Jeremy Corbyn, die Reform der Europäischen Union und die Erneuerung der Sozialdemokratie

Die bisherigen Argumente gegen den Brexit sind überwiegend negativ geprägt. Sie sind meistens auf die Nachteile fokussiert, die der Brexit für Großbritannien mit sich bringt. Wir sind hingegen der Auffassung, dass es vielmehr an der Zeit ist, eine Diskussion darüber zu führen, welche Vorteile für Europa mit einer Labour-Regierung, die innerhalb der Europäischen Union agieren kann, verbunden sind und darüber hinaus für die Lösung von Problemen der Globalisierung.

Der Artikel erschien ursprünglich in der Zeitschrift „Sozialismus“, die ein monatlich erscheinendes Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken ist. Kostenlose Probehefte sowie (Probe-)Abonnements können auf www.sozialismus.de bestellt werden.

Jeremy Corbyn hat in seinen Reden richtigerweise hervorgehoben, wie notwendig es ist, multinationale Konzerne zu besteuern, die Volatilität der Finanzmärkte zu kontrollieren, den Klimawandel anzugehen und globale Konflikte zu beenden. Um all diese Maßnahmen durchzusetzen, bedürfte es aber zumindest einer extrem engen Zusammenarbeit zwischen einer Labour-Regierung und der EU. Diese wäre aber wiederum von einem hohen Maß an Einvernehmen unter den EU27 abhängig, welches vor dem Hintergrund der (angebrachten) Kühnheit mancher dieser Vorhaben unwahrscheinlich erscheint.

Eine Labour-Regierung müsste daher einen Kampf für diese Vorhaben in ganz Europa unmittelbar anführen. Letztendlich bedeutet dies, eine Massenbewegung für diese Ziele durch Zusammenarbeit mit anderen Parteien und sozialen Bewegungen zu schaffen, um einen neuen politischen Konsens zu formen. Die Zustimmung, die Corbyn auslöste, als er auf einer Konferenz der Sozialdemokratischen Partei Europas und der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament sprach,[1] verdeutlicht die Möglichkeiten für einen radikalen Wandel in Europa. In Zeiten, in denen sich Labours Schwesterparteien in der Krise befinden und nach einer neuen Ausrichtung und frischen Ideen lechzen, befände sich eine von Corbyn geleitete Regierung in der einmaligen, womöglich nie wiederkehrenden Position, tiefgreifende Veränderungen in Europa anzuschieben.

Die EU befindet sich in einem Zustand des Wandels, ihre politischen Zielsetzungen bezüglich Freihandel, Globalisierung, Friedensschaffung und der Umwelt definieren sich neu. Fortschrittliche Ergebnisse für ganz Europa würden durch Labours Vorangehen ungeheuren Auftrieb erfahren.

Sollte die Labour Party einen verheerenden Tory-Brexit zulassen, würde sie ihre Chance verlieren, diese umgestaltende Rolle für Europa und das UK wahrzunehmen. Anstatt sich darauf konzentrieren zu können, auf nationaler und internationaler Ebene den Reformbewegungen den entscheidenden Schwung zu geben, wäre eine Labour-Regierung nach dem Brexit vollauf mit dem vergifteten Erbe der Konservativen Partei beschäftigt: der Abwehr der Attacken der großen Wirtschaftsblöcke und der Finanzmärkte sowie der Rückabwicklung der mit Trump und dergleichen abgeschlossenen Handelsabkommen. Es steht tatsächlich viel auf dem Spiel. 

Was ist die EU?

Brexit-Befürworter der Tories stellen die Europäische Union gerne als einen Nationalstaat im Entstehen, als potentiellen „Superstaat“ dar. Das gibt aber nicht ausreichend wider, was sie zurzeit ist oder zu was sie noch werden kann. Trotzdem ist die EU keine typische zwischenstaatliche Organisation wie die Vereinten Nationen. Sie ist ein neuer Typ politischer Institution – eine internationale Gemeinschaft von Staaten, wie es sie so noch nirgendwo anders gibt. Sie vereint die Grundsätze enger Zusammenarbeit zur Umsetzung gemeinsamer Ziele mit supranationalen Entscheidungsprozessen in einem umgrenzten, aber langsam wachsenden Bereich. In den Feldern, in denen die EU sich auf eine Zusammenarbeit geeinigt hat, besteht eine umfassende demokratische Rechenschaftspflicht, sowohl gegenüber den nationalen Mitgliedsstaaten als auch gegenüber dem direkt gewählten Europäischen Parlament. Da dieser Prozess sich grundlegend von anderen internationalen Organisationen wie dem IWF oder der Weltbank unterscheidet, stellt er eine bahnbrechende Entwicklung dar: Globale ökonomische und politische Mächte, die andernfalls unkontrolliert blieben, werden einer demokratischen Kontrolle unterstellt. Viele Stellen in der ganzen Welt betrachten dieses Modell daher als Teil eines globalen Demokratisierungsprozesses.

Schon während des Zweiten Weltkriegs begannen Mitglieder des Europäischen Widerstandes Pläne für ein vereintes Europa zu schmieden, auf dass sich Krieg, Faschismus und Imperialismus nicht wiederholen würden. Das Manifest von Ventotene, 1941 verfasst von Altiero Spinelli, Ursula Hirschmann, Ernesto Rossi und anderen, während sie unter Mussolini inhaftiert waren, ruft zu einer Bewegung für ein freies und einiges Europa auf, in dem der revolutionäre Sozialismus die Arbeiterklasse befreien sollte.[2] Spinellis Name steht auf der Tür zum Europäischen Parlament, und das Manifest inspiriert noch immer viele auf dem ganzen Kontinent, auch wenn mittlerweile andere politische Kräfte die Europäischen Institutionen dominieren. Zu den frühen Bewunderern und Unterstützern eines Sozialistischen Europas gehörten auch andere, die im Widerstand gekämpft hatten wie Albert Camus und George Orwell, der 1947 schrieb: „Die Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa erscheinen mir heute als das einzige erstrebenswerte politische Ziel.“ (Towards European Unity). Dies ist das vergessene radikal sozialistische Erbe des europäischen Projektes.[3]

Die Hauptmechanismen, die die Völker Europas in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg zusammenbrachten, waren ökonomischer und sozialer Natur – Infrastruktur für Kohle und Stahl, Regionalfonds, eine gemeinsame Agrarpolitik. Eine neue Welle des Europäismus prägte das Ende des Kalten Krieges. Dies war allerdings auch der Zeitpunkt, an dem der Neoliberalismus begann, Keynesianische Ideen zu verdrängen. Der Vertrag von Maastricht von 1991 stellte einen Kompromiss dar zwischen dem Europäismus von Jacques Delors, dem damaligen Präsidenten der Kommission, mit dem Einsatz für Frieden, Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit auf der einen Seite und dem Neoliberalismus von Margaret Thatcher auf der anderen Seite. Der Neoliberalismus und die Deregulierung erhöhten die Verflechtung der Volkswirtschaften und Gesellschaften in einem hohen Maße, andererseits führten sie zu einer extremen Ungleichverteilung und Prekarität. Wollen wir die Kontrolle über das internationale Kapital übernehmen und Reichtum und Wohlstand neu verteilen, so schaffen wir dies nur gemeinsam.

Das Europäische Projekt hat ohne Zweifel zur Globalisierung des freien Marktes beigetragen – es hält aber auch Mittel bereit, um diesen Prozess zu bändigen. Europäische Verordnungen haben schon einigen Exzessen unternehmerischer Macht entgegengewirkt, sie haben aber das Potential, noch weiter zu wirken, indem sie die Beziehung zwischen öffentlichen Gütern und privatem Nutzen neu justieren und so wesentliche soziale, ökologische und ökonomische Probleme unserer Zeit in Angriff nehmen.

Eine Art die EU zu verstehen ist, sie als ein neues Modell globaler Ordnungspolitik zu begreifen – eine regionale Institution, die in der Lage ist, die Entwicklung der Globalisierung zu formen, indem sie das erreicht, was Staaten im Alleingang nicht erreichen können. Die EU hat die Kompetenz, globale „Kollektivübel“ zu besteuern bzw. zu regulieren (z.B. Steueroasen sperren, Finanzflüsse regulieren, Kohlenstoffemissionen kontrollieren) und globale Kollektivgüter voranzubringen (Ungleichheit überwinden, Frieden in Konfliktzonen schaffen, ressourcenschonende Infrastruktur aufbauen).

Zurzeit unterstützen die politischen Eliten in Europa eine neoliberale Ideologie, wie es sich in der griechischen Krise ausgedrückt hat, und ziehen deshalb den freien Verkehr von Waren und Geld der Wohlfahrt und der Umwelt vor. Die Errichtung einer Währungsunion ohne ausreichende demokratische Kompetenzen zur ökonomischen Kontrolle derselben führte zu institutionellen Belastungen, die die aus dem neoliberalen ökonomischen Denken resultierenden Probleme bündeln.

Heutzutage gibt es Bewegungen und Parteien in ganz Europa, die die Vorherrschaft des Neoliberalismus in Frage stellen. Richten wir den Blick auf das Beispiel der Regierung in Portugal, die den Weg für eine Alternative zur Austerität bereitet und für eine Reform der Eurozone arbeitet. Unter der Führung von António Costa von der Sozialistischen Partei gab das Land die Austeritätspolitik auf, mit dem großartigen ökonomischen Effekt, dass man im ersten Quartal 2017 ein wirtschaftliches Wachstum in doppelter Höhe des Eurozonen-Durchschnitts verzeichnen konnte. Costas Regierung passte das Defizit an die Eurozonen-Regeln durch erhöhte Steueraufkommen, nicht durch Kürzungen, an, und die Arbeitslosigkeit wurde reduziert.[4]

In einem EU-Land nach dem anderen werden Sparsamkeitsdoktrinen und krasse soziale Ungleichheiten angeprangert wie niemals zuvor. Auf EU-Ebene werden wichtige neue strategische Ansätze diskutiert, unter anderem die Schaffung einer Europäischen Arbeitsbehörde zur Kontrolle von Arbeitsmarktverstößen und eine neue Säule sozialer Rechte zur Stärkung der sozialen Dimension des europäischen Projekts. Eine Corbyn-Regierung könnte sich als ein Vorbild für eine radikale neue Agenda und als nachhaltig unterstützender Verbündeter für die angestrebten Veränderungen positionieren. Sie könnte auf EU-Ebene eine Politik vorantreiben, die soziale Gerechtigkeit und Demokratie auf der regionalen Ebene, insbesondere in Großbritannien, ermöglicht.

Europäische Reformen

Innerhalb der EU wird derzeit in vielen Bereichen über den zukunftsweisenden Weg debattiert. Es ist höchst unsicher, welche Richtung die Union einschlagen wird, aber eine von Jeremy Corbyn geleitete Labour-Regierung innerhalb der EU könnte sehr wohl den Ausschlag für eine progressive Entwicklung geben. Folgende Themen sind aus unserer Sicht in der nächsten Zeit für den europäischen Reformprozess vorrangig:

  • die Besteuerung multinationaler Akteure,
  • die Regulierung der Finanzflüsse und Kontrolle der Banken,
  • der Schutz von Arbeitsmigranten,
  • die Regulierung des digitalen Rechtsraums und die Entwicklung einer digitalen Governance,
  • der Klimawandel,
  • der Umgang mit globalen Konflikten,
  • die Probleme eines „offenen Europas“,
  • die Frage der Staatssubventionen,
  • die Reform der Eurozone.[5]

Besteuerung multinationaler Akteure

Die Europäische Kommission hat bereits einige Schritte eingeleitet, um unternehmerischer Macht entgegenzutreten. Durch die Anwendung bestehenden Kartellrechts ist sie Googles unfairer Wettbewerbspraxis entgegengetreten. Der Konzern wurde mit einer Geldstrafe in Höhe von 2,4 Md. Euro belegt, nachdem er heimlich zahlende Anzeigenkunden in manchen ihrer generellen Suchergebnisse aufgeführt hatte. Sie treibt aber auch Vorschläge bezüglich neuer Regelungen voran, die sicherstellen würden, dass Technologieunternehmen Steuern zahlen, wenn sie innerhalb eines Mitgliedsstaates wirtschaftlich aktiv sind, sollten sie auch keine tatsächlichen Büros dort unterhalten.

Viel wichtiger aber noch sind die Bemühungen, die Unternehmensbesteuerung innerhalb der EU zu harmonisieren, was als Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftssteuer bezeichnet wird. Diese Maßnahme hat Großbritannien immer strikt abgelehnt, sie ist aber wesentlich, um Steuerparadiese zu schließen. Die Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftssteuer würde ein einziges Regelwerk zur Kalkulation von Unternehmenssteuern innerhalb der EU bedeuten. Staaten könnten dann ihren Unternehmenssteuersatz erhöhen, ohne befürchten zu müssen, dass ein großes Unternehmen den Firmensitz in ein anderes Land verlegt. Diese Vorschläge sind nicht nur denen von Corbyns Labour Party sehr ähnlich, Großbritanniens Teilnahme an dem Programm wäre außerdem wesentlich für deren Erfolg, da so nicht mehr die Möglichkeit besteht, dass London zur Steueroase wird, während die EU die Forderungen ihrer Bürger nach der Regulierung großer Unternehmen anerkennt.

 

Regulierung der Finanzflüsse, Kontrolle der Banken

Die Vorschläge der EU zur Bankenreform konnten die Zwangsjacke ihrer krisenbedingten Politik noch nicht ablegen. Sie sehen einen neuen Kommissar für Wirtschaft und Finanzen und eine stärker abgestimmte Unterstützung des Bankensektors vor. Eine Labour-Regierung müsste an dieser Front hart kämpfen und sich mit Partnern wie der griechischen und der portugiesischen Regierung und den deutschen Sozialisten verbünden, um eine kühnere Agenda durchzusetzen. Die EU-Vorlagen zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer wurden bisher allerdings mehrfach durch die britische Regierung blockiert, diese zog deswegen im Jahr 2013 sogar vor den Europäischen Gerichtshof. Unter der Führung der Labour Party könnte die britische Unterstützung dieses Vorhaben endlich ins Rollen bringen und für seine rasche EU-weite Einführung sorgen.

Dies wäre vor dem Hintergrund der derzeitigen Unsicherheit betreffend die Finanztransaktionssteuer besonders wichtig. Eine negative Konsequenz des Brexits ist, dass dieser den Spielraum und die Anreize für eine „beggar-thy-neighbour“-Politik vergrößert hat, wodurch in Bezug auf Regulierung und Besteuerung ein Wettrennen nach unten bevorsteht, da Finanzzentren wie Paris und Frankfurt aus London abwandernde Geschäfte für sich gewinnen wollen. So hat beispielsweise die niederländische Regierung großen Unternehmen Steuervergünstigungen angeboten, um einen Anreiz für einen Standortwechsel zu ihren Gunsten zu schaffen.[6]

Zwischenzeitlich hat Macron Vorschläge bezüglich der Transaktionssteuer gemacht, deren Umsetzung ihre Wirkung dadurch merklich schmälern würden, dass Terminmärkte, die einen Großteil der Finanztransaktionen ausmachen, von ihr ausgenommen werden sollen.[7]

Kurz gesagt birgt der Brexit durch den Ausschluss Großbritanniens vom Binnenmarkt das Risiko eines Wettbewerbs nach unten. Demgegenüber könnte eine Labour-Regierung mit einer Agenda des „Bleibens und Reformierens“[8] eine unverzichtbare Rolle dabei spielen, diese Tendenzen in ihr Gegenteil umzukehren und eine radikale Politik im Hinblick auf eine Finanzregulierung voranzutreiben.

Reform der Eurozone

Die Reform der Eurozone ist wesentlich für die Zukunft Europas. Großbritannien hat ein klares Interesse daran, dass die europäischen Institutionen an einem Weg des nachhaltigen, investitionsgeleiteten Wachstums arbeiten und aus der Zwangsjacke der Sparmaßnahmen ausbrechen. Dankenswerterweise zeichnen sich einige Veränderungen in Europa ab. Macron sprach davon, dass es ein gemeinsames EU-Budget für die Eurozonenländer, einen stärkeren Schuldenerlass für die Länder der Peripherie, die in einer Schuldenkrise stecken, und einen größeren Schwerpunkt bei der Solidarität zwischen den Staaten statt finanzpolitischer Sparmaßnahmen braucht. Labours deutsche Schwesterpartei, die SPD, diskutierte ebenfalls die Notwendigkeit einer progressiven Reform der Eurozone, bei der der Fokus auf Risikoverteilung statt auf Sparzwänge gelegt werden soll.

In Portugal hat die linke Regierung zukunftsweisend den Weg einer investitionsgestützten Alternative zur Austerität eingeschlagen, woraus eine starke wirtschaftliche Leistung resultierte – was das Muster bestätigt, dass diejenigen Staaten, die die strengsten Sparmaßnahmen auf sich genommen haben, sich seit der Krise 2008 am wenigsten erholt haben. Trotz dieser Initiativen ist es weiterhin höchst unsicher, ob eine Reform der Eurozone ernsthaft progressiv sein wird oder doch eher einen finanzpolitischen Käfig untermauert: Für jeden Vorschlag zugunsten von mehr Solidarität kommt von rechts ein Vorschlag zugunsten der Austerität.

Maßnahmen, die die Austerität durch Solidarität ersetzen und damit die unmittelbaren Bedürfnisse der Eurozone befriedigen würden, liegen im Rahmen der Möglichkeiten der politischen Entscheidungsträger, sofern der politische Wille gegeben ist.[9]

Erstens muss die EU die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts radikal überdenken, die dogmatische und destruktive Verpflichtung, Defizite unterhalb 3% des BIP zu halten, abschaffen und ein System erschaffen, innerhalb dessen sich Länder, die Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaften, dazu verpflichten, Löhne und Ausgaben zu erhöhen, um so sicherzustellen, dass die Preise dort schneller steigen als in den Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten.

Zweitens sollte im Rahmen der Bewegung weg von der Austerität hin zum investitionsgestützten Wachstum ein EU-weiter Solidaritätsfonds eingerichtet werden, um sicherzustellen, dass Erträge des Wachstums innerhalb der Währungszone gleichmäßig verteilt werden.

Drittens sollte durch die Einführung von Eurobonds, die in der Verantwortung der gesamten Eurozone liegen, das System abgeschafft werden, in dem Länder sich Geld in einer Währung leihen müssen, die sie nicht kontrollieren.

Viertens sollte die EU darauf eingestellt sein, eigenständig Geldmittel für transnationale Investitionsprojekte durch die Europäische Investitionsbank aufzubringen, Investment-Bonds auszugeben und eine gemeinsame Staatskasse zu errichten.

Fünftens muss die Lohnangleichung nach oben als Grundprinzip der Politik und Hauptziel des neuen Arbeitskommissars etabliert werden.

Und sechstens sollten die nationalen Regierungen dazu angeregt werden, eigene investitionsgestützte Strategien für ein nachhaltiges Wachstum als Teil eines EU-weiten Konzepts zur Förderung von Innovation zu entwickeln – und nicht davon abgehalten werden.[10]

Ohne der Eurozone beizutreten, könnte eine Labour-Regierung diese politischen Zielsetzungen vorbehaltlos unterstützen. Für die britische Wirtschaft und Labours neue Wirtschaftsstrategie ist es unabdingbar, dass sich Europa auf den Weg Richtung nachhaltigem Wachstum macht. Corbyns Labour Party muss darauf bestehen, dass die dogmatischen und sozial destruktiven Bedingungen, die die reicheren Eurozonenländer dem griechischen Volk wegen einer Finanzkrise aufgezwungen haben, die zu großen Teilen dem unverantwortlichen Verhalten von Banken in Nordeuropa und den USA geschuldet war, so nie wiederholen werden. Da Großbritannien in hohem Maß das gescheiterte neoliberale Wirtschaftsmodell „miterfunden“ und seine Übernahme in ganz Europa vorangetrieben hat, würde eine radikale Abkehr von dessen Agenda hier für sich schon einen Schlag für die wenigen verbleibenden Unterstützer der Austerität innerhalb der EU bedeuten. Ganz offensichtlich besteht eine historische Gelegenheit für die europäische Politik, die die Linke durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit nutzen muss.

Demokratie in Europa

Im Mittelpunkt des Brexit-Votums und des Slogans der Brexit-Befürworter „Take back control“ stand ein Gefühl von Ohnmacht und Frustration – dies wird sich noch verschlimmern, sollte der Brexit tatsächlich erfolgen. Die oben beschriebenen politischen Zielsetzungen haben hingegen alle zum Ziel, die EU-Staaten selbst zu stärken und auf Ebene der Regionen und Kommunen demokratische Institutionen von Bedeutung zu errichten. Hierzu ist ein politischer Richtungswechsel auf europäischer Ebene erforderlich, sowohl eine Verschiebung von rechts nach links, als auch von nationaler Politik zu gesamteuropäischer Politik. Um das letztgenannte Ziel zu erreichen, müssen wir eine Debatte über Demokratisierung führen, nicht nur eine, die sich auf die weitergehende Demokratisierung der EU-Institutionen bezieht, sondern auch darauf, wie Europas Rolle bei der Bändigung der Globalisierung helfen kann, eine substantielle Demokratie auf allen Ebenen wiederherzustellen. Unter substantieller Demokratie verstehen wir die Fähigkeit der Bürger, die Entscheidungen, die ihre Leben betreffen, zu beeinflussen. Die Kontrolle der globalen „Kollektivübel“ (wie Finanzspekulation oder das Verhalten multinationaler Konzerne) ermöglicht eine Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene, näher an den Bürgern.

Es ist nicht möglich, die schädlichen Auswirkungen, die eine unregulierte Globalisierung und ein Kasino-Kapitalismus auf Gemeinschaften und Individuen haben, zu stoppen, indem man aus der EU austritt. Im Gegenteil, einfache Bürger werden die Möglichkeit verlieren, an Entscheidungen mitzuwirken, die die größten Probleme, die ihr Leben beeinflussen, betreffen. Wir konnten bereits beobachten, wie der Vorbereitungsprozess des Brexits zu einer beispiellosen Machtkonzentration bei der Regierung geführt hat, außerhalb der Reichweite des Parlamentes und der Bürger. Dies wird sich im Falle des Brexits nur verschlimmern, mit einer Regierung, die dazu in der Lage ist, geheime Handels-, Verteidigungs- und Industrieabkommen zu verhandeln und dabei womöglich Rechte zu unterhöhlen, die bisher von der EU gewährleistet wurden. Das ist das Gegenteil von „taking back control“. Jeremy Corbyn hat richtigerweise Theresa Mays Slogan „citizens of the world are citizens of nowhere“ (»Bürger der Welt sind Bürger im Niemandsland«) zurückgewiesen, indem er darauf hinwies, dass britische Bürger Weltbürger sein müssen, wenn sie ihre Ziele erreichen wollen. Wir müssen weitergehen und sagen, dass der Brexit an sich für uns die Gefahr birgt, Bürger im Niemandsland zu werden.

Um eine gehaltvollere Demokratie auf lokaler Ebene zu erreichen, ist es auch notwendig, die „Demokratiedefizite“ der EU anzugehen. Es gibt bereits Vorschläge für ein demokratischeres Europäisches Parlament – von Präsident Macron, der vormaligen italienischen Regierung, den deutschen Sozialdemokraten sowie vom Parlament selbst und der Kommission. Man muss anerkennen, dass das Europäische Parlament in den letzten Jahren seit dem Vertrag von Lissabon bedeutend gestärkt wurde, es hat mittlerweile in den meisten Bereichen die gleichen Entscheidungsbefugnisse wie der Europäische Rat.

Im Kampf um die Demokratisierung der EU wird die Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen. Die Mobilisierung der Bevölkerung gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) mit den USA und das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) mit Kanada hat die Europäische Kommission dazu gezwungen, sich bei zukünftigen Handelsverhandlungen zu mehr Offenheit und Transparenz zu verpflichten.

In den letzten Jahren ist ein breites Spektrum an Bürgerbewegungen, die sich für eine demokratischere EU, die sich auf die Rechte und das Wohlergehen der Bürger und Menschen konzentriert, aus dem Boden geschossen. Dazu zählen die European Alternatives, die Kampagne für eine Europäische Republik, DiEM25, Blockupy und die Refugees-Welcome-Initiativen. Gleichzeitig werden Städte und lokale Demokratien durch neue bürgerliche politische Kräfte bestärkt, von Barcelona bis Neapel, und diese kommunalen Bewegungen arbeiten daran, Städtenetzwerke zu bilden und die regionale und urbane Politik innerhalb Europas neu zu formen.

Eine Labour Party, die in Europa vorangeht, sollte sich mit diesen Initiativen verbünden und diese unterstützen. Sie kann ihre Kräfte nutzen, Wandel innerhalb der Institutionen herbeizuführen und diese dabei zu unterstützen, die Gesellschaft auf progressive Weise außerhalb der Institutionen zu verändern.

Die Logik dieser kollektiven Stärke zwischen Bürgern und Arbeitern, gepaart mit einem entschlossenen parlamentarischen Reformismus und starken Stadtverwaltungen ist Teil des Erbes der britischen Labour Party, das die Parteiführung um Corbyn neu belebt hat. Diese Strategie muss sie in Partnerschaft mit ihren Schwesterparteien auf eine europäische Ebene bringen, um den Bürgern die demokratische Kontrolle über die Zukunft ihres Kontinents zu geben.

Neue Agenda des „Bleibens und Reformierens“

Viele der herausfordernden Probleme, mit denen die EU sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sieht, sind schlichtweg Begleiterscheinungen des gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Kontextes: der Notwendigkeit eines Übergangs zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft, sich mit den sozialen Auswirkungen eines rapiden technologischen Wandels und mit den demographischen Problemen, die eine alternde Bevölkerung mit sich bringt, auseinanderzusetzen. Keines dieser Probleme kann aus der nationalen Isolation heraus angegangen werden, und sie alle bedürfen kühner politischer Lösungen und einer neuen Denkweise. Doch in einer Zeit, in der die Bearbeitung allein dieser Probleme viel Kraft und Entschlossenheit erfordert, ist die EU zu oft abgelenkt von „selbstgemachten“ Problemen. Durch die „Doppel-Krise“, hervorgerufen durch das Versagen in Bezug auf die Reform der Eurozone und die Stilisierung der humanitären Krise am Mittelmeer zur Sicherheitskrise, steht die EU vor einer existenziellen Herausforderung. Auch wenn die Gründe für das Brexit-Votum vielschichtig sind und es in der britischen Nachkriegsgesellschaft nie einen permissive consensus, eine schweigende Akzeptanz der europäischen Integration gab, so sind doch Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die Eurozonen-Krise der Wendepunkt vom „Bleiben“ zum „Verlassen“ war.[11] Der Reputationsverlust der EU in Bezug auf ihre wirtschaftliche Kompetenz untergrub die Argumentation für die Mitgliedschaft bei einigen Wählern, die unter anderen Umständen den Verbleib in der EU mitgetragen hätten.

Mit anderen Worten ist das Versagen, ein Europa zu schaffen, das auf den Werten von sozialer Gerechtigkeit und Zusammenarbeit fußt, als Faktor der Brexit-Entscheidung anzusehen. Die Belebung der reformistischen Bewegung innerhalb Europas könnte sich daher auch als der zentrale Impuls für die Wiederherstellung einer Mehrheit für eine EU-Mitgliedschaft Großbritanniens erweisen.

Die Labour Party verfolgte während der Referendumskampagne unter der Führung von Jeremy Corbyn eine eindeutig progressive Strategie des „Bleibens und Reformierens““. Seither hat er wichtige neue Verbindungen mit zum Aufbruch bereiten Sozialdemokraten und mit Progressiven in der ganzen EU aufgebaut. Das ist eine gute Grundlage für eine neue, mutige Botschaft für Großbritannien, in einer reformierten EU zu verbleiben. Wenn wir uns einmal vor Augen halten, was eine Corbyn-Regierung in Europa zur Lösung regionaler und globaler Probleme beitragen kann, wird die Argumentation gegen den Brexit kristallklar.

Die Tories können indessen nur eine wirtschaftlich desaströse und hochgradig reaktionäre isolationistische Alternative anbieten. Letztere zeigen einen Weg, der nur zu einer weitergehenden Schwächung der ohnehin gebrechlichen britischen Wirtschaft und der sozialen Infrastruktur führen würde. In internationaler Sicht würde es bedeuten, die Gefahr einzugehen, zu einem Werkzeug zu werden in Trumps gefährlicher Strategie, die Zusammenarbeit und die schwachen Wurzeln des globalen Friedens zu schwächen.

Gleich ob die britische Regierung die parlamentarische Billigung für eine Version des harten oder weichen Brexit nachsuchen wird, sie wird dadurch das britische Volk seiner demokratischen Rechte berauben, die politische Richtung und Entscheidungsfindung auf der wesentlichen Ebene der EU mitzugestalten. Es wird womöglich eine weitergehende Schwächung der sozialen und politischen Rechte innerhalb eines isolationistischen Großbritannien nach sich ziehen.

Wegen der arroganten Herangehensweise seitens der Regierung und wegen der unterliegenden neoliberalen Agenda ist es jetzt schon klar, dass das Ergebnis der von den Tories geführten Brexit-Verhandlungen den sechs Testfragen der Labour Party nicht genügen wird.[12] Daher wird Labour den Brexit-Deal der Regierung zurückweisen müssen. Eine Niederlage der Regierung May ist definitiv möglich und würde neue Perspektiven eröffnen.

Vor diesem Hintergrund könnte unser Vorschlag einer neuen Agenda für das „Bleiben und Reformieren“ politische Realität erlangen.

Luke Cooper ist Senior Lecturer für Internationale Politik an der Anglia Ruskin Universität. Mary Kaldor ist Professorin für Global Governance an der London School of Economics. Niccolò Milanese ist Director von European Alternatives. John Palmer war Political Director des European Policy Centre in Brüssel und Leiter der Europa-Redaktion der Tageszeitung The Guardian. Ihr hier gekürzt dokumentierter Bericht „The ›Corbyn moment‹ and European socialism“ ist Anfang März vom Bündnis Another Europe is possible als Broschüre publiziert worden: https://www.anothereurope.org/new-report-the-corbyn-moment-and-european-socialism/ . Übersetzung: Daniela Kreuels.

[1] Jeremy Corbyn: Die progressive Perspektive in Europa muss radikal und glaubwürdig sein. In: Sozialismus 11/ 2017, S. 20-23 (Anmerkung der Redaktion)

[2] Das Manifest von Ventotene in der Übersetzung von M. De Stefanis: http://www.altierospinelli.org/manifesto/de/manifesto1944de_en.html (Zugriff 19.3.2018)

[3] Vgl. hierzu Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese, 2018, Citizens of Nowhere: How Europe can be Saved from Itself. Zed Books: London.

[4] Financial Times, 6. Juni 2017: Portugal’s economic rival brings »crisis of good news«. Growth accelerates twice as quickly as eurozone average in first quarter.

[5] An dieser Stelle können nur einige Punkte des Berichts dokumentiert werden. Der vollständige Beitrag kann heruntergeladen werden unter: www.anothereurope.org/wp-content/uploads/2018/03/aeip-reform-final-web.pdf

[6] »Amsterdam aims to score more Brexit wins after luring medicines agency«, Guardian online. https://www.theguardian.com/politics/2017/nov/24/amsterdam-brexit-european-medicines-agency-london-business (Zugriff 25.2.2018)

[7] »Macron places negotiations on the financial transaction tax on hold«, No to Tax Havens website. https://www.nototaxhavens.eu/macron-speech-yesfinancial-transaction-tax-minimum-tax-rate-profits/ (Zugriff 25.2.2018)

[8] Vgl. Jeremy Corbyn: »Bleiben – und Reformieren«. Rede des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn zum Brexit-Referendum. Dokumentation – April 2016. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse. http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/12495.pdf (Zugriff 19.3.2018) (Anm. d. Red.).

[9] Vgl. hierzu ausführlich Joseph Stiglitz, 2016: Europa spart sich kaputt: warum die Krisenpolitik gescheitert ist und der Euro einen Neustart braucht. München: Siedler

[10] EGB, 2017, EGB Plattform für die Zukunft Europas. https://www.etuc.org/sites/www.etuc.org/files/publication/files/ces-brochure_future_of_europe-d_def.pdf (Zugriff 19.3.2018)

[11] Curtice, John, »Why Leave Won the UK’s EU Referendum«, The Journal of Common Market Studies, Volume 55, Issue Supplement S1, September 2017, pp. 19-37.

[12] LabourList, »Keir Starmer: Labour has six tests for Brexit – if they’re not met we won’t back the final deal in parliament«.https://labourlist.org/2017/03/keir-starmer-labour-has-six-tests-for-brexit-if-theyre-not-met-we-wont-back-the-final-deal-in-parliament/ (Zugriff 27.2.2018)

Photo by Chatham House, London

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