Licht und Schatten

… in Klaus Dörres Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution

Während es in den USA bereits seit einigen Jahren eine entwickelte Diskussion darum gibt, wie die Alternative zum Wahnsinn des real existierenden Kapitalismus aussehen könnte und dabei keine Scheu besteht, das „S-Wort“, Sozialismus, aufzugreifen, gab es hierzulande bisher allenfalls schüchterne Ansätze. Das neue Buch von Klaus Dörre kommt recht selbstbewusst daher und weckt hohe Erwartungen: „Die Utopie des Sozialismus – Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“.

Der Autor ist in der Linken kein Nobody. Er hat auch in den linkeren Teilen der Gewerkschaften und im linken akademischen Kosmos einen guten Ruf. Sein Anliegen hat Dörre im Klappentext des Buches so beschrieben: „Um wieder Strahlkraft zu besitzen, muss der Sozialismus von seinem dogmatisch erstarrten Anspruch abrücken und wieder zu einer attraktiven Utopie werden. Inhalt dieser Utopie kann nicht mehr die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln hemmender Produktionsverhältnisse sein. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der seine eigene Geschichte und sein vielfältiges Scheitern reflektiert und mitdenkt, steht für die Suche nach einer Notbremse, die einen Zug zum Halten bringt, der mit Hochgeschwindigkeit auf einen Abgrund zurast. Noch aber ist Zeit, die Weichen so zu stellen, dass andere Auswege aus der epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise möglich werden.“

Denkanstöße

Ich finde es erfreulich, dass Dörre im Kapitel „Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben“ ausführlich Bezug nimmt auf Pat Devine und Marcel Laibman. Der britische Marxist Pat Devine hat Ende der 1980er Jahre, in der Zeit der Reformen von Gorbatschow, Grundzüge eines Modells für eine partizipative Wirtschaft, jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft, skizziert. Er nannte dieses System, bei dem der Entscheidungsfindung die Ausregelung der vorhandenen Interessengegensätze vorausgeht, „demokratische Planung auf der Grundlage von vereinbarter Koordination“.

In Pat Devines Modell demokratischer Planung nimmt die Planung die Form eines politischen Prozesses ausgehandelter Koordination an. Weit gefasste Wirtschaftsvorgaben – die solche Fragen abdecken wie Energie- und Verkehrspolitik oder bestimmte Umweltprioritäten – würden auf nationaler Ebene von einer gewählten repräsentativen Versammlung auf der Grundlage verschiedener alternativen von Experten entwickelter Pläne beschlossen. Innerhalb dieses Rahmens würde allerdings das Gros der wirtschaftlichen Entscheidungen dezentral getroffen. Die wirtschaftliche Macht würde an Koordinierungskörperschaften übertragen, die für einzelne Branchen zuständig sind und in denen Delegierte der Belegschaften, Konsumenten, Zulieferer, Abnehmer, relevanter Regierungskörperschaften und betroffener Interessensgemeinschaften sitzen. Diese Koordinierungskörperschaften würden gewährleisten, so Devine, dass Wirtschaftsentscheidungen bewusst gemeinsam im Lichte der Gesamtsituation von allen davon Betroffenen getroffen werden. Marcel Laibmans Aufsatz aus dem Jahr 2002. „Democratic Coordination: Towards a Working Socialism fort he New Century“ geht in eine ähnliche Richtung. Dörre würdigt den Ansatz von Laibman: „Den entscheidenden Mechanismus seines Modells nennt Laibman die „demokratische Koordination“. Sie soll die traditionelle zentrale Planung ersetzen. Koordination statt Planung lautet die Devise, weil das eine genauere Beschreibung jenes Prozesses ist, der den spontanen Markt bei der Allokation der Arbeiten, der Wahl der Produktionstechniken und der Verteilung der Güter nach und nach ersetzt. Planung bleibt jedoch ein entscheidendes Element im Sozialismus und bedeutet nach Laibman, immer größere Teile der Gesellschaft in demokratische Entscheidungen über die wirtschaftliche Entwicklung, die regionale Verteilung ökonomischer Aktivitäten, die soziale Infrastruktur und die natürliche Umwelt einzubeziehen Demokratisch statt bürokratisch-zentralistisch funktioniert der vorgeschlagene Planungsansatz, weil die zentrale Ebene nur eine unter mehreren ist, auf denen die Koordination erfolgt. S. 181

Umstrukturierung zentraler Sektoren

Im Kapitel „Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben“ arbeitet sich Dörre an einigen wichtigen Schlüsselsektoren der Gesellschaft ab. Hinsichtlich des Finanzsektors kommt Dörre zu der Schlussforderung: „Um das zu ändern, muss das Machtzentrum des Finanzkapitalismus zerschlagen und der Bankensektor mit seinen verbleibenden Funktionen in öffentliches Eigentum überführt werden„ Dörre bezieht sich auf Reformvorschläge der Ökonomin Grace Blakeley: Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, einer einmaligen Vermögensabgabe für die großen Geldeigentumsbesitzer und die Einrichtung einer Investitionsbank im Rahmen eines Green New Deal. Er verlangt, dass die Investitionspolitik sich strikt an ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen ausrichten muss. Das sind sinnvolle Einzelmaßnahmen, aber weit davon entfernt, schon einen Kompass für die Ausgestaltung eines wie auch immer gearteten sozialistischen Finanzsektor darzustellen. So erfahren wir von Dörre nicht, was seiner Meinung nach konkret mit der Börse, den Aktienmärkten oder den unzähligen milliardenschweren Investmentfonds passieren soll. Axel Troost ist in einem Aufsatz von Jahr 2011 mit dem Titel: „Den Bankensektor neu ordnen – und mit der Vergesellschaftung beginnen“ konkreter geworden. Er benennt darin „neue Spielregeln für Banken“ 1) und macht Vorschläge, wie relevante Geschäftsbanken vergesellschaftet werden könnten. Deswegen empfehle als Bezugspunkt für die weitere Debatte darüber, wie ein vergesellschafteter Bankensektor ausgestaltet sein könnte, den Artikel von Axel Troost.

In seinen Ausführungen über den Verkehrssektor vermisse ich bei Dörre eine klare Aussage für eine Verkehrswende weg von der Straße hin zu Bus, Schiene und Fahrrad. Nach einer Verkehrswende hin zu einem öffentlichen Verkehr mit Bahn Bus und Fahrrad werden sicherlich deutlich weniger PKWs und LKWs benötigt als heutzutage. PKWs werden wohl noch in Gestalt von E-Taxis oder kommunalen Autopools benötigt, um für die Menschen auf dem flachen Land Mobilität zu ermöglichen, als Dienstfahrzeuge für Servicetechniker*innen oder mobile Dienste. LKWs braucht man/frau wohl noch für die Überbrückung der „letzten Meile“, nachdem der Mittel- oder Langstreckentransport auf der Schiene oder auf dem Wasser erfolgt ist. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Fertigung von PKWs. In den heutigen Autofabriken muss die Produktion von PKWs deutlich heruntergefahren werden. Bis auf einige Sonderfahrzeuge werden nur Kleinwagen benötigt. Protzige Sportwagen und SUVs braucht es nicht.

Im Gegenzug können, ja müssen, erheblich mehr Eisenbahnen, Straßenbahnen, Busse oder Sammeltaxis gebaut werden. Die Produktion von Bussen, aber besonders von Schienenfahrzeugbau ist bekanntlich weniger automatisiert als die von PKWs – was einen positiven Arbeitszeiteffekt hat. Weitere Arbeitsplätze entstehen bei der Bahn und beim ÖPNV dadurch, dass das Serviceangebot deutlich ausgeweitet wird und durch erforderliche Infrastrukturmaßnahmen wie dem Ausbau und der Elektrifizierung des Schienennetzes eine Menge Arbeit anfällt. Sowohl in den Fabriken als auch beim fahrenden Personal muss es eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit geben

Die Konversion der Autoindustrie wird nicht auf der Ebene des Einzelbetriebs zu machen sein. Die gesamte Branche Autoindustrie muss in öffentliches Eigentum überführt werden, um die vielfältigen erforderlichen Maßnahmen miteinander zu koordinieren: Paralleler Ausbau der Bus- und Bahnnetze bei gleichzeitigem Abbau der Kapazitäten in der Autoindustrie. Dazu braucht es eine enge Verzahnung der bisher getrennt, oft gegeneinander arbeitenden Branchen Autoindustrie, Bahnindustrie und Luftfahrtindustrie.“Vorstellbar wäre eine Art „Bundesnetzagentur Mobilität“ mit den Säulen für Individualverkehr, öffentlichen Verkehr, Flugverkehr. Diese „Bundesnetzagentur Mobilität“ könnte auch die Umqualifizierung von bisherigen Beschäftigten der Autoindustrie für die künftigen Aufgaben übernehmen. Bei Dörre fehlen leider solche Vorschläge für grundlegende Strukturveränderungen in Sektor Verkehr vollständig. Ähnliches gilt auch für weitere im Kapitel „Demokratische Planung“ behandelten Bereiche: Energiesektor, Gebäudesektor oder Stadt-Land-Gegensatz. Das sind alles Kernbereiche, für die die Linke überzeugende Alternativkonzepte entwickeln muss. Bisher hat die gesamte Linke in den drei genannten Sektoren allerdings kaum etwas vorzuweisen. Es wird Zeit, dass wir in eine solche Debatte einsteigen. Wenn Dörre Buch dazu einen Anstoß gibt, wäre schon viel gewonnen.

Zangenkrise und fossiler Kapitalismus

Zu Beginn des Kapitels „Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän“ stellt Dörre fest: „Der Kapitalismus muss expandieren, um zu existieren und es ist seine erfolgreiche Ausdehnung, die seine Bestandsvoraussetzungen untergräbt.“ S. 52 Dörre verweist er darauf, dass bereits Marx den Begriff des „Metabolismus“ gebraucht hat. Marx übernahm ihn bekanntlich von dem Chemiker Justus von Liebig. Dörre bringt das berühmte Zitat von Engels aus „Die Dialektik der Natur“, wo Engels feststellt: „Schmeicheln wir uns nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur…Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen , träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie mit ihnen den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze zu erkennen und richtig anwenden zu können. “ S. 60

Dörre spricht zutreffend von einer „ökonomisch- ökologischen Zangenkrise“, in der wir uns befinden. In der Sache ist das nichts anderes als der „fossilen Kapitalismus“, den Ian Angus, ein kanadischer Marxist, in seinem Buch „Im Angesicht des Anthropozäns – Klima und Gesellschaft in der Krise“ beschreibt. 2) Obwohl Dörre und Ian Angus wohl im Kern dasselbe meinen, schlage ich vor, die weitere Diskussion entlang dem Buch von Ian Angus zuführen. Ian Angus beschreibt unheimlich anschaulich, wie der Kapitalismus ein fossiler Kapitalismus wurde – zunächst über den Einsatz von Kohle und Dampf. Dann tritt billigeres Erdöl als Energiebasis und Schmiermittel in den Vordergrund. Für die notwendige Diskussion über die Umstrukturierung von Industriestrukturen liefert Ian Angus reichlich Anschauungsmaterial. Er arbeitet heraus, dass der Aufstieg der Autoindustrie und der industriellen Chemie in ihren verschiedenen Spielarten maßgeblich für die „Große Beschleunigung“, die exponentielle Steigerung des CO2 Ausstoßes, verantwortlich sind. Die Automobilisierung und die Plastikplage sowie der extensive Einsatz von Dünger und Pestiziden in einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft sind es denn auch, deren nachhaltige Umstrukturierung auf unserer To-Do-Liste ganz Oben stehen muss. Sie alle haben ihre Wurzeln im Nachkriegsboom.

Paul Michel arbeitet mit im „Netzwerk Ökosozialismus“. Ein Beitrag des „Netzwerk Ökosozialismus“ wird sein, eine Reihe von Texten von Autoren aus dem englischsprachigen Raum ins Deutsche zu übersetzen und auf der Webseite zugänglich zu machen. Im englischsprachigen Raum (USA, UK, Kanada, Australien) ist die Debatte um Ökosozialismus deutlich weiter entwickelt als in der BRD.

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