Ein spontaner, aber heftiger Streik erschütterte in der vergangenen Woche den belgischen Lidl-Ableger. Die Beschäftigten ertrugen den immensen Arbeitsdruck nicht länger und forderten Entlastung durch mehr Personal. Innerhalb kürzester Zeit streikten die Hälfte aller belgischen Lidl-Standorte. Die Folge: Nach weniger als einer Woche Arbeitskampf lenkte der Konzern am 1. Mai ein und versprach pro Filiale eine zusätzliche Vollzeitstelle. Das Beispiel der belgischen Lidl-Verkäuferinnen und -Verkäufer zeigt: Auch heute noch lohnt es sich, sich gewerkschaftlich zu organisieren und auch unter schwierigen Bedingungen für seine berechtigten Interessen zu kämpfen.
Von Pascal Meiser, Bundestagsabgeordneter der Linken.
Es brodelt schon länger bei Lidl in Belgien. Mit etwa 1.300 Euro netto bei Vollzeit herrschen dort die schlechtesten Löhne im ganzen belgischen Einzelhandel. Trotz der sehr jungen Belegschaft sind Beschwerden über Burnout durch Überlastung an der Tagesordnung. Einsatzpläne, Regelungen zu Überstunden oder Regeln für Springergruppen werden vom Management häufig einfach ignoriert.
Die miesen Arbeitsbedingungen führen zu einem hohen Krankenstand und vielen Beschäftigten, die das Unternehmen verlassen. Sechs Prozent der Belegschaft ist zurzeit dauerhaft, das heißt bereits länger als einen Monat, krankgeschrieben. Letztes Jahr verließen 870 von 6.000 Beschäftigten die Firma. 250 davon waren Vollzeitkräfte, die selbst gekündigt hatten.
Während Verkäuferinnen und Verkäufer nicht nur in Belgien unter solchen Arbeitsbedingungen leiden, ist das Geschäftsmodell für Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz äußerst einträglich. Das Vermögen des reichsten Mannes Deutschlands ist von 2010 bis heute von 10,5 Milliarden Euro auf 37 Milliarden angewachsen.
Die belgischen Gewerkschaften starteten deshalb bereits vor ein paar Jahren Aktionen gegen den Arbeitsdruck und die Personalkürzungen. Doch bis zuletzt ernteten sie vom Lidl-Management nur hohle Versprechungen, für die Beschäftigten änderte sich nichts.
Im April war die Geduld der Beschäftigten endgültig am Ende. In einer Filiale in Oostkamp kam es zu einem ersten kleineren Streik, nachdem das Management dort trotz des bereits bestehenden hohen Arbeitsdrucks einen Kollegen gekündigt hatte.
Johan Lippens von der christlichen Gewerkschaft LBC-NVK prangerte den Fall mit deutlichen Worten an: „Das Management entscheidet sich für eine wahrhaftige Schreckensherrschaft, wo alle ständig Angst haben müssen, vor die Tür gesetzt zu werden.“ Als sich in den darauffolgenden Verhandlungen zwischen dem Lidl-Management und den Gewerkschaften keine Lösung abzeichnete, traten die Beschäftigte in Ans bei Lüttich am 25. April spontan in den unbefristeten Streik. Sie riefen Kolleginnen und Kollegen in anderen Filialen an und forderten sie auf, mit in den Streik zu ziehen. Der vergleichsweise gute, gewerkschaftliche Organisationsgrad von über 55 Prozent zahlte sich aus: Nach einem Tag waren bereits 79 Filialen bestreikt. Der Schneeball war ins Rollen gekommen und nicht mehr zu halten. Am Ende der Woche war etwa die Hälfte aller Lidl-Standorte dicht.
Unter dem Eindruck der spontanen Streikbewegung willigte Lidl noch vor dem Wochenende in Verhandlungen mit den Gewerkschaften LBC-NVK und ACLVB ein, eine zusätzliche Vollzeitstelle pro Filiale zu schaffen – allerdings befristet auf 6 Monate. Doch viele der Verkäuferinnen und Verkäufer hatten die Nase voll von faulen Kompromissen und wollten endlich eine dauerhafte Entlastung. Die sozialistische BBTK-Gewerkschaft, die alleine rund 30 Prozent der Lidl-Beschäftigten vertritt, entschied sich daher dafür, den Streik weiter voranzutreiben. Beschäftigte aus den bestreikten Filialen zogen in den folgenden Tagen zu den Logistikzentren des Einzelhandelskonzerns und hinderten beladene LKW am Verlassen der Warenlager.
Der Druck, den diese Maßnahmen erzeugten, war Lidl offensichtlich endgültig zu viel. Innerhalb kürzester Zeit gab das Management auf und akzeptierte im Grundsatz die Forderung nach einer zusätzlichen Vollzeitstelle pro Filiale, was einer Personalaufstockung von rund fünf Prozent gleichkommt. Die Verhandlungen über einen „Entlastungstarifvertrag“, der die Personalaufstockungen permanent vertraglich festschreiben soll, starten am 15. Mai, und Beobachter sind überzeugt, dass es für das Lidl-Management kein Zurück hinter ihre einmal gemachten Zusagen geben wird.
Mit ihrem mutigen Handeln ist es den belgischen Lidl-Beschäftigten gelungen, die anhaltende Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen ein Stückweit weit aufzuhalten. Mehr noch: Sie sind auch für andere Belegschaften, gerade im Einzelhandel ein leuchtendes Beispiel, das zeigt, was möglich ist, wenn sich Beschäftigte zusammenschließen und für ihre berechtigten Interessen kämpfen. Dazu kann ich nur sagen: Chapeau et merci aux travailleurs de Lidl en Belgique!
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