieren, denn den vielen Millionen Selbständigen und Kleinstunternehmern ist damit nicht geholfen. Ihre Existenz hängt an der Stabilisierung der inländischen Nachfrage. Die Binnenkonjunktur wiederum hängt vor allem am Bau- und Immobiliensektor.
Rolle der Bauwirtschaft und des Immobiliensektors
Chinas Bau- und Immobiliensektor trägt nach Schätzungen bis zu 25 Prozent zu Chinas Wirtschaftsleistung bei. China-Reisende bekommen angesichts der zahllosen Baustellen und Kräne und der unzähligen Hochhauskomplexe (viele davon nur halbfertig) einen Eindruck davon. Während des Baubooms der letzten Jahrzehnte sind Riesen-Vermögen entstanden, zahlreiche Immobilien-Magnaten gehören zu Chinas Superreichen. Für den „Durchschnitts“-Chinesen – ob Städter mit registriertem Wohnsitz („Hukou“) oder Arbeitsmigrant – ist eine Wohnung nicht nur zum Leben da, sondern dient bei niedrigen Renten (Ausnahme: Staatsdienst) als Alterssicherung und Geldanlage. Nach verschiedenen Untersuchungen haben über 90 Prozent der Haushalte Wohneigentum. Der Immobiliensektor ist deshalb nicht nur Indikator, sondern auch wichtiger Treiber der Binnenkonjunktur. Trotz gegenteiliger Ankündigungen ist der Anteil staatlich geförderter günstiger Mietwohnungen in den Städten immer noch gering.
Aber die Bauleistung ist im März 2020 gegenüber dem Vorjahr gefallen. Ein Index, der landesweit gewerbliche und Wohnungskäufe erfasst, fiel im März um weitere 11 Punkte auf minus 49 nach minus 38 im Februar. Ein positives Vorzeichen bedeutet steigende Verkäufe. Im ersten Vierteljahr stand der Index bei minus 29 gegenüber plus 70 im ersten Quartal des Vorjahres. Die registrierten Wohnungsverkäufe fielen im März um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Financial Times vom 25.3.2020). Manche Immobilienkonzerne sollen Zahlungsprobleme haben.
Nach dem Ausbruch von Corona war auch die Nachfrage nach kurzfristigen Konsumentenkrediten im Februar 2020 um umgerechnet 63 Milliarde US-Dollar gefallen. Aber ohne eine Erholung des Bausektors gibt es keine Erholung der Binnenkonjunktur. China pumpt deshalb Geld in Hypotheken- und Konsumentenkredite. Die großen staatlichen Banken haben jetzt für Haushalte die Zinsbelastung halbiert und die Kreditvolumina verdoppelt, dabei gehen sie auch das Risiko von geplatzten Krediten ein (Financial Times vom 23.3.2020). Und ein früherer Bankenaufseher warnte: „Wie kommt es, dass die Nachfrage nach Konsumentenkrediten so groß ist, wenn die Autoverkäufe kollabieren und Ausgaben für den Tourismus fallen? Jetzt borgen sich Haushalte, die mit dem billigeren Kredit teure Kredite zurückzahlen, aber die längerfristig sowieso insolvent werden.“
Chinas Volkswirtschaft erholt sich schneller als die Weltwirtschaft
Bislang hat China zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen von Corona kein Konjunkturprogramm aufgelegt, das in seinen Dimensionen auch nur annähernd vergleichbar ist mit der „Bazooka“ der deutschen Regierung oder der der Vereinigten Staaten (siehe Abb. 1). Nach den vorliegenden Daten belaufen sich Chinas fiskalische Hilfen – hauptsächlich Steuererleichterungen und günstige Kredite für Privatfirmen – umgerechnet auf gerade 1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dagegen machen die Wirtschaftshilfen der US-Regierung über 10 Prozent aus. Gleichzeitig hat Chinas Zentralregierung den Provinzen aber mehr Spielraum für Infrastrukturinvestitionen ermöglicht. Die Zahlen sind allerdings nur bedingt vergleichbar. Denn während etwa in Trumps Konjunkturprogrammen hunderte Milliarden US-Dollar für die Rettung von US-Konzernen etwa in der Luftfahrtindustrie vorgesehen sind, sind viele chinesische Konzerne im Staatsbesitz und haben damit unbeschränkten Zugang zu Krediten der großen staatlichen Banken.
In der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 hatte China noch ganz anders agiert und mit einem massiven Konjunkturprogramm vor allem produktive und Infrastrukturinvestitionen angekurbelt. Damals entstand in wenigen Jahren das größte Schnellbahnnetz der Welt. Der Stimulus sorgte für einen Schub für die Weltkonjunktur, von dem nicht nur die deutschen Exportindustrien, sondern vor allem die rohstoffexportierenden Länder aus Asien, Afrika und Lateinamerika profitiert haben.
Chinas jetzige Zurückhaltung gegenüber erneuten gigantischen Konjunkturprogrammen hat mehrere Gründe: Die Infrastruktur ist im Vergleich zum Westen inzwischen hochmodern. Zum anderen drückt die hohe Gesamtverschuldung vor allem der unteren Staatsorgane und von Staats- und Privatunternehmen. Chinas Gesamtverschuldung liegt bei fast 300 Prozent der Wirtschaftsleistung. Jahrelang hatte das Land seine formidablen Wachstumsraten mit immer höheren Schulden erkauft; aber der immer höhere Kapitaleinsatz brachte immer weniger Ertrag. In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung deshalb die Reißleine gezogen und auf weniger, dafür qualitatives Wachstum umgeschaltet. Dieser Prozess der allmählichen Entschuldung bei reduziertem Wachstum ist noch nicht abgeschlossen.
Chinesische Ökonomen argumentieren, angesichts der Corona-Krise und der weltweiten Rezession müsse jetzt die Gelegenheit für weitere Strukturreformen wie die Reform des diskriminierenden Hukou-Systems und den Ausbau der Sozialversicherungen genutzt werden. Noch sei der Punkt nicht erreicht, an dem die chinesische Wirtschaft wieder ein neues großes Konjunkturprogramm brauche. Damit sind etwaige Hoffnungen unangebracht, dass das Land wie 2008/2009 als weltweite Konjunkturlokomotive fungiert und durch seine unersättliche Nachfrage und durch das gleichzeitige Recycling seiner Devisenüberschüsse an die US-Konsumenten die Weltwirtschaft aus der Corona-Rezession holt.
Aber wahrscheinlich wird sich China als erste große Volkswirtschaft von der Rezession erholen und wäre eine seltene Insel des Wachstums in einer von der Corona-Pandemie verwüsteten Weltwirtschaft. Die Volksrepublik erbringt inzwischen ca. 17 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. 2003, als sich der Sars-Virus in China und Asien verbreitete, betrug ihr Anteil auf Basis aktueller Währungskurse gerade mal 4,3 Prozent. Heute ist die chinesische Ökonomie immer mehr von der Binnennachfrage getrieben und damit stabiler gegenüber äußeren Einflüssen und Handelskriegen. Mit seiner wirtschaftlichen Erholung könnte China dem Restart der Weltwirtschaft nach der Rezession einen festen Boden bereiten, auch wenn auf die Volksrepublik künftig nicht mehr die Hälfte aller Importe von Industrieanlagen oder Rohstoffen weltweit entfallen werden.
Zudem erweist sich Chinas staatlich gesteuerte „Kommandowirtschaft“ in der Krise als sicherer Hafen für Investoren, ob aus dem Land selbst oder aus den internationalen Zentren des Finanzkapitals. Chinas wichtigster Börsenindex, der CSI-300 Benchmark, ist seit Jahresbeginn nur um 12 Prozent gefallen, der amerikanische S&P 500 dagegen um 25 Prozent. Chinesische Anleger haben die Panik der westlichen Märkte vermieden und Unternehmensanleihen sind kaum gefallen. Die Netto-Liquidität der börsennotierten Firmen ist weit höher als im Shareholder-Kapitalismus des Westens, wo Aktienrückkäufe und Dividenden die Cash-Puffer der Firmen aufgezehrt haben (Financial Times vom 1.4.2020). Der Kurs des Renminbi (RMB) ist stabil gegenüber dem US-Dollar, während die Währungen der meisten Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko, Südafrika oder der Türkei mit der Corona-Pandemie regelrecht abgestürzt sind.
China ist inzwischen – trotz seiner Exportrekorde – ein Netto-Kapitalimporteur geworden. Von Jahresanfang bis Ende Februar flossen umgerechnet 13 Milliarden US-Dollar in chinesische Staatsanleihen. Schon jetzt sind Staatsanleihen im Wert von insgesamt 2,27 Billionen RMB (umgerechnet ca. 325 Milliarden Euro) in ausländischem Eigentum. Banker kommentieren: „Globale Investoren werden weiter in Chinas Staatsanleihen investieren. Sie brauchen einen sicheren Hafen, der ihnen wenigstens einen nominellen Ertrag sichert.“ (Financial Time vom 25.3.2020) Denn die People’s Bank of China, die Zentralbank der Volksrepublik, hat ihr Pulver trocken gehalten und für den Krisenfall noch genug Munition in Form von möglichen Zinssenkungen, während die Zentralbanken im Westen einschließlich der EZB nach der weitestgehenden Lockerung ihrer Geldpolitik die Zinsen kaum noch senken können. Dagegen bekommen Anleger und auch chinesische Haushalte noch Zinsen für ihre Ersparnisse.
Schließlich hat die Pandemie nach verschiedensten Berichten die in China im Vergleich zu Deutschland ohnehin schon fortgeschrittene Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft weiter beschleunigt. Alibabas Produkt DingTalk ist im Online-Schulunterricht allgegenwärtig, ebenso WeChat Enterprise des Tencent-Konzerns für die virtuelle Kommunikation am Arbeitsplatz. Die Abstandsregeln wegen Corona und die damit nötigen Änderungen am Layout der Fertigungen haben in Chinas Industrie einen Prozess der weiteren Automatisierung und des Einsatzes von Robotern ausgelöst.
Umbau der China-Lieferketten?
Die Corona-Pandemie hat erneut eine Diskussion um globale Lieferketten und um die exzessive Abhängigkeit von Lieferanten aus China auf die Tagesordnung gesetzt. Denn in Wirklichkeit handelt es sich weniger um international verteilte, sondern meist um chinesische Lieferketten. Das ist gerade bei medizinischen Produkten deutlich geworden: drei Viertel aller Blutverdünner in Italien kommen aus China, 60 Prozent aller von Japan importierten und 40 Prozent der von Deutschland, Frankreich und Italien importierten Antibiotika ebenfalls – von Masken und sonstiger Schutzkleidung gar nicht zu reden.
Aber trotzdem erklärte nur ein Viertel der von der japanischen Handelskammer in Shanghai befragten Unternehmen, sie hätten einen Plan B beim Ausfall chinesischer Lieferanten. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen waren vom Wuhan-Lockdown betroffen. Denn die Provinz Hubei um Wuhan, wo Covid-19 ausbrach, ist eine Hightech-Produktionszone und Sitz von zahlreichen chinesischen und internationalen Firmen. Die sind integriert in die Wertschöpfungsketten der Auto-, Pharma- und Elektronikindustrie. Die Provinz erwirtschaftet 4,5 Prozent von Chinas Wirtschaftsleistung. 300 der 500 weltgrößten Unternehmen haben dort Produktionsstätten.
In dieser Situation lautet das neue Schlüsselwort der Unternehmensberater, die vor ein bis zwei Jahrzehnten das Mantra des Outsourcing und Offshoring gepredigt haben: Resilienz der Lieferketten! Aber der Aufbau von alternativen Lieferanten, dazu möglichst in anderen Weltregionen, ist meist teuer, senkt oft die Produktivität und erhöht die Preise. Bis die neuen Lieferketten funktionieren, kann es Jahre dauern. Zudem ist der chinesische und der asiatische Markt jetzt schon und künftig viel zu wichtig, um nicht dort vertreten zu sein.
Das ist auch der Tenor einer Umfrage des Wirtschaftsmagazins Caixin (vom 16.4.2020) unter Vertretern europäischer Unternehmen in China. Sie erklärten, eine Verlagerung ihrer Fertigungen stehe nicht zur Diskussion. Laut Jörg Wuttke, BASF-Manager und Boss der Europäischen Handelskammer in China, haben die Unternehmen Probleme, Fertigungen zurück nach Europa zu verlagern. Das sei technisch oft sehr komplex.
„America First!“-Beschwörungen und Forderungen nach alternativen Lieferketten sind hohle Worte nach Jahrzehnten neoliberaler Deindustrialisierung im Westen und angesichts einer systematischen Industriepolitik in Ostasien und speziell in China. Das gilt insbesondere für die Automobil- und die Elektronikindustrie. Für den Chef von Pegatron, einem der weltgrößten Auftragsfertiger in der IT- und Elektronikindustrie, gibt es keinen besseren Standort als China mit einem gut ausgebildeten Heer von Beschäftigten und einem einzigartigen Netz von Lieferanten für Komponenten etc. (Financial Times vom 11.6.2019) Das chinesische Öko-System in der Elektronikfertigung ist wiederum engstens vernetzt mit Südkoreas Konzernen Samsung und LG, den weltgrößten Lieferanten für Speicherchips, OLED-Displays und Kameramodulen. Es würde viele Jahre dauern, solche Netzwerke anderswo auf der Welt aufzubauen.
Wolfgang Müller hat mehrere Jahre in Peking gelebt. Zuletzt schrieb er in Heft 4-2020 von Sozialismus.de über „China, der Coronavirus und die Weltwirtschaft“.
Im Sommer 2020 wird im VSA-Verlag sein Buch „Die Rätsel Chinas und das Weltbild des Westens. Digitale Diktatur, Staatskapitalismus oder sozialistische Marktwirtschaft?“ erscheinen.
Der Artikel erschien ursprünglich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Sozialismus.de“. Kostenlose Probehefte und (Probe)Abos können auf www.sozialismus.de bestellt werden.
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