Lieder der „Dubliners“, der berühmtesten irischen Folk Band, erzählen Geschichten vom jahrhundertelangen Kampf der Iren gegen die Engländer. Die britische Politik war eine des Rassismus, aus Gründen der Nationalität und der Religion. Er wird stets definiert von den Herrschenden. Rassismus muss keine Hautfarbe haben. Es ist eine Engführung zu meinen, es ginge vor allem um Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe.
Die Deutschen verachteten jahrhundertelang Menschen aus dem Osten Europas – die alle eine weiße Hautfarbe haben. Die deutsche Germanisierungspolitik nach den polnischen Teilungen bekam so im 19. Jahrhundert eine ideologische Grundierung, die später durch den Antijudaismus verstärkt wurde. Der Tod von 27 Millionen Bürgern der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg war Folge der Vernichtungspolitik des NS-Staates. Hinzu kamen sechs Millionen ermordete Juden und Millionen tote Polen, Serben, Tschechen und viele andere. Die systematische Ermordung der Juden Europas sollte nicht „das Endziel“, sondern „der Ausgangspunkt für viel umfassendere Pläne zur blutigen ‘Neuordnung’ des europäischen Kontinents“ nach den Plänen von SS-Chef Heinrich Himmler sein (Peter Longerich).
Nach 1945 sorgten die Siegermächte dafür, dass die Deutschen umerzogen und ihre politischen Verhältnisse umgestaltet wurden. Aus den Schulbüchern verschwand der Rassismus. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, wurde auch in Deutschland zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Deutschland wurde grundlegend verändert, ist heute ein bürgerlich-demokratischer Staat im Europa der EU, wie die anderen EU-Staaten auch. Antisemitismus gilt in Deutschland heute als nicht artikulierbar, so dass selbst Rechtsextremisten bemüht sind, nicht als Antisemiten ertappt zu werden. Das ist die politische und geistige Voraussetzung für Deutschlands heutige Stellung in der Welt. Dessen ungeachtet muss gerade in der Gegenwart die Frage nach dem Rassismus noch einmal genauer gestellt werden.
Das Buch des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Daniel Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ belegte im Herbst 1996 wochenlang Platz 1 der Bestsellerlisten. Er wertete die Akten über Mitglieder eines Reserve-Polizei-Bataillons aus, das im polnischen Generalgouvernement Juden ausfindig machte, folterte und erschoss oder in Vernichtungslager überstellte. Er stellte dar, dass diese Männer ihre Taten nicht widerwillig oder unter Zwang, sondern freiwillig und voller Eifer begingen. Seine Grundthese war, dass in Deutschland ein „eliminatorischer Antisemitismus“ weit verbreitet war und es nur ein kleiner Schritt war von einer negativen Einstellung gegenüber Juden zum bestialischen Mord. Fachhistoriker nicht nur aus Deutschland widersprachen dieser vereinfachenden These: ohne Hitler und Himmler hätte es den Mord an den europäischen Juden nicht gegeben.
Der in Kanada Soziologie lehrende Y. Michal Bodemann, der zum Judentum in Deutschland gearbeitet hat, machte damals in seiner Rezension auf einen wichtigen Aspekt der Debatte aufmerksam. Das Goldhagen-Buch war in den USA wie in Deutschland in Riesenauflagen verkauft worden, während es in Israel eher skeptisch aufgenommen wurde. Nach Bodemann war der entscheidende Punkt, „dass Goldhagen den Holocaust aus einer betont amerikanischen Gefühlswelt heraus liest. Das erklärt die dortige Popularität seines Buches und relativiert das amerikanische Verhalten etwa in Vietnam. Es lenkt auch ab beispielsweise von der drastisch überproportionalen Verhängung der Todesstrafe gegen schwarze Männer – mittels der humanen Todesspritze natürlich – und der rassistischen Strukturierung der Gesellschaft überhaupt, einschließlich antisemitischer Hetze. Die deutsche antisemitische Mentalität wird als sui generis, unvergleichlich mit jedwedem anderen Antisemitismus deklariert.“ Bodemanns Fazit war: „Der Erfolg des Buches rührt deshalb aus seiner positiven amerikanischen und negativen deutschen nationalen Narration. Es bestätigt einer von Rassismus verseuchten USA, dass der eigentliche, weil in seinen Dimensionen unvergleichbare, Rassismus ein deutscher war“. Eine Debatte über Rassismus in anderen Ländern kann zur Kaschierung der Lage im eigenen Land dienen.
An dieser Stelle ist ein Verweis auf die kapitalistische Weltökonomie nötig. Die Sklavenarbeit bis ins 19. Jahrhundert etwa in den USA und Brasilien, die von Menschen aus Afrika geleistet werden musste, war nicht ein Rückfall in antike Verhältnisse, sondern fester Bestandteil der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die Sklaverei war nicht Folge von Rassismus, sondern der wurde begründet, um einem bereits geschaffenen Ausbeutungssystem eine ideologische Hülle zu geben. Das galt auch für die Arbeit brutal ausgebeuteter Kleinbauern, Knechte und Kulis in Indien und China. In Deutschland kamen die Billiglöhner aus dem Osten – Deutschlands und Europas. Sie alle leisteten Arbeit, die weit unter dem Niveau entlohnt wurde, das in Westeuropa, Deutschland oder Nordamerika üblich war. Die Renditen in den kapitalistischen Zentren beruhen auch heute auf Billigarbeit. China und Indien haben dafür ihre inländischen „Wanderarbeiter“, also Arbeiter, die vom Dorf kommen und in der Stadt unter Bedingungen und zu Löhnen arbeiten, die dortige Arbeiter keinesfalls akzeptieren würden. Unter einer anti-chinesischen Perspektive wird dieses Thema auch von „Linken“ in Deutschland gern aufgegriffen.
Aber solche Billigkräfte gibt es auch im Westen. In den USA sind es – neben den prekär Beschäftigten, vor allem schwarzer Hautfarbe – die illegal im Lande lebenden Latinos. In Deutschland kommen die billigen Arbeitskräfte zumeist aus dem Osten Europas. Menschen aus Bulgarien und Rumänien können als EU-Inländer offiziell einreisen; Menschen aus Albanien, Moldawien oder der Ukraine dürfen das nur zum Teil, ansonsten sind sie oft ebenfalls Illegale, die schon deshalb unter Tarif arbeiten müssen.
Aus der Sicht des deutschen Kapitals haben die „Fremdarbeiter“, die von den deutschen Besatzungsbehörden in den okkupierten Ländern und der SS im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zur Billigarbeit verbracht wurden, und die Ausgebeuteten beim Großschlachter Tönnies dieselbe ökonomische Funktion. Der Unterschied ist nur, die damals wurden mit Gewalt nach Deutschland geschafft und mussten bewacht werden. Die heute kommen freiwillig, auf eigene Kosten, und wollen hier ausgebeutet werden, wegen der miesen Lebensbedingungen in ihrer Heimat. Insofern stehen die heutigen Bedingungen im milden Licht der Demokratie, und die Menschen werden nicht erschossen. Aber die Arbeitsbedingungen sind eklatant schlechter als die der deutschen Eingeborenen.
Wenn wir jetzt Bodemanns Interpretation des Goldhagen-Buches in Bezug auf die USA umkehren, so ergibt sich: Wenn die weltaffinen, städtischen, universitätsorientierten jungen Menschen in Deutschland unter dem Motto: „Black Lives Matter“ gegen „Rassismus“ demonstrieren und die USA meinen oder den Heiligen Mauritius, der Afrikaner war, aus dem Stadtwappen von Coburg (was bereits die Nazis versucht hatten) oder aus der Berliner „Mohrenstraße“ vertreiben wollen, treffen sie den deutschen Rassismus in seinem Kern gerade nicht. Der hat weiter vor allem mit Osteuropa zu tun. Die Bevölkerung in der Umgebung der Tönnies-Schlachtereien wusste um die Arbeitsbedingungen dort. Sie hat zum Teil an den miesen Unterbringungsverhältnissen mitverdient. Und die ach so demokratisch-menschenrechtsorientierten Behörden haben jahrelang nichts getan.
Das Rassismus-Problem von Clemens Tönnies bestand nicht in erster Linie darin, dass er als Aufsichtsratsvorsitzender von Schalke 04 abwertende Sätze über Afrikaner sagte, sondern welchen Bedingungen seine Billigarbeiter aus Osteuropa unterworfen wurden. Das haben die selbsterklärten „Linken“ nicht als Rassismus begriffen. Die Demonstrationen „gegen Rassismus“ unter Rekurs auf „Black“ und die USA tragen eher zur Verhüllung des deutschen Rassismus bei, als dass sie ihn bloßlegen.
Dieser Beitrag von Bernhard Romeike ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage.
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