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Klassengesellschaft im Wandel

Finanzmarktkapitalismus und Sozialstrukturentwicklung

Das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hat in seiner wechselhaften Geschichte verschiedene Gestalten angenommen. Immer dann, wenn seine Kritiker/innen annahmen, dass ihm Grenzen des Wachstums oder eine schwere Wirtschafts- beziehungsweise Finanzkrise endgültig zum Verhängnis würden, häutete sich der Kapitalismus, änderte in kürzester Zeit seine Form und entfaltete auf diese Weise häufig genug sogar eine neue Dynamik.

Von Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Um die Charakteristika des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums der Kapitalakkumulation im Vergleich zu früheren Epochen wie „Handels-“ und „Industriekapitalismus“ herauszustellen, spricht man vom „Finanzmarktkapitalismus“, für den Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art typisch sind. Gewandelt haben sich vor allem die technologischen Grundlagen (Computerisierung, Digitalisierung und Automatisierung) sowie die internationalen Rahmenbedingungen (Ende des alten Ost-West-Gegensatzes und Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht).

Im digitalen Finanzmarktkapitalismus erfolgt sowohl eine beschleunigte Akkumulation wie auch eine bisher unbekannte Konzentration des privaten Reichtums. Und welche Veränderungen hat die Sozialstruktur der kapitalistischen Gesellschaft seither erfahren? Sie ist zwar im Kern erhalten geblieben, der Finanzmarktkapitalismus ist aber durch eine noch krassere Ungleichheit als der industrielle Monopolkapitalismus gekennzeichnet, was sich in den herrschenden Produktions-, Eigentums- und Klassenverhältnissen niederschlägt.

Neoliberalismus und „Entfesselung“ der Finanzmärkte

Digitalisierung wird oft als „Vierte Industrielle Revolution“ begriffen, mit der sich vor allem Sorgen um die Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verbinden. Tatsächlich basiert der digitale Finanzmarktkapitalismus weniger auf der fabrikmäßigen Ausbeutung lebendiger Arbeit als auf der spekulativen Verwertung angehäuften Kapitals. Gleichwohl handelt es sich in Deutschland nach wie vor um eine entwickelte Industriegesellschaft, deren Reichtum wesentlich auf der Herstellung langlebiger Konsumgüter beruht. Schließlich kann sich die Finanz- nicht von der Realwirtschaft entkoppeln, wie manche Kritiker/innen des Spekulationskapitalismus offenbar meinen.

Nur in der Realwirtschaft entstehen Güter und Dienstleistungen, die als Waren gehandelt werden, sowie objektive Werte beziehungsweise Überschüsse, während in der Finanzwirtschaft alles, was ein Kapitalanleger, Finanzjongleur oder Spekulant durch den Rückgriff auf exzellente Informationen, gute Nerven und erfolgreiches Agieren hinzugewinnt, (einem) anderen verloren geht. Daher rührt auch der auf John Maynard Keynes zurückgehende Name „Kasinokapitalismus“ für dieses Nullsummenspiel, das an Roulette erinnert. Die US-amerikanischen Ökonomen Robert Frank und Philipp Cook haben den Kapitalismus schon in den 1990er-Jahren als „Winner-take-all“-Gesellschaft charakterisiert, was besonders drastisch im Geschäftsleben sichtbar wird. Wenn einer alles gewinnt, gibt es natürlich zahlreiche Verlierer, was sich in einer zunehmenden Polarisierung der Sozialstruktur manifestiert.

Weder die Gier der nach Boni lechzenden Investmentbanker noch der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Risikofreude der Spekulanten und der Geiz von Großinvestoren können erklären, warum die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland einem Rekordstand zustrebt. Entscheidend war die neoliberale Hegemonie, also die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus. Dabei handelte es sich zunächst um eine Wirtschaftstheorie, die zu einer Sozialphilosophie, ja zu einer Weltanschauung und politischen Zivilreligion wurde. Ungleichheit gilt Neoliberalen als positiv, weil für den „Wirtschaftsstandort“ produktiv. Nicht bloß die Unternehmen, sondern auch öffentliche und karitative Einrichtungen sollen genauso wie die Gesellschaft insgesamt betriebswirtschaftlich effizient sein. Neoliberal zu sein, beschränkt sich jedoch nicht darauf, für eine Liberalisierung der Finanzmärkte, eine Deregulierung des Arbeitsrechts und eine Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse zu plädieren. Vielmehr beinhaltet es auch eine Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Dienstleistungen, der kommunalen beziehungsweise Staatsunternehmen und der sozialen Risiken.

Transformation der Ungleichheit

An die Stelle der Realinvestition ist häufiger die Finanzspekulation getreten, was erhebliche Konsequenzen sowohl für die Wirtschaftsarchitektur und die Sozialstruktur wie auch für die (Un-)Kultur des Kapitalismus hat. Der dieser Wirtschaftsordnung immanente Drang einer Minderheit von Kapitaleigentümern nach Gewinnmaximierung einerseits und der Zwang einer großen Mehrheit zum Verkauf ihrer Arbeitskraft andererseits sowie die Tendenz zur relativen Verarmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung gehen Hand in Hand.

Folglich stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich die Ungleichheit durch Prozesse wie Globalisierung, Finanzialisierung und Digitalisierung gewandelt hat. Hinsichtlich der Konzentration des privaten Vermögens, der Ausnahmestellung des Bodeneigentums und der Rolle des Luxuskonsums ähnelt der Finanzmarktkapitalismus am ehesten dem Feudalismus, der allerdings nicht wie jener durch eine ökonomische und gesellschaftliche Polarisierung, sondern durch eine ständische Hierarchisierung der Sozialstruktur gekennzeichnet war.

Da große Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen entweder Hard- und Software für andere bereitstellen oder sich ihrerseits zu Internetplattformen entwickeln, ist auch die auf den kanadischen Philosophen Nick Srnicek zurückgehende Bezeichnung „Plattformkapitalismus“ sehr geläufig. Die unter dem Akronym „Gafa“ zusammengefassten Firmen Google, Amazon, Facebook und Apple bilden zusammen mit dem Hard- und Softwareentwickler Microsoft (deshalb heißt es manchmal auch „Big Five“ oder „Gafam“) den elitären Kreis der westlichen Digitalkonzerne.

Mit dem neuen Akkumulationsregime eng verbunden sind die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, weshalb man es – vielleicht noch präziser – als digitalen Finanzmarktkapitalismus charakterisieren kann. Auf dieser Grundlage sind Hochfinanz und High-Tech eine Verbindung zum gegenseitigen Vorteil eingegangen.

Entwicklung der sozialen Klassen im Finanzmarktkapitalismus

Natürlich verändern sich die Klassenverhältnisse einer Gesellschaft, wenn sich die Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder tiefgreifend wandeln. Mit dem Übergang vom industriellen Monopol- zum digitalen Finanzmarktkapitalismus war eine Fragmentierung und Polarisierung der Sozialstruktur beziehungsweise eine stärkere Ausdifferenzierung der einzelnen Klassen beziehungsweise Schichten verbunden. Die skizzierten Strukturveränderungen haben zu erheblichen Machtverschiebungen zwischen den Klassen, aber auch innerhalb derselbigen geführt. Obwohl es zu keiner grundlegenden Neuformierung der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse gekommen ist, haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zulasten der Letzteren verändert. Durch die bewusste Stärkung der Finanzmärkte potenzierte sich der Reichtum, während die Armut aufgrund der vorprogrammierten Wirtschaftskrisen in die Mitte der Gesellschaft hinein expandierte.

Zwar hat die „Entfesselung“ der Finanzmärkte nicht zu einer grundlegenden Transformation der Sozial- beziehungsweise Klassenstruktur geführt. Durch die Symbiose zwischen Finanzwirtschaft und Internetökonomie ist aber eine ausgesprochen vermögende Oligarchie entstanden, die mittlerweile innerhalb der Bourgeoisie als herrschender Klasse dominiert. Auf den Finanzmärkten mehren die Hochvermögenden ihren enormen Reichtum, ohne dass sie dafür eine nennenswerte (Arbeits-)Leistung erbringen müssten. Vielmehr handelt es sich um anstrengungslose Vermögenszuwächse, die sämtlichen Kriterien meritokratischer Lehrsätze diametral widersprechen.

Außerdem hat der Kapitalismus in seinem jüngsten Entwicklungsstadium ein Heer von Gehilfen des Finanzkapitals entstehen lassen, die extrem hoch bezahlt sind, ohne gesellschaftlich Sinnvolles zu tun. Zu den Berufsgruppen, die aus gesellschaftlicher Sicht weitgehend überflüssig erscheinen, gehören beispielsweise Investmentbanker, Broker, Fondsmanager, Wirtschaftsprüfer und Versicherungsmakler. Offenbar nimmt der Bedarf an Menschen, die im Umfeld der Großwirtschaft und des Börsenparketts eher parasitäre Tätigkeiten wie Unternehmens-, Anlage-, Vermögens- und Steuerberatung ausüben oder als Marketing-Expert(inn)en, Finanzdienstleister/innen, Analyst(inn)en und PR-Manager/innen fungieren, mit dem Hyperreichtum weniger Familienclans exponentiell zu.

Reich wird am schnellsten, wer mit dubiosen Finanzprodukten (Derivaten, Futures und Optionen) handelt, auf den internationalen Kapitalmärkten mit hohem Risiko investiert und erfolgreich an den Börsen spekuliert. Wetten auf die Kursentwicklung von Anleihen, Aktien, Devisen und Rohstoffen bestimmen das Geschehen auf den entfesselten Finanzmärkten. Deren wichtigste Akteure sind (Investment-)Banker, Broker und Börsianer. Dagegen gehören Millionen (Langzeit-)Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senior(inn)en und Migrant(inn)en von Beginn an zu den Verlierer(inne)n, weil sie gar nicht mitspielen (können) und die schwächste Position in einer vom Neoliberalismus dominierten Gesellschaft haben.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Heute erscheint sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ im PapyRossa Verlag (183 Seiten, Ladenverkaufspreis: 14,90 Euro).

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