EU in Zeiten von Corona

In Corona-Zeiten schien die „Große Politik“ zunächst ausgesetzt. Das gewaltige NATO-Manöver „Defender“ nahe der russischen Grenze, das eine gezielte Machtdemonstration gegen Russland im 75. Jahr des Sieges über den Hitlerfaschismus sein sollte, wurde wegen Corona vorzeitig beendet.

Die NATO verteilte im Bündnisgebiet Atemmasken und Schutzausrüstung – so erfüllt sie endlich einen friedenspolitischen Zweck. US-Flugzeugträger wurden aus Seuchengründen an die Kette gelegt. Premierminister Johnson war wegen Corona-Infektion im Krankenhaus, um den Brexit wurde es still.

Die Asia Times titelte Anfang Mai: „Wenn es hart auf hart kommt, schiebe jemand anderem die Schuld in die Schuhe!“ Während man erwarten konnte, dass in Zeiten von Covid-19 eine Ära geopolitischer Zivilisiertheit und Zusammenarbeit anbricht, versuchen die USA, China die Schuld für eigene Versäumnisse zu geben, und behaupten, US-amerikanische Krankenhäuser seien Ziele chinesischer Cyber-Angriffe geworden. Die Invektiven gegen China und Russland wurden schärfer. Da wollten auch die Grünen nicht beiseite stehen. Parteivorsitzende Annalena Baerbock warnte auf dem ersten digitalen Parteitag am 2. Mai vor einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union und wachsendem chinesischen und russischen Einfluss in Europa. Sie beschwor ihre Zuschauer: „Nie wieder darf sich ein europäisches Land in seiner Not an China wenden!“ War das nun Kritik an der italienischen Regierung, die Hilfe aus China und Russland angenommen hatte? Oder an der deutschen Regierung, die nach Ausbruch der Pandemie auch gegenüber Nachbarn und EU-Partnern Restriktionen befohlen hatte? Erneut wurde deutlich: Deutsche Außenpolitik unter Beteiligung der Grünen würde zu noch mehr Konfrontationspolitik führen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich dazu aufgerafft, sich für das seuchenpolitische Versagen der EU zu entschuldigen. Wie in der Finanzkrise 2008 war wieder der Nationalstaat zentraler Akteur in Europa. Zu den derzeitigen Annahmen gehört, vor dem Virus seien alle Menschen gleich. Tatsächlich sind wie immer einige gleicher. Auf Orwells „Farm der Tiere“ waren es die Schweine, hier sind es die Deutschen. Entscheidend ist nämlich der Zugang der Erkrankten zum Gesundheitswesen. Hier besteht ein deutlicher Unterschied nicht nur zwischen EU-Europa und dem globalen Süden, sondern auch innerhalb der EU. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation von Mitte April forderte die Pandemie in Italien 203 Tote je eine Million Einwohner, in Spanien sogar 339 und in Deutschland lediglich 31 Tote pro Million Einwohner.

Stolz wird die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems betont. Hier war zwar in den vergangenen Jahrzehnten im Geiste des Neoliberalismus ebenfalls deutlich gekürzt worden, aber nicht so drastisch, wie nach der Finanzkrise von 2008 in den Südländern. Die spanische Außenministerin Arancha Gonzáles Laya betonte, auch ihr Land hatte „früher eine solide Gesundheitsversorgung, aber sie ist heute weniger belastbar, als sie sein könnte“. In Griechenland versetzten die Sparauflagen der „Troika“ während der Schuldenkrise das Gesundheitswesen in einen völlig zerrütteten Zustand – über 20.000 Ärzte wanderten seit 2010 aus. Allerdings hatte es die Regierung bis Mitte April durch sehr frühe und sehr drastische Einschränkungen geschafft, „nur“ 12,5 Covid-19-Tote pro Million Einwohner zu haben. Allerdings muss das Land mit weitreichenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie rechnen: Der Tourismus ist weltweit zusammengebrochen – in Griechenland hängen an dieser Branche 30 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Vor diesem Hintergrund wurde erneut die Idee von „Euro-Bonds“ – gemeinsamen europäischen Staatsanleihen – in Umlauf gebracht, die jetzt „Corona-Bonds“ heißen. Die Frontstellungen innerhalb der Euro-Zone sind wie damals: die Südländer, vor allem Italien und Spanien, drängen – unterstützt von Frankreich – auf deren Schaffung, Deutschland, assistiert von den Niederlanden und Österreich, lehnt das ab. Zwar musste auch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD) einräumen, dass das damalige Hauptargument der Ablehner der Euro-Bonds, diese würden den „Reformeifer“ der Südländer bremsen – die seien an ihrer finanzpolitischen Misere also selbst schuld gewesen – dieses Mal nicht zuträfe, denn für die Corona-Pandemie könne schließlich niemand etwas. Dennoch, „Corona-Bonds“ seien eine „Vergemeinschaftung der Schulden“, und das sei in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Man müsse andere, kreditfinanzierte Formen der finanziellen Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Folgen finden.

Der Literat Robert Menasse verglich vor einiger Zeit die EU mit der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie: „sie war ein multiethnisches Gebilde, vielsprachig, zentral verwaltet von einem hochentwickelten Beamtenapparat in Zusammenspiel mit lokaler Autonomie, träge und oft blockiert durch innere Spannungen, aber doch immer wieder zu großen, aufgeklärten Modernisierungsschritten fähig […]. Sie hatte keine Nationsidee, auch nicht den Anspruch, sich zur Nation zu entwickeln, sie war bewusst ein transnationales Konstrukt, das als gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung prosperierte. Diese war übrigens stark und stabil trotz der großen Unterschiede in den ökonomischen Strukturen der Kronländer, weil es, anders als heute, eine gemeinsame Finanz- und Fiskalpolitik gab.“

Da es in der EU eine gemeinsame Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik nicht gibt, müsste Deutschland als Exportnation und Hauptnutznießer des Euros besondere Rücksicht auf die Partnerländer nehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. Mai der Klage des Euro-Gegners von der CSU, Peter Gauweiler, und des Gründers und früheren Vorsitzenden der AfD, Bernd Lucke, teilweise stattgegeben und den Kauf von Staatsanleihen einzelner EU-Länder durch die Europäische Zentralbank (EZB) in den vergangenen Jahren als „Verstoß gegen das Grundgesetz“ gewertet. Damit stellte es sich ausdrücklich gegen einen gegenteiligen Beschluss des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). Der hatte geurteilt, dass die Ankaufspraxis der EZB vertragskonform ist. Damit hat sich Deutschland, das sich gegenüber anderen EU-Ländern, nicht nur Polen und Ungarn, stets als Sachwalter der europäischen Idee geriert, über das EU-Recht gestellt. Das Bundesverfassungsgericht will „letzte Instanz“ auch der EU sein.

Zugleich ist dies ein Vorgeschmack auf das deutsche Agieren in Sachen finanzieller Abfederung der Corona-Folgen. Alle EU-Länder versuchen derzeit, Hilfspakete zu schnüren – jedes für sich. Die EU-Kommission und die Staats- und Regierungschefs verkünden zwar, gemeinsame Maßnahmen initiieren zu wollen, letztlich aber bleibt es im nationalen Rahmen. Die Finanzpolitik in der EU bleibt an die wirtschaftliche Hackordnung gebunden, ganz oben Deutschland. Das nationale deutsche Hilfspaket (Bund und Länder) angesichts von Corona betrug bereits Anfang April 2020 1,8 Billionen Euro. Deutsche Bundeswertpapiere haben derzeit eine Verzinsung von Null Prozent, sie werden von den US-amerikanischen Ratingagenturen auf der höchsten Stufe „AAA“ eingestuft. Italien dagegen wurde jetzt kurz über „Ramsch-Stufe“ eingeordnet. Jede Kreditaufnahme unter Corona-Bedingungen muss hier mit hohen Zinsen bezahlt werden. Die Staatsschulden Italiens werden auf 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen.

Gemeinsame Anleihen, die Deutschland ablehnt, könnten ein gemeinsamer Ausweg sein. Forderten die Deutschen in der Flüchtlingskrise „Solidarität“, wird sie jetzt erneut verweigert. So bemerkte Eric Gujer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung: „Deutschland will die Führungsmacht Europas sein, verhält sich aber wie dessen Chefbuchhalter.“ Es gibt eine zweite Seuche, sie heißt: deutsche Selbstgefälligkeit.

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