Was bedeutet eigentlich Sicherheit in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise wie der Corona-Pandemie? Und was sind unsere Gesellschaften bereit zu geben, zu tun oder zu unterlassen? Wir erleben gerade eine schockartige, selbstverordnete Auszeit des globalisierten Kapitalismus in einer weltweiten Naturkatastrophe.
Naturkatastrophen haben die Eigenschaft, von den Menschen weder in ihrer Ursache noch in ihrem Verlauf gesteuert zu werden, was sie zum Beispiel von Kriegen oder Wirtschaftskrisen unterscheidet. Die Naturkatastrophe ist nicht durch vorausschauendes politisches Handeln vermeidbar, sie ist nur in ihren Auswirkungen durch richtige Entscheidungen und entschlossenes Handeln begrenzbar.
In Zeiten von Shutdown, #Stayathome, Grenzschließungen und Zusammenbruch der Gesundheitssysteme können Produktion und Konsum nicht weitergehen wie gewohnt. Offen wird diskutiert, was eigentlich nötig ist, um das Leben möglichst vieler Menschen zu retten und was die abstrakte Rettung eines Menschenlebens eigentlich kosten darf. Aber hinter den Kulissen wird bereits um die Nach-Corona-Ordnung gerungen. Die große Sorge des Militärs dabei: Ein veränderter Sicherheitsbegriff in der Bevölkerung könnte zu veränderten politischen Prioritäten führen und damit auch zu einer Zivilisierung dessen, was wir unter „Sicherheit“ verstehen.
Wenn man heute 100 beliebig ausgewählte Menschen danach fragen würde, welche Institution eigentlich entscheidend für ihr Sicherheitsgefühl ist und welche sie deswegen gerne gestärkt sehen wollen, dann wird man nur sehr selten hören: „Die Bundeswehr“. Aber in Militär- und Regierungskreisen wird schon mit Hochdruck daran gearbeitet, dass sich das ändert. So wurde bei der Bundeswehr ein „Einsatzkontingent Hilfe Corona“ mit zunächst 15.000 Mann geschaffen, dessen Aufgaben das Verteidigungsministerium sehr weit fasst. Neben unstrittig sinnvollen Hilfsdiensten für die zivilen Behörden wie Transport von Material oder Patienten, Aufbau von Behelfsunterkünften oder Bereitstellung von Desinfektionsmöglichkeiten sollen die Soldatinnen und Soldaten aber auch Aufgaben übernehmen, die eigentlich der Polizei oder den Ordnungsämtern zustehen, wie etwa „Objektschutz“ oder „Verkehrsdienst“ oder, noch allgemeiner formuliert, „Sicherung“.
Bundeswehr als Krisenhelfer?
Da fragt sich die kritische Leserin doch, was gemeint ist. Sollen etwa Soldaten im Kampfanzug an den Grenzen Einreisende auf Krankheitszeichen kontrollierten? Oder sollen sie bewaffnet Quarantänestationen bewachen, damit niemand rauskommt? Das ist auf jeden Fall abzulehnen! Mit den Notstandsgesetzen von 1968 wurde die Ermächtigung der Bundeswehr auch zum bewaffneten Einsatz im Inneren vorgesehen. Und Anfang April lagen der Bundeswehr 280 Unterstützungsgesuche von Kommunen im Rahmen der Pandemiebewältigung vor, inzwischen wird an 82 Standorten in 15 Bundesländern Personal, Material oder Infrastruktur bereitgestellt.
Der Bedarf an militärischer Unterstützungsleistung offenbart eine massive Schwäche der zivilen Institutionen und Behörden. Im Gegensatz zur Bundeswehr wurden sie in den vergangenen Jahren massiv kleingespart. Personalabbau, Budgetkürzungen, Auslagerung von Funktionsbereichen und Abbau von Strukturen prägen das Bild der öffentlichen Verwaltung wie das des zivilen Gesundheitswesens. Unlängst warb der Sanitätsdienst der Bundeswehr um Personal mit dem Argument, dort hätten Pflegekräfte noch Zeit für ihre Patientinnen und Patienten. Der Rüstungshaushalt nach NATO-Kriterien ist in diesem Jahr auf über 50 Milliarden Euro angewachsen. Dass er auch weiter steigen soll, hat nicht nur NATO-Generalsekretär Stoltenberg, sondern auch Außenminister Maas kürzlich noch einmal betont.
Verteilungskampf um Ressourcen
In einem Thesenpapier des Bundeswehr-Thinktanks GIDS zeigt Prof. Dr. Matthias Rogg die Bedeutung der Corona-Krise für die Bundeswehr auf: Die Krise offenbare nicht nur strategische Defizite im Zivilen, sondern werde auch in der Folge immense Verteilungskämpfe verursachen: „Jede Bürgerin und jeder Bürger, jede Organisation und jede Institution ist betroffen und wird ihre Ansprüche geltend machen. Da der Begriff ‚Sicherheit‘ für die meisten Menschen jetzt und wohl auch in absehbarer Zukunft fast ausschließlich mit gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit in Verbindung gebracht werden dürfte, werden alle Aspekte der militärischen Sicherheit Deutschlands und Europas deutlich in den Hintergrund treten“ – was er fatal findet. Deswegen solle die Bundeswehr sich nun quasi unentbehrlich machen und „ihre Leistungsbereitschaft in der Krise wirkungsvoll unter Beweis stellen.“ Amtshilfe als institutionelle Werbekampagne sozusagen. Und ganz nebenbei soll der Personalbedarf in der Krise auch gleich dazu herhalten, die schon länger brodelnde Debatte um eine allgemeine Dienstpflicht, aka Reaktivierung der Wehrpflicht (nun aber für beide Geschlechter), noch einmal recht heiß aufzukochen.
Was der Professor verschweigt: Gewinnt die Bundeswehr diesen Verteilungskampf, dann wird weniger zur Verfügung stehen, um das Gesundheitswesen zu verbessern, die Versorgung mit strategischen Gütern zu sichern, die ökonomischen und sozialen Krisenfolgen zu lindern und die nächste Katastrophe, die bereits begonnen hat, zu bewältigen: die Katastrophe der Erderwärmung.
Die Corona-Krise zeigt aber auch, dass eine kooperative, friedliche Welt für alle Menschen bessere Lebensbedingungen schafft. Positiv betrachtet kann sie die Kräfte freisetzen, die für die Bewältigung jener anderen, sehr viel anspruchsvolleren und obendrein menschengemachten Katastrophe nötig sind. Dass jetzt, in der Not, Staaten um Hilfe gebeten werden und zur Hilfe bereit sind, mit denen man eigentlich noch in einer Konfrontation steht, ist ein gutes Zeichen. Dass aber auf der anderen Seite weiter geplant wird, mit zig Milliarden Euro neue Atombomber für die Bundeswehr anzuschaffen, ist ein Relikt alten Denkens. Wir brauchen das Geld für Gesundheit, Frieden und soziale Sicherheit. Jeder Euro für Aufrüstung fehlt im Zivilen – für die wirklichen Herausforderungen. Wenn wir gut aus der Krise herauskommen wollen, dann müssen wir uns jetzt mit voller Wucht in den Verteilungskampf mit dem Militär hineinbegeben.
Das ist die Wahrheit, die gesagt werden muss.
Dafür gibt es auch eine Petition des Internationalen Friedensbüros (IPB), die ihr hier unterschreiben könnt.
Eine Antwort
Habe da mal geschaut: Der Oberst (!) und außerordentliche Professor Rogg, abgelöster Kommandeur an einem Bundeswehr-Museum, ist Historiker (Frühe Neuzeit). Frage mich, welche Expertise er hat, in dieser Krise fachkundig Stellung zu nehmen…. Scheint doch nur Profilierung mit Blick auf die eigene Karriere.