Militarismus und Sinnkrise im zionistischen Israel

Israel steht vor einem echten Dilemma: Seit einigen Monaten steht die Regierung in Jerusalem unter massivem Druck der internationalen Staatengemeinschaft, den verheerenden Krieg gegen die Hamas in Gaza einzustellen. Sowohl die EU als auch die US-Regierung haben deutlich gemacht, dass ihre bedingungslose Unterstützung für den Krieg zu Ende geht.

US-Präsident Joe Biden gab Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mehrfach zu verstehen, dass es an der Zeit sei, einen neuen Kurs in der Palästina-Politik einzuschlagen. Ausdrücklich sprach er von einem palästinensischen Staat als der nachhaltigen Lösung für den Nahostkonflikt. Andere Staaten haben mit dem Stopp ihrer Waffenlieferung an Israel Signale gesetzt, darunter Kanada, Belgien, die Niederlande
und Italien. Großbritannien will ihnen folgen. Am15. März hat sich sogar der Weltsicherheitsrat zu der Forderung nach einem Waffenstillstand durchgerungen. In den Monaten zuvor hatten immer die USA oder Russland und China eine gemeinsame Resolution blockiert.

Doch Israel besteht auf der Fortsetzung des Krieges. Im Sicherheitskabinett und im Militär herrscht Einigkeit darüber, dass das erklärte Kriegsziel, das Hamas-Regime endgültig zu stürzen, noch nicht erreicht sei und der Kampf daher fortgesetzt werden müsse. Israels Sicherheit sei nur durch die Vernichtung sämtlicher Kapazitäten der Hamas gewährleistet, so die zu Beginn des Krieges ausgegebene Militärdoktrin. Die israelische Armee bereitet sich daher darauf vor, ihre Angriffe mit Bodentruppen auch auf die südliche Stadt Rafah auszuweiten, die an der ägyptischen Grenze des Gazastreifens liegt und als letztes Rückzugsgebiet der Hamas gilt. Und dies, obwohl dort inzwischen 1.5 Millionen Flüchtlinge leben, welche infolge der israelischen Bombardements aus dem Norden vertrieben wurden.

Zionistisches Israel am Tiefpunkt seiner Geschichte

Die Frage, ob das Militär dieses Ziel, die Hamas endgültig zu entmachten und ihr Regime in Gaza zu stürzen, überhaupt erreichen kann, sei an dieser Stelle dahingestellt. Entscheidend ist, dass der Vorwand des Hamas-Vernichtungsfeldzugs verheerende Folgen hat – nicht nur für die unmittelbar betroffenen Bewohner*innen Gazas, sondern weit darüber hinaus und letztendlich auch für Israel selbst: Während das Militär den ungefähr 365 Quadratkilometer großen Streifen in Schutt und Asche legt und praktisch unbewohnbar macht, dabei zehntausende Menschen tötet und abertausende verletzt, befindet sich das zionistische Israel am Tiefpunkt seiner Geschichte.
Tatsächlich erweist sich der Krieg im Gazastreifen fünf Monate nach dem verheerenden Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 als Katastrophe, auch für die Israelis: Die 136 noch verbliebenen israelischen Geiseln werden zur Trumpfkarte von Hamas, um u.a. ein Ende des Kriegs zu erzwingen. Die Familien der Geiseln sind nach monatelangen Protesten für die Befreiung ihrer verschleppten Angehörigen am Rande ihrer Kräfte; ihr Zorn und ihre Verzweiflung richten sich gegen die Regierung Netanjahu, die ihrer Meinung nach nicht genug dafür tut, die Geiseln freizubekommen. In den letzten Tagen wuchsen die Demonstrationen, die nun ausdrücklich den Rücktritt des Regierungschefs fordern, wieder an.

Der Krieg selbst hat aber darüberhinausgehende Auswirkungen. Seit dem 7. Oktober 2023 sind ganze Regionen Israels nahezu entvölkert. Etwa 150.000 Israelis wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land, sowohl aus den Ortschaften rund um den Gazastreifen als auch an der Nordgrenze Israels. Dort wurden ganze Ortschaften evakuiert, nachdem die Hisbollah-Milizen im Libanon Israel mit Raketen und Granaten beschossen. Der Wiederaufbau der zerstörten Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens verzögert sich, die landwirtschaftlichen Betriebe sowohl im Norden als auch im Süden können nicht richtig arbeiten, die
wirtschaftliche Tätigkeit ist praktisch eingestellt, der Tourismus, eine der zentralen Säulen der israelischen Wirtschaft, ist vollständig zum Erliegen gekommen. Vielleicht noch schmerzhafter für die israelische Gesellschaft sind die Verluste durch den Krieg selbst: 250 Soldatenleben sind bisher zu beklagen, dazu kommen Tausende Verwundete. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung ist an einem Tiefpunkt angelangt. Mehr als das: Seit dem 7. Oktober befinden sich die Israelis in der denkbar tiefsten Sinnkrise: das zionistische Staatsprojekt selbst ist in akuter Gefahr.

Das Klima in Israel

Verfolgt man die israelischen Medien, so lässt sich das Klima im Lande nach über fünfmonatigem Kampf mit den Worten des Haaretz-Kommentators Rogel Alpher zusammenfassen (Haaretz.co.il 21.3.2024):
„Die [israelischen] Nachrichten heutzutage zu verfolgen, ähnelt der Situation eines zum Tode Verurteilten, der den Galgen hinter den Gitterstäben seines Zellenfensters betrachtet. Die Schlinge des hängenden Seils ist genau auf die Größe des Halses dessen abgestimmt, was vom liberalen Lager übriggeblieben ist.
[ …]
Es wird immer deutlicher, dass der Krieg völlig gescheitert ist. Es wurde nichts erreicht. […] Und Netanjahu zahlt dafür keinen Preis. Der Wahnsinn wurde zur Routine. Die Konfrontation mit den USA verschärft sich nur noch. Die Evakuierten aus dem Norden sind nicht mal eine Schlagzeile wert. […]
Unsere Sinne sind abgestumpft. Den Israelis bleibt nur noch die Tragödie. Eine weitere Tragödie für die Palästinenser. Alle Bemühungen, die Proteste [gegen die Justizreformen vor dem Krieg], die Versuche, die Worte – alles war vergebens.
Was bleibt am Horizont? Viel mehr Blut. Die Regierung und ihre Führer übernehmen keine Verantwortung [für den 7.10.], sie verweigern den Rücktritt, verweigern die Entschuldigung – all das löst ein schweres Gefühl der Hilflosigkeit aus. Wenn sich der Rauch auf dem Schlachtfeld lichtet und bereits verzogen hat, wird Netanjahu noch immer an der Macht sein, als ob nichts geschehen wäre.“

Und dennoch: wenn die säkularen bzw. liberalen Israelis nach dem 7. Oktober auf die Straßen gehen, um gegen Netanjahu und seine rechtsradikale Regierung zu demonstrieren, protestieren sie eben nicht gegen die Fortsetzung des Kriegs. Dies gilt auch für die Familien der nach Gaza Verschleppten. Diese protestieren zwar zunehmend verbittert gegen die Regierung und fordern einen vordringlichen Gefangenenaustausch, Israels Recht auf die Fortsetzung des Kriegs nach der Heimkehr der Geiseln stellen sie aber nicht in Frage. Dass ein Ende der Kriegshandlungen in Gaza und die Befreiung der Geiseln eng zusammenhängen, bleibt dezidiert ausgeblendet.

Keine politische Sprache gegen den Krieg

Das Phänomen, dass es innenpolitisch kaum Opposition gegen Israels Sicherheits-, somit Kriegspolitik gibt, erklärt sich dadurch, dass das zionistische Israel zivil-militaristisch ausgeprägt ist. Der Kern des Zivilmilitarismus ist der Militarismus der Zivilgesellschaft, also die historisch gewachsene, weit verbreitete Auffassung, der militärische Weg sei unabwendbar, letztlich der effektive für die Staatsverteidigung und damit für die nationale Sicherheit.
Mit dem Zivilmilitarismus gewinnen die staatlichen Eliten und das Militär die geradezu automatische
Zustimmung der Gesellschaft für ihre Sicherheitspolitik, sowohl für die konkreten Kriege und militärischen Einsätze als auch für die allgemeine Kriegspolitik – von der Sicherheitsdoktrin der Abschreckung über die Politik der gezielten Tötung bis hin zu Geheimkriegen und Vernichtungsfeldzügen.
Die Konsequenz dieses israelischen Phänomens ist verheerend für die israelische Gesellschaft – gerade in der aktuellen Lage. Denn der Zivilmilitarismus bedeutet zugleich die Entpolitisierung der Sicherheitspolitik. Trotz ihrer verheerenden Bedeutung für beide Völker in Israel/Palästina wird sie kaum
Gegenstand der öffentlichen Debatte. Die Entpolitisierung der Kriegspolitik geht mit der Entpolitisierung des Konfliktes einher. Tatsächlich ist es dem neozionistischen Langzeit-Premier Benjamin Netanjahu gelungen, die Palästina-Frage aus dem israelischen Diskurs zu verdrängen – wohl bis zum
bösen Überraschungsangriff vom 7. Oktober 2023.

Die mit dem Zivilmilitarismus einhergehende Entpolitisierung bedeutet in letzter Konsequenz die Entmachtung der Gesellschaft gegenüber dem Staat und dem Militär. Dieses heikle Verhältnis zeigt sich
gerade seit dem 7. Oktober in vollem Maße: Die israelische Gesellschaft war noch nie so machtlos
und hilflos dem Staat und dem Militär ausgesetzt, nicht zuletzt deswegen, weil die Israelis keine politische Sprache gegen den Krieg finden. Ein Krieg, der nun nicht nur Israel auf internationalem Parkett
zunehmend zu isolieren droht, sondern der auch die Zukunft des zionistischen Staatsprojektes an sich
bedroht. Denn dieses geriet seit dem 7. Oktober in die tiefste Sinnkrise seiner Geschichte: Das Versagen der Sicherheitskräfte und der Regierung, den Hamas-Angriff auf Israel nicht verhindert zu haben wird mit einem Rachefeldzug des Militärs kompensiert, mit einem Feldzug, dessen erklärtes Ziel fragwürdig, da letztendlich entpolitisiert und zum Scheitern verurteilt ist. Selbst wenn die Hamas entmachtet ist, bleibt die für Israel sehr wohl relevante Palästina-Frage ungelöst.

Israels Dilemma ist also hausgemacht: Der israelische Militarismus führt direkt in die Sinnkrise des zionistischen Israel. Denn die Zukunft Israels kann sich nicht allein militärisch absichern lassen, schon gar nicht durch Vernichtungsfeldzüge gegen die unter Besatzung lebende Bevölkerung. Auch regelmäßige begrenzte militärische Einsätze erwiesen sich als trügerisch für die Abschreckung. Die israelische Sicherheitsdoktrin hat sich am Oktober als nicht tauglich erwiesen, dennoch bleibt sie Grundsatz der Sicherheitspolitik. Der lange Krieg in Gaza wird das Debakel wohl kaum überwinden, vielmehr droht er, die israelische Gesellschaft zu zersetzen und noch stärker zu spalten, als sie es ohnehin ist. Einig ist sich die israelische Gesellschaft nur in einem: Sie unterstützt diesen Krieg, der schließlich nicht nur gegen eine
politische Lösung für die Palästina-Frage geführt wird, sondern letztendlich auch gegen sie selbst.

Ein Beitrag von Tamar Amar-Dahl, Berlin, ist promovierte Historikerin. Die israelisch-deutsche Autorin verfasste u.a.: Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium (2023); erschien auf Englisch mit dem Titel: Israel‘s NeoZionist War Over Palestine: 1993–2021 (2024).

Der Beitrag erschien in gedruckter Variante im Palästina-Journal, dem Magazin der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft

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