Keine Mauer, sondern eine Brücke: Macron, Le Pen und die Falle der „republikanischen Front“

Während französische Politiker und Parteien ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen 2022 in den Wahlkampfmodus schalten, deuten Umfragen stark darauf hin, dass die Stichwahl zwischen dem aktuellen Präsidenten Emmanuel Macron und der rechtsextremen Anführerin des Rassemblement National (RN) Marine Le Pen stattfinden wird. Im Vergleich zum letzten Mal, als sich diese Kandidaten gegenüberstanden, hat sich der Abstand zwischen ihnen deutlich verringert: 2017 besiegte Macron Le Pen mit 66:34, während eine aktuelle Umfrage von Harris Macron mit 53:47 vorne sieht.

Mit der wachsenden Bedrohung, dass Frankreich im nächsten Jahr eine faschistische Präsidentin wählen könnte, wurde die Strategie der so genannten republikanischen Front wieder abgestaubt und von einer Reihe von Politikern und Medienvertretern verbreitet. Die Zeitung Le Monde schreibt: „Die republikanische Front muss wiederbelebt werden“. Christophe Castaner, aktueller Abgeordneter und ehemaliger Innenminister unter Macrons Regierung, rief ebenfalls zu einer republikanischen Front gegen den RN auf und erklärte in einem Interview, dass es die Aufgabe seiner Partei sei, „zu zeigen, was die Front National [der frühere Name von Le Pens Partei] wirklich ist und dass ihr ‚frischer Anstrich‘ im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen eine Fassade ist, die nicht ihrer Realität entspricht“.

Die republikanische Front ist die bestehende Vereinbarung zwischen den französischen politischen Parteien, die darauf abzielt, die Machtübernahme der extremen Rechten zu verhindern. Im französischen Zwei-Runden-Wahlsystem – bei dem die beiden populärsten Kandidaten aus dem ersten Wahlgang in einer zweiten Runde in einer Stichwahl gegeneinander antreten – fordert die republikanische Front, dass alle Kandidaten und Parteien, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, den nicht-rechtsextremen Kandidaten unterstützen, wenn die Rechtsextremen in die zweite Runde kommen. Die republikanische Front half, den faschistischen Jean-Marie Le Pen, Marines Vater, zu besiegen, als er 2002 gegen den konservativen Jacques Chirac in die letzte Präsidentschaftsrunde einzog. Die republikanische Front hat Macron 2017 zum Sieg gegen Le Pen Junior verholfen. Und Macron und seine Partei La République En Marche! (Republik in Bewegung, LREM) werden auf dasselbe Engagement zählen, um Le Pen auszugrenzen und nächstes Jahr erneut den Sieg zu erringen.

Doch der knappe Vorsprung zwischen Macron und Le Pen zeigt, dass dieses Engagement vielleicht nicht so stabil ist, wie etwa im Jahr 2002, als Chirac Le Pen Senior mit einem eindeutigen Ergebnis von 82 Prozent zu 18 Prozent besiegte. Castaner sprach dieses Zögern an und kritisierte diejenigen, die erwägen, weder für Macron noch für Le Pen zu stimmen: „Diejenigen, die für Weder-noch [weder Macron noch Le Pen] plädieren, haben weder Mut noch Ehrlichkeit“.

Es ist interessant, dass Castaner Ehrlichkeit predigt. Als Innenminister hat er die Medien darüber belogen, dass regierungsfeindliche Gelbwesten-Demonstranten 2019 ein Krankenhaus gewaltsam angriffen (Faktencheck: Die Gelbwesten suchten in dem Krankenhaus Schutz vor den Gummigeschossen und dem Tränengas, die die Polizei auf Castaners Befehl hin auf ihren Protest abfeuerten). Mehr noch als Castaners Heuchelei täuscht seine Andeutung, Macron würde nicht nur eine Alternative, sondern gar ein Bollwerk gegen die rechtsextreme Bedrohung darstellen, über die Tatsache hinweg, dass der Präsident rechtsextreme Ideen im Mainstream willkommen heißt.

Macron und seine Regierung haben die letzten achtzehn Monate damit verbracht, unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den „politischen Islam“ und den „Separatismus“ eine bösartige, islamfeindliche Kampagne gegen Frankreichs muslimische Bevölkerung zu führen. Als im Jahr 2020 ein Lehrer von einem Teenager ermordet wurde, weil er in einem Klassenzimmer rassistische Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte, nutzte Macron den Mord als Waffe, um eine Kampagne gegen den Islam zu beschleunigen, die er mindestens seit dem Jahr zuvor geführt hatte, als er die französische Gesellschaft aufrief, sich gegen die „Hydra des Islamismus“ zu vereinen. Macron hat seit langem erkannt, dass seine Hauptkonkurrentin die rechtsextreme Le Pen ist: Anstatt sich dafür zu entscheiden, die Rechtsextremen zu bekämpfen, indem sie sich ihren rassistischen Positionen zum Islam und zur Einwanderung entgegenstellen, haben Macron und sein Team die Argumente der Rechtsextremen verfochten und ihre Ideen normalisiert.

Tatsächlich griff Macrons Innenminister Gérald Darmanin in einer Fernsehdebatte mit Marine Le Pen im März Le Pen an, weil sie in der Frage bezüglich des Islam zu „weich“ sei – weicher, so Darmanin, „als wir es je sein könnten“. Im November lösten Macron und Darmanin das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) auf. Von Darmanin als „islamistisches Büro gegen die Republik“ beschrieben, war das Kollektiv eigentlich eine liberale Bürgerrechtsorganisation, die die Rechte von Muslimen in Frankreich verteidigte und dokumentierte, dass die muslimische Community routinemäßig Ziel polizeilicher und staatlicher Repressionen wird.

Macrons politische Angriffe haben damit nicht aufgehört. Jeder, der an einer Demonstration gegen Islamophobie teilnahm, wurde als Islamo-Linker abgestempelt. Der Minister für Hochschulbildung, Frédérique Vidal, ging noch weiter und kündigte eine „Untersuchung“ des Ausmaßes des offensichtlichen Einflusses der Islamo-Linken auf französische Universitäten und Akademiker an. Darmanin erklärte, er sei „schockiert“ über getrennte Gänge für Halal- und koschere Lebensmittel in Supermärkten und er impliziert, dass getrennte Gänge selbst Separatismus hervorbringen. Macrons Partei verbot sogar eine muslimische LREM-Kandidatin, weil sie auf einem lokalen Wahlkampf-Flyer einen Hijab trug.

Die nationale Studentengewerkschaft stand im Fokus des Zorns der Medien, weil sie autonome Treffen von People of Color abhielt, während die Hysterie über „anti-weißen Rassismus“ die Medien beherrschte. Macrons Bildungsministerium verbot die Verwendung von geschlechtsneutraler Sprache in Schulen – weniger eine Verteidigung der Integrität der französischen Sprache, als vielmehr ein getarntes Signal für die extreme Rechte, für die jeder Versuch, traditionelle Geschlechternormen zu untergraben, ein schleichender „kultureller Marxismus“ ist.

Während sich das französische Establishment seit langem klar zu Israel bekennt und routinemäßig die Kritiker des Landes des Antisemitismus bezichtigt, ging die Macron-Regierung kürzlich noch weiter. Letzten Monat traf Darmanin die außergewöhnliche Entscheidung, in Paris geplante Palästina-Solidaritätsproteste präventiv zu verbieten. Die Polizei verhaftete den Leiter einer Solidaritätsorganisation Frankreich-Palästina wegen seiner Rolle bei der Organisation eines Protests.

Macrons antiliberaler Marsch gipfelte dieses Jahr in dem sogenannten Gesetz gegen Separatismus. Aus dem Büro des Präsidenten kommt die Information, dass es bei dem Gesetz, das sowohl die französische Nationalversammlung als auch den Senat bequem passiert hat, nicht darum geht, Muslime ins Visier zu nehmen, sondern diejenigen, „die sich im Namen einer falschen oder rekonstruierten Vision einer Religion auf eine Weise verhalten, die der Republik zuwiderläuft“. Doch selten verlässt das Wort „Separatismus“ Macrons Lippen, ohne dass das Wort „Islamist“ es begleitet.

Das Gesetz macht die muslimische Bevölkerung Frankreichs eindeutig zum Sündenbock, mit Maßnahmen wie dem Verbot von „Zeugnissen der Jungfräulichkeit“ – eine demütigende Geste, die Muslime als frauenfeindlich und antiliberal darstellt. Noch besorgniserregender ist, dass es Beamten und sogar Auftragnehmern, die für den öffentlichen Dienst arbeiten, unter Androhung von Geld- oder Gefängnisstrafen verboten ist, irgendeine politische oder religiöse Meinung zu äußern – einschließlich des Tragens religiöser Kleidungsstücke wie des Hijabs.

Das Gesetz erlaubt auch die Schließung von Gebetsstätten, die „Hass predigen“. Kürzlich wurde der Bau einer Moschee in Straßburg gestoppt, nachdem die bauende türkische Organisation Milli Gorus sich weigerte, die „Charta des französischen Islams“ zu unterzeichnen, eine weitere Säule in Macrons Kampagne gegen Separatismus. Darmanin erhob Klage gegen den Bau der Moschee und gegen den von den Grünen geführten Straßburger Stadtrat wegen der Finanzierung einer Organisation, die „den politischen Islam unterstützt“.

Frei nach dem Chef der Sozialistischen Partei, Olivier Faure: Macrons Schutzwall gegen die extreme Rechte ist eine Brücke. Macron nimmt die Stimmen der Linken als selbstverständlich hin und versucht, Le Pens wachsende Basis zu untergraben, indem er klassische rechtsextreme Positionen übernimmt. Doch das hat Le Pens Popularität offenbar nicht geschmälert. Selbst junge Menschen bewegen sich auf die rechtsextreme Anführerin zu: 30 Prozent der 25- bis 34-Jährigen unterstützen sie, 2017 waren es noch 23 Prozent.

Macrons Brücke heißt nicht nur Le Pen willkommen: Sie erstreckt sich auf eine allgemeinere rechtsextreme Gegenreaktion, die sich in der französischen Gesellschaft zusammenbraut. Eine Gruppe pensionierter Generäle hat einen offenen Brief verfasst, in dem sie den „Zerfall“ Frankreichs aufgrund des politischen Islams und der „Horden“ von Einwanderern an den Stadträndern beklagen. CNews, ein rechtsgerichteter Sender, den Kritiker als französisches Fox News bezeichnen, hat Rekordeinschaltquoten und rechte Provokateure wie Éric Zemmour erhalten ein Podium, um Migranten und Muslime anzuprangern.

Ein reaktionärer Marsch von Polizeibeamten gegen Gewalt am Arbeitsplatz im letzten Monat war ebenso eine Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Bewegung des letzten Jahres und ihr Schlaglicht auf die französische Polizeibrutalität wie auf die kürzliche Tötung eines Polizisten. Statistiken zeigen immer wieder, dass die Unterstützung für die extreme Rechte innerhalb der Polizei höher ist. Eine Tatsache, die Darmanin sicherlich motivierte, als er den getöteten Polizisten als „Held im Krieg gegen Drogen“ verherrlichte und der Polizei den edlen Titel „Soldat“ verlieh.

Trotz alledem verlangt die Logik der republikanischen Front, dass die Opfer von Macrons linksextremem, antimuslimischem und arbeiterfeindlichem Amoklauf ihn 2022 dennoch wählen sollten – um die rechtsextreme Bedrohung abzuwenden.

Ohne die Heftigkeit zu unterschätzen, was ein Sieg von Le Pen für viele der Unterdrückten in Frankreich bedeuten würde, ist die antiliberale Gesellschaft, vor der Macron sie schützen soll, unter seiner Führung bereits eingetroffen. Wenn Le Pen gewinnt, dann nicht trotz Macrons Bemühungen – es wird sein, weil Macron und seine Regierung alles getan haben, um zu beweisen, dass sie nicht „weich“ sind.

Dieser Artikel von Chris di Pasquale erschien zuerst auf Redflag und wurde von Sophie Wallner für Die Freiheitsliebe übersetzt.

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