Der Dritte Weltkrieg ist zum Greifen nah. Nicht etwa weil es unbedachte diplomatische Momente gäbe, die die Welt in einen militärischen Konflikt hineintaumeln ließen. Vielmehr mangelt es den NATO-Staaten zunehmend an der Bereitschaft, einen Krieg mit Russland um jeden Preis zu vermeiden.
Mehr noch: Die kürzlich im Europäischen Parlament beschlossene Kriegsresolution, die Debatte über die Freigabe von Langstreckenraketen für russische Ziele oder die ab 2026 geplante Stationierung amerikanischer Erstschlagwaffen in Deutschland zeigen: Der Zusammenstoß mit Russland soll offenbar herbeiprovoziert werden. Nur ein deutliches Zeichen aus der Zivilgesellschaft für einen friedenspolitischen Aufbruch böte die Chance, den Kriegskurs der Bundesregierung zu durchkreuzen. Doch widersprüchliche Signale aus der Linkspartei mit dem Ziel, die Mobilisierung rund um 3. Oktober zu schwächen, tragen dazu bei, dass sich das gesellschaftliche Klima weiter reaktionär verschiebt. Teile der Linken erledigen damit das Geschäft der Herrschenden.
Wachsende Blockkonfrontation
In vielerlei Hinsicht stellt der Ukraine-Krieg die Weichen für die nächstgrößere Auseinandersetzung. Er befördert das Auseinanderfallen der Staatengemeinschaft in zwei politisch und ökonomisch konkurrierende Blöcke. Er dient als Laboratorium für die moderne Kriegsführung großer Industrienationen – nicht zuletzt im Hinblick auf eine daten- und drohnenbasierte militärische Auseinandersetzung. Gleichzeitig schärft er die geopolitische Profilierung der NATO und befördert die Militarisierung westlicher Gesellschaften.
Hinter diesen Entwicklungen steht der sich zuspitzende Kampf um die Neuordnung der globalen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse und der drohende Zusammenstoß der Großmächte USA und China. Ob sich dieser Konflikt zu einer militärischen Auseinandersetzung vom Ausmaß eines Dritten Weltkrieges verfestigen wird, hängt nicht zuletzt auch vom Verlauf des Ukrainekrieges ab. Eine verantwortungsvolle Politik der Bundesregierung im Sinne des Grundgesetzes bestünde daher in einer Stärkung von Diplomatie und Entspannungspolitik, um einen militärischen Zusammenstoß zwischen den konkurrierenden Großmächten zu vermeiden. Doch die Ampel tut das Gegenteil: Indem sie ihren Platz an der Seite einer der Großmächte beansprucht, wird sie zur Konfliktpartei und trägt maßgeblich zur entstehenden Blockbildung bei.
Konkrete Kriegsvorbereitungen
Gleichzeitig stellt sie mit Hochdruck die Zeichen auf Krieg. Junge Menschen werden mit falschen Zukunfts- und Aufstiegsversprechen in die Bundeswehr gelockt. Das Gesundheitssystem wird an die Zeitenwende angepasst. In gemeinsamen Symposien arbeiten Ärztekammern und Bundeswehr daran, das historisch begründete verfassungsrechtliche Trennungsgebot zwischen dem zivilen Gesundheitssektor und den Sicherheitsbehörden auszuhebeln. Die zivil-militärische Sicherheit soll intensiviert werden. Zivilschutzübungen und Dekontaminationsausbildungen von Pflegekräften finden bereits auf Truppenübungsplätzen der Bundeswehr statt. Außerdem ist ein Gesundheitssicherstellungskonzept in Arbeit, das die medizinische Versorgung von Soldaten in bislang unvorstellbaren Größenordnungen vorbereiten soll. Die Behandlung ukrainischer Soldaten in deutschen Krankenhäusern findet schon jetzt statt. Dabei soll die Versorgung von Kriegsverletzungen erlernt werden.
Doch damit nicht genug: In Hamburg wird der Hafen zum NATO- und damit zum Kriegshafen erklärt. In Bayern werden Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet, Soldaten in den Unterricht einzuladen. In Berlin werden die Lehrkräfte an den Hochschulen durch das Bildungsministerium mit politischen Listen diszipliniert. Und für den im Konfliktfall wichtigen Post-, Zustell- und Logistikbereich wird im neuen Postrechtsmodernisierungsgesetz durch Bezugnahme auf Paragraph 80 GG das Streikrecht für die dort Beschäftigten eingeschränkt.
Mobilisierung für den Frieden
Nicht grundlos also trommelt seit Monaten die Friedensbewegung für ein kraftvolles Zeichen gegen den wachsenden Militarismus. Obwohl sich große gesellschaftliche Akteure wie Kirchen oder Gewerkschaften bisher nicht zur Friedensdemonstration am 3. Oktober verhalten haben, obwohl der Parteivorstand der Linken die Demo nur mit Vorbehalten unterstützt und obwohl die Vorsitzenden von SPD und Grünen lieber die Militarisierung vorantreiben, als der Friedensbewegung ein infrastrukturelles Rückgrat zu sein, haben die Mobilisierungen Fahrt aufgenommen.
Erste SPD-Unterbezirke und relevante sozialdemokratische Strömungen rufen zur Teilnahme am 3. Oktober auf. Innerparteiliche Zusammenschlüsse aus der Linkspartei organisieren überall im Land Busfahrten nach Berlin. Selbst aus den Reihen der Grünen gibt es öffentliche Kritik am Kriegskurs der Ampel. Es gibt Gewerkschaftsbusse aus Hanau, Würzburg, Jena und Stuttgart. Aus Kassel fährt ein Zug, in dem ein üppiges Platzkontingent reserviert wurde. In Hamburg kommen die Organisatoren mit bereits 500 für die Busfahrt angemeldeten Aktivisten so langsam an ihre logistischen Grenzen. Friedensbewegte Gewerkschafter, linke Sozialdemokraten, gläubige Christen, Frauen, Männer, Junge, Alte, abhängig Beschäftigte, Studierende, Künstler, sogar ehemalige Soldaten – sie alle treibt die Sorge vor der wachsenden Kriegsgefahr, das ungläubige Staunen über das Ausmaß der Militarisierung oder die Kritik an der Einschränkung demokratischer Grundrechte an.
Die Ausscherer: Progressive Linke
Doch in der Linkspartei gibt es eine Gruppe, die mit all dem nichts zu tun haben möchte: die Progressive Linke. Der parteiinterne Zusammenschluss fällt regelmäßig durch politische Fehleinschätzungen und eine diskreditierende Tonlage gegenüber den eigenen Genossen auf. So diffamierte der Bremer Landespolitiker Christoph Spehr innerparteiliche Friedensaktivisten als „pazifistische Bellizisten“. Der Brandenburger Thomas Nord bezeichnete bei einer internen Strategieberatung eine mögliche Schwerpunktsetzung auf die Zeitenwende als „suizidal für die Linke“. Und der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer befürchtet, dass der politische Fokus auf die Lohnabhängigen „mögliche Allianzen mit Multimillionären“ verhindern könnte und lehnt diesen Fokus daher ab.
Es ist also wenig verwunderlich, dass sich ausgerechnet dieser Parteiflügel nun in einer öffentlichen Erklärung von den bundesweiten Mobilisierungsbemühungen der Friedensbewegung und dem Aufruf der eigenen Partei distanziert. Die angeführten Begründungen folgen keiner politischen Analyse, sondern einem moralischen Empfinden. Beklagt wird, dass der Aufruf zum Frieden sich nicht oder nicht laut genug von Putin distanziert. Beklagt wird, dass nicht ausreichend auf das Leid der ukrainischen Bevölkerung Bezug genommen wird. Beklagt wird, dass der Angriff der Hamas am 7. Oktober nicht ausdrücklich verurteilt und die Befreiung der Geiseln nicht explizit gefordert wird. Und natürlich stört sich die Progressive Linke daran, dass die Organisatoren mit Sahra Wagenknecht auf einer Bühne stehen werden.
Das Geschäft der Herrschenden
Was wie moralische Rosinenpickerei aussieht, offenbart in Wirklichkeit eine Haltung, die mit der sozialistischen Tradition der Arbeiterbewegung wenig zu tun hat. Denn das Positionspapier der Progressiven Linken zeigt mit erschreckender Klarheit, wie weit entfernt die Genossen von denjenigen sind, die unter diesem Krieg leiden: Die 12.000 ukrainischen Deserteure, die gegen ihren Willen an die Front geprügelt wurden. Die Arbeiter im Stahlwerk Krywyj Rih, die ihre Umverteilungskämpfe trotz des weitreichenden Abbaus sozialer Rechte in der Ukraine fortführen. Die russische Bevölkerung, die Angst vor den Einschlägen westlicher Langstreckenwaffen hat. Die Berliner Verkäuferin, deren Tariflohn auf dem Niveau von 2016 verharrt, weil in Zeiten von Krieg und Aufrüstung die Tarifpolitik unter Druck gerät und dies vor allem den Forderungen der Arbeitgeber Rückenwind verschafft oder der Pendler in Meck-Pomm, der sich das Deutschlandticket Monat für Monat vom Munde absparen muss, weil die Bundesregierung zur Finanzierung der Zeitenwende den Ticketpreis erhöht.
Diese Distanz gilt im übrigen nicht nur für den Ukrainekrieg. Und das gilt für Gaza. Mit keinem Wort verhielten sich die Protagonisten der Progressiven Linken bislang zu den über 40.000 toten und mehreren 100.000 verletzten Palästinensern. Sie schwiegen, als die ultrarechte Netanyahu-Regierung Flüchtlingscamps bombardieren ließ, als sie Schulen, Universitäten und Krankenhäuser zerstörte. Sie schwiegen, als Netanyahu israelische Zionisten dabei gewähren ließ, an der Grenze zum Gazastreifen Lebensmitteltransporte zu blockieren, während auf der anderen Seite die Kinder verhungerten. Auch zur Pogromstimmung unter jüdischen Siedlern im Norden des Landes hörte man keinen Widerspruch. Ebenso wenig wie zu den führenden israelischen Regierungsvertretern, die die palästinensische Bevölkerung als „menschliche Tiere“ bezeichneten. Wer Moral einfordert, der sollte nicht mit zweifacher Elle messen. Die Empörung über Krieg, Tod und Zerstörung ist richtig. Aber sie sollte die Maßstäbe bei allen gleich anlegen.
Das Geschäft der Herrschenden und Kriegstreiber
Sich immer wieder zu vergewissern, wo genau man im Konflikt zwischen den Klassen steht, ist gerade in diesen unübersichtlichen Zeiten für die Linke existentiell. Wer den Verweis auf die Staatsräson nutzt, um die Kritik am Genozid in Gaza zu delegitimieren, der nimmt die Perspektive von Annalena Baerbock ein, die sich ausdrücklich nicht an die Seite der israelischen Friedensbewegung, sondern an die Seite der ultrarechten Netanyahu-Regierung stellte. Wer Carola Rackete für ihre Zustimmung zur europäischen Kriegsresolution verteidigt, fällt damit weit hinter die Positionen von Olaf Scholz zurück, der die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern wegen der Eskalationsgefahr zurecht stets ablehnte. Wer sagt, eine Teilnahme an der Demonstration am 3. Oktober führe dazu, dass „ein angegriffenes Land mit seinem Leid und seinem Kampf um Souveränität und Selbstbestimmung im Stich“ gelassen werde, der tut es dem Grünen Reinhard Bütikofer gleich und schwächt die Friedensbewegung.
Dass es Scholz und Pistorius in der Zeitenwende nicht zwingend darum geht, dass sich die Ukraine gegen ihren Aggressor Russland verteidigen kann, sondern in erster Linie darum, dass Deutschland zu alter Führungsstärke zurückfindet, machte der Kanzler Ende August 2022 in einer Rede an der Prager Karls-Universität deutlich. Und dass die Ampel zur Durchsetzung dieser Strategie nicht einmal davor zurückschreckt, auf das Goebbels-Zitat „Kanonen statt Butter“ zurückzugreifen und damit auf die Referenz eines ehemaligen Hitler-Vertrauten, um Sozialkürzungen zu rechtfertigen, sollte der Linken ebenfalls dabei helfen, sich im politischen Spektrum zurechtzufinden. Statt also fehlende Empathie, Moral und Haltung im Bündnisaufruf zu beklagen, sollte sich die Progressive Linke entweder stärker mit der Analyse der geopolitischen Entwicklungen befassen oder sich wenigstens fragen, welche Konsequenzen eine Schwächung der Friedensbewegung hätte. Denn ob der Kampf um die Neuordnung der Welt mit einem Krieg einhergehen wird, der das Potential hat, den gesamten Planeten unbewohnbar zu machen, wird von der Stärke der Friedensbewegung abhängen. Distanzierungsbemühungen wie die der Progressiven Linken schwächen die Friedensbemühungen Hunderttausender und stärken den deutschen Militarismus. Sie sind das Geschäft der Herrschenden und Kriegstreiber.