Das Problem: Verleugnung, Verharmlosung, Verweigerung oder: warum Seehofer und Kretschmer weg müssen

Man kann im Augenblick keinen Kommentar schreiben, in dem nicht das Wort „Chemnitz“ vorkommt. So wie vor einem Vierteljahrhundert kaum etwas geschrieben werden konnte, ohne“Hoyerswerda“, „Rostock“, „Solingen“ oder „Mölln“ zu schreiben.

Ich frage mich gerade, ob wir in diesen 25 Jahren eigentlich etwas gelernt haben. Was lag eigentlich zwischen Hoyerswerda (1991) und Chemnitz (2018)? Was geschah in diesem Land, um Rassismus und rechtes Gedankengut aus den Köpfen zu verbannen? Erschreckend wenig, offenbar. Rassistische Übergriffe erzeugen stets zwei Reaktionsmuster: Empörung und Wut auf der einen Seite, Verharmlosung und Kleinreden auf der anderen. Erinnert sich noch jemand an Waltraud Scheffler oder Mike Zerna, die in Hoyerswerda 1992 und 1993 von Nazis erschlagen wurden? Mike wäre heute 47 Jahre alt. Er wurde nur 22. Erst 2012 musste ein junges Paar aus Hoyerswerda fliehen, weil es von Neonazis bedroht und in seiner Wohnung überfallen wurde. Nichts, gar nichts, hat sich getan. Nur dass die Nazis sich immer mehr festgesetzt, sich etabliert haben. Dass sie Studienzentren und Verlage gegründet haben, dass sie das Netz manipulieren und Lügen und Hetze verbreiten, dass sie in Bewegungen wie Pegida und bei den Identitären, mit „1%“ und den Reichsbürgern ein immer breiteres Feld von Außenwirkung eingenommen haben. Dass sie ganze Dörfer besetzen und dort Wegweiser nach Braunau am Inn aufstellen und ekelhafte Wandbilder in KdF-Optik produzieren, wie in Jamel.

Und dass mit der AfD nun eine Partei im Bundestag sitzt, die wesentliche Teile der Neonazi­Welterklärung mit bürgerlichem Mantel versehen salonfähig macht.

Das Verleugnen funktioniert immer noch wunderbar. Wenn etwa Sachsens Ministerpräsident Kretschmer behauptet, in Chemnitz habe es keine Hetzjagden und keinen Mob gegeben. Peinlich für ihn: die sächsische Polizei hat inzwischen sechs Personen festgestellt, denen vorgeworfen wird, bei Versammlungen den Hitlergruß gezeigt zu haben. Aufrechte Beamte müssen da den Rechtsstaat gegen eine Obrigkeit verteidigen, die sich allzu gern die rosarote Brille aufgesetzt hätte.

Oder wenn Horst Seehofer behauptet, die Migration sei die Mutter aller Probleme. Das ist Täter-Opfer-Umkehr der schlimmsten Art. Migration an und für sich ist weder Problem noch Lösung. Sie ist einfach ein Fakt, eine Realität, mit der alle Beteiligten irgendwie umgehen müssen. Das Problem ist die Unwilligkeit und die Unfähigkeit, die Menschen, egal ob alteingesessen oder neu gekommen, mit gleichen Maßstäben zu behandeln und ihnen gleiche Rechte zuzugestehen. Das Problem ist, dass eine überfällige Umverteilung von oben nach unten verweigert wird, die allen Menschen ein Leben in Würde garantieren könnte. Das Problem ist die Weigerung der Konservativen, auch nach dem Ende des NSU-Prozesses, auch nach dem Anstieg der rechtsextremen und rassistischen Gewalttaten, auch nach dem Einzug der von völkischen Nationalisten und Rassisten durchsetzten AfD in den Bundestag, endlich einzugestehen: Wir haben ein Problem. Ein Nazi- und Rassismusproblem. Und dafür sind nicht diejenigen verantwortlich, die auf das Problem hinweisen, und schon gar nicht die, die von diesem Problem als Opfer betroffen sind. Sondern alle, die schweigen, wegsehen, sich einrichten. Vor allem aber jene, die sich als Regierende weigern, die Realitäten in Deutschland anzuerkennen und dem Rechtsstaat zur Durchsetzung zu verhelfen. Sie wären diejenigen, die den Demokratinnen und Demokraten den Rücken stärken und den Opfern rassistischer Übergriffe Schutz garantieren müssten, noch bevor sie die Bürgerinnen und Bürger zu Zivilcourage aufrufen. Keine Patentlösung, aber ein erster Schritt wäre in dieser Situation:

Seehofer und Kretschmer müssen weg!

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