Legitimitätsverlust an zwei Fronten

Nicht erst seit dem Rachefeldzug in Folge des 7. Oktober verliert Israel zunehmend an Legitimität. Palästinensischer Widerstand, gepaart mit jüdischem Legitimitätsentzug, werden für den israelischen Apartheidstaat zur existenziellen Gefahr.

Als am 7. Oktober Milizen verschiedener militanter palästinensischer Widerstandsgruppen die Zäune Gazas durchbrachen und militärische Ziele im Süden Israels angriffen, griffen sie auch zivile Ziele an, töteten rund 770 Zivilist*innen und entführten 247, darunter auch Soldat*innen des israelischen Militärs. Widerstandsgruppen deshalb, weil sich Widerstand in erster Linie aus dem Machtverhältnis zwischen Belagerer und Belagerten, oder Besatzer und Besetzten ergibt und nicht aus der individuellen Taktik des Widerstands, welche völkerrechtlich und moralisch legitim sein kann oder eben nicht, wie Judith Butler richtigerweise in Paris vor einigen Wochen besprach.

Sofort wurden Hamas & Co. zur existenziellen Gefahr erklärt, die Israel vernichten und einen Genozid an der israelischen Bevölkerung begehen wollen, um so jedwede Reaktion, egal wie mörderisch, zu rechtfertigen. Das Problem mit diesen Bewertungen ist jedoch, dass Hamas keine existenzielle Gefahr für den israelischen Staat darstellt. Zwar würde die Hamas dem widersprechen, da sie sich als Widerstandsgruppe geschworen hat, den israelischen Staat in seiner jetzigen Form zu vernichten, jedoch gibt es wie so oft auch hier eine Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität.

Der militärische Flügel der Hamas besteht aus etwa 30.000 bis 40.000 Kämpfern, die im Vergleich zu Israels Militär mit rudimentären Waffen ausgerüstet sind. Das heißt nicht, dass Hamas im Einzelfall keine Gefahr für israelische Soldat*innen oder Zivilist*innen darstellt und dem Militär schweren strategischen Schaden zufügen kann. Aus Sicht des israelischen Staates sind Hamas und der Widerstand in Gaza lediglich ein Ärgernis, mit dem man Leben muss, wenn man zwei Millionen Menschen in einem Ghetto einsperrt. Hamas kann weder das israelische Militär besiegen noch die zivile Kontrolle über Israel erlangen, ergo sind sie keine existenzielle militärische Gefahr für Israel.

Ein unsicherer Hafen

Was Hamas jedoch ist, ist eine Gefahr für die ideologische Legitimation und Standhaftigkeit einer ethnonationalistischen Staatsideologie, die behauptet, Israel habe das exklusive Recht auf ganz Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan, und dies damit begründet, dass nur dann Juden und Jüdinnen in Sicherheit leben können. Der 7. Oktober war eine blutige Zurückweisung dieser Logik und Ideologie. Es ist kein Zufall, dass das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der argentinischen Militärjunta Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre ausgerechnet in der Grenzregion zwischen Israel und einem von Israel belagerten und kontrollierten Ghetto geschehen ist.

Die Infragestellung des ‘sicheren Hafens’ Israel durch den gewaltsamen Widerstand der Hamas ist eine Gefahr, die Israel gegebenenfalls mit genügend eifrigen Neuankömmlingen und einem vom Westen ausgestattetem Militär in dem Sinn bewältigen könnte, in dem man den Status quo so gut es geht verteidigt oder wie jetzt in Gaza Widerstand als Vorwand nimmt, neue Fakten zu schaffen, entweder durch Völkermord oder ethnische Säuberungen. Auch dies bedeutet letztendlich einen globalen Legitimitätsverlust, wenn der selbsternannte Staat der Holocaustüberlebenden selbst Täter des Verbrechens aller Verbrechen wird.

Die Unfähigkeit Israels, die eigene Bevölkerung vor Gruppen, die aus einer besetzten und belagerten Bevölkerung heraus agieren, zu schützen, ist jedoch nicht die einzige Gefahr für Israels Legitimität als sicherer Zufluchtsort und “jüdischer Staat”. Eine viel größere Gefahr ist der Legitimitätsverlust innerhalb der jüdischen Communities weltweit. Die Oscar-Dankesrede Jonathan Glazers dieses Jahr war nur der neueste öffentliche Akt dieses Legitimitätsentzugs.

Innerjüdischer Legitimitätsentzug

Was Glazer so besonders macht, ist nicht nur, dass er den Missbrauch seiner jüdischen Identität und die Erinnerung an den Holocaust für Israels Besatzungspolitik öffentlich anprangert, sondern dass er die Preisverleihung für seinen Film The Zone of Interest für diese Gelegenheit genutzt hat. Es ist nicht verwunderlich, dass ein Regisseur, der sich in seinem Holocaust-Film mit der Normalisierung und den Konsequenzen der Entmenschlichung ungewollter Minderheiten beschäftigt, in der gegenwärtigen Politik Israels gewisse Parallelen sieht.

Eine Woche nach Glazers Dankesrede veröffentlichten rund einhundert jüdische Akademiker*innen und Schriftsteller*innen aus den USA einen Brief, der sich offen gegen AIPAC, die größte pro-israelische Lobbyorganisation in den USA, stellt und klar macht, dass die Unterzeichner*innen nur “Kandidat*innen unterstützen, die von AIPAC abgelehnt werden und sich für Frieden und eine neue, gerechte US-Politik gegenüber Palästina/Israel einsetzen”. Schon im Oktober blockierten hunderte jüdischer Aktivist*innen die Grand Central Station in New York City und verlangten einen Waffenstillstand. Vier Tage zuvor hielten 40 muslimische, jüdische und christliche “faith leaders” eine gemeinsame Gebetsstunde im Büro des demokratischen Oppositionsführers des Repräsentantenhauses Hakeem Jeffries und forderten mit ihrem Protest ebenfalls einen Waffenstillstand.

Das Aufsagen jüdischer Trauergebete für palästinensische Opfer der israelischen Besatzung und Politik sind schon seit langem Praxis auf jüdischen Protesten gegen Israel, auf denen Demonstrant*innen ihre Opposition zum israelischen Staat offen mit ihrer jüdischen Identität verknüpfen und ihre Solidarität mit Palästinenser*innen aus dieser Identität herleiten. Es ist diese jüdische Identität einer zum großen Teil neuen Generation, die ihren Antizionismus und ihre Solidarität mit Palästinenser*innen als einen expliziten Teil ihres gelebten Jüdischseins sehen, damit Israel Legitimation entziehen und somit zur existenziellen Gefahr für den “jüdischen Staat” werden. 

Jüdische Opposition mit langer Geschichte

Jüdische Opposition zu Israel und dessen Gründungsideologie gab es jedoch schon, als der Zionismus in seinen Kinderschuhen noch eine Randerscheinung in den jüdischen Communities Europas war. Schon lange vor seiner Staatswerdung 1948 haben viele jüdische Intellektuelle erkannt, was die Konsequenzen eines solchen Ethnostaatsprojekts sein werden. Hannah Arendt sah in den Anfängen Israels Bruchstücke eines ideologischen Fundaments, welches sie am Ende Weimarer Republik schon einmal gesehen hatte, und wurde so bis zu ihrem Lebensende eine überzeugte Vertreterin der Einstaatenlösung, denn nur diese “…würde dem jüdischen Volk zusammen mit anderen Kleinvölkern eine einigermaßen faire Überlebenschance geben”.

Während sich Arendts Position aus ihrer Erfahrung mit dem Dritten Reich informierte, bildeten sich andere Formen der innerjüdischen Opposition zu Israel aus Solidarität. Sie sahen in der Unterdrückung der Palästinenser*innen Parallelen zur jüdischen Geschichte. Zudem erkannten sie, dass Israel mit seiner Politik nicht nur palästinensisches und jüdisches Leben in Palästina und Israel, sondern auch jüdisches Leben außerhalb Israels gefährdet und die Vielfalt des Judentums selbst bedroht, indem es sich nicht nur als Heimat und Repräsentant aller Juden und Jüdinnen sieht, sondern letztlich den vielfältigen, ethnoreligiösen Charakter des Judentums durch einen ethnonationalistischen zu ersetzen versucht, indem es Jüdischsein von der Unterstützung Israels abhängig macht.

Politischer Zionismus, wie andere Formen des Ethnonationalismus, zerstört jene Gesellschaftsstrukturen, die außerhalb des eigenen Geltungsanspruchs liegen: Zerstörung, Vertreibung und Vernichtung einer indigenen Bevölkerung, ihrer Geschichte und Kultur, deren Land es sich selbst im Namen des Schutzes der eigenen Minderheit versprochen hat. Im gleichen Prozess wird die Jahrtausende alte Religion und Ethnie dieser Minderheit von all dem ‚befreit‘, was sich nicht dem eigenen Nationalismus unterordnen lässt. Wer sich dem entgegenstellt, wird zum Verräter und Abtrünnigen erklärt. Diese ureigenen Widersprüche erzeugen unweigerlich Widerstand, nicht nur in der indigenen Bevölkerung, sondern eben auch in der Minderheit, für die dieser Ethnonationalismus vorgibt zu sprechen. Es ist der Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gepaart mit dem aus Solidarität und jüdischer Identität geborene Widerstand einer neuen jüdischen Generation, die Israel letztendlich seine Legitimation entzieht und somit den Anfang des Endes des Apartheidstaats eingeläutet hat.

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