In Deutschland ist palästinensisches Leben weniger wert

Vor etwas mehr als einem Jahr, am 7. Oktober, griff die Hamas Israel an und tötete 1.200 Israelis und entführte etwa 250, von denen noch knapp die Hälfte gefangen gehalten wird. Seit dem Abend des 7. Oktober bombardiert Israel den Gazastreifen durchgehend, unterbrochen nur von einer kurzen Feuerpause Ende des vergangenen Jahres. Das Leid im Gazastreifen hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das weltweit seinesgleichen sucht.

Laut offiziellen Angaben sind in Gaza knapp 42.000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet und mehr als 100.000 verletzten worden. Es sind  Zahlen, die von vielen Beobachterinnen und Beobachtern für deutlich zu niedrig gehalten werden. So sprechen 99 amerikanische Ärzte, Chirurginnen, Pflegekräfte und Hebammen, die als Freiwillige im Gaza-Streifen tätig waren, von wesentlich höheren Todeszahlen: „Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer dieses Konflikts bereits über 118.908 liegt, was erstaunliche 5,4 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens ausmacht.“ Doch selbst, wenn die offiziellen Todeszahlen zutreffend sein sollten, wären knapp 2 Prozent der Bevölkerung im letzten Jahr getötet und knapp 5 Prozent verletzt worden. Gemessen an der Bevölkerung ist dieser Krieg damit schon jetzt der blutigste aller Krieg dieses Jahrtausends.

Für Frauen und Kinder stellt er sogar in absoluten Zahlen den tödlichsten Krieg der letzten zwanzig Jahre dar, selbst wenn man die niedrigst mögliche Zahl an getöteten Kindern und Frauen – nämlich 11.000 getötete Kinder und 6.000 getötete Frauen – heranzieht, so die Menschenrechtsorganisation Oxfam: „Im vergangenen Jahr wurden in Gaza mehr Frauen und Kinder durch das israelische Militär getötet als in jedem anderen Konflikt der letzten zwei Jahrzehnte.“ Die von Oxfam verwendeten Zahlen, die nur offiziell identifizierte tote Palästinenserinnen, nicht aber unidentifizierte getötete Palästinenserinnen einbezieht. . Doch schon diese Zahl übertrifft die Zahl der getöteten Frauen und Kinder in jedem einzelnen Jahr des syrischen Bürgerkriegs, des Irakkriegs, des Ukrainekriegs oder jedes anderen Kriegs der vergangenen zwei Dekaden.

Fliehen – aber wohin?

Doch der Krieg in Gaza ist nicht nur gemessen an den Getöteten und Verletzten besonders verheerenden. Auch mit Blick auf die Zerstörung der Infrastruktur ist er mit keinem anderen Krieg in diesem Jahrtausend zu vergleichen. Das Ausbildungsinstitut der UN Unitar verdeutlicht das Ausmaß: „66 Prozent der beschädigten Gebäude im Gazastreifen machen insgesamt 163.778 Gebäude aus. Dazu gehören 52.564 zerstörte Gebäude, 18.913 schwer beschädigte Gebäude, 35.591 möglicherweise beschädigte Gebäude und 56.710 mäßig betroffene Gebäude.“ Die am stärksten betroffenen Regionen innerhalb des Gazastreifens sind der Norddistrikt um Jabalia und Beith Lahia, wo mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden, sowie Gazastadt. Die Zerstörung hat zu massiven Fluchtbewegungen innerhalb des 360 Kilometer großen Gazastreifens geführt.

Mehr als 90 Prozent der noch lebenden Bevölkerung sind auf der Flucht vor israelischen Bomben und den Angriffen der israelischen Armee am Boden. Die Flucht führt die Menschen in immer neue Gebiete, die von Israel als angeblich sicher ausgewiesen werden. Die Angaben darüber, welche Gebiete das sind, ändert die israelischen Armee jedoch laufend. Das wiederum hat zur Folge, dass sich die Bevölkerung immer weiter flüchten muss. Häufig sind es jedoch nicht nur die Anweisungen der israelischen Armee, die zur Flucht führen, sondern auch die Bombardierung vermeintlich sicherer Gebiete durch eben diese  Armee. Der Schrecken und die Verunsicherung der Menschen, die sich darauf verlassen haben, in Sicherheit zu sein, und die dann von jenen bombardiert und getötet werden, die diese  Gebiete als sicher ausgewiesen haben, lässt sich kaum in Worte fassen. Besonders tödlich waren die wiederholten Bombardierung vermeintlich sicherere Gebiete in Al-Mawasi, wo Israel mehrere Male schwere Bomben auf Zeltstädte abwarf. Der tödlichste dieser Angriffe im vergangenen Juli kostete mindestens neunzig Menschen das Leben. Der Guardian schreibt zur Frage, ob Al-Mawasi ein sicheres Gebiet ist: „Weit gefehlt. Trotz seiner Bezeichnung wurde Al-Mawasi bereits mehrfach von israelischen Streitkräften angegriffen. Bei dem tödlichsten Angriff am 13. Juli bombardierten israelische Jets Al-Mawasi, wobei nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza neunzig Menschen getötet und 300 vertriebene Palästinenserinnen und Palästinenser verletzt wurden.“

Neben Tod, Vertreibung und Zerstörung leiden die Menschen im Gazastreifen unter einer von Israel herbeigeführten Hungerkatastrophe, die sich in den vergangenen Monaten immer weiter verschlimmert hat. Die Zahl der Hilfskonvois, die den Gazastreifen erreicht, ist innerhalb eines Jahres um mehr als 85 Prozent gesunken. Während im August des vergangenen Jahres noch über 500 LKWs mit Hilfsgütern in den Gazastreifen eingefahren sind, waren es im August dieses Jahres nur noch 69 LKWs pro Tag. Die Folge dieser Entwicklung beschreiben fünfzehn Menschenrechtsorganisationen in einem gemeinsamen Brief: „Diese Verringerung bedeutet, dass die Menschen in Gaza nicht mehr durchschnittlich zwei Mahlzeiten pro Tag, sondern nur noch jeden zweiten Tag eine Mahlzeit erhalten. Schätzungsweise 50.000 Kinder im Alter von 6–59 Monaten benötigen bis Ende des Jahres dringend eine Behandlung gegen Unterernährung.“

Das Leid in Gaza spielt in der medialen Berichterstattung in Deutschland nur eine untergeordnete Rolle, wenn es thematisiert wird, dann wird die israelische Verantwortung häufig relativiert oder die Bombardierungen gar gerechtfertigt. Deutlich wird dies auch an der Wortwahl mit denen die getöteten Israelis und Palästinenser bedacht werden, Israelis werden ermordet, Palästinenser dagegen sterben, doch die Frage, wer die Bomben auf sie abwirft, wird nur am Rande behandelt. Häufig werden gar die Presseerklärung der Armee, die die Bomben abwirft und die Grenzübergänge blockiert, als Quelle verwendet, teilweise gar als einzige.

Kein Waffenstillstand in Sicht

Der einzige kurzfristige Ausweg aus dieser katastrophalen Situation in Gaza scheint ein Waffenstillstand zu sein, der dieses Jahr schon mehrmals zum Greifen nahe schien und dennoch fast jedes Mal an Nethanjahu und dessen rechtem Kabinett scheiterte. Am aussichtsreichsten schien ein Waffenstillstand nach dem  am 31. Mai von den USA präsentierten Waffenstillstandsabkommen, welches angeblich von Israel entwickelt worden war. Dieser 3-Stufen-Plan hätte eine parallele Freilassung der Geiseln und ein Ende der israelischen Bombardierungen des Gazastreifens vorgesehen. In einem Brief forderten die USA, Katar und Ägypten  Israel und die Hamas zu einer umgehenden Annahme des Waffenstillstands auf – eine überraschende Aufforderung, da Israel den Plan angeblich selbst entworfen hatte.

Während die Hamas mehrmals Bereitschaft signalisierte,  den Plan anzunehmen, erklärten Netanjahu und dessen Regierung, dass sie keinen Deal akzeptieren werden, der den Krieg in Gaza in Gänze beenden würde. Netanjahus Büro gab gar bekannt: „Die Behauptung, Israel habe sich bereit erklärt, den Krieg zu beenden, bevor es alle seine Ziele erreicht hat, ist eine völlige Lüge.“ Mit dieser Aussage wurde deutlich, was der aufmerksamen Öffentlichkeit schon vorher klar gewesen war:  Bidens Vorschlag war nicht nur nicht von der israelischen Regierung entworfen worden, sondern die israelische Regierung hatte auch keinerlei Interesse an einem langanhaltenden Waffenstillstand. Dazu war sie offensichtlich auch bereit, ihrem wichtigsten Verbündeten, den USA, öffentlich vor den Kopf zu stoßen. Netanjahu stand mit seiner Haltung allerdings nicht nur im Widerspruch zu allen verbündeten Staaten, sondern auch zu den wichtigsten NGOs im eigenen Land und der eigenen Bevölkerung, die seit Frühling dieses Jahres in immer größer werdenden Protesten auf die Straße geht und für einen Waffenstillstand und GeiselDeal protestiert.

Seit Netanjahu angekündigt hat, dass die Besetzung des Philadelphi-Korridors durch Israel Teil des Waffenstillstands sein muss, sind alle Verhandlungen mehr oder minder zum Stillstand gekommen. Die Hamas sowie die verhandelnden arabischen Staaten erklärten, dass der von Biden präsentierte Plan umgesetzt werden müsste. Auch der Verteidigungsminister der israelischen Regierung offenbarte, dass der präsentierte  Plan für einen Waffenstillstand unsinnig sei. Israelischen Militärs unterstützten diese Position. All dies hinderte deutsche Medien, Politikerinnen und Politiker allerdings nicht daran zu behaupten, dass der von Biden präsentierte Plan an der palästinensischen Seite scheitern würde. Selbst als im September weitere Mitglieder der israelischen Regierung gegenüber der Presse bekanntgaben, das Nethanjahu schon vor längerem beschlossen hatte, den Waffenstillstand scheitern zu lassen, wurden gegenteilige Behauptungen in Deutschland nicht revidiert.

Biden, der von Netanjahu mit dessen Äußerungen über den Plan für einen Waffenstillstand öffentlich gedemütigt worden war, zog daraus, wie auch an Netanjahus Unwillen, keinerlei Konsequenzen. Im Gegenteil, die US-amerikanische Regierung beschlossen noch im August ein 20 Milliarden Dollar schweres Militärpaket für Israel – eine militärische Unterstützung, ohne die die Zerstörung Gazas unmöglich wäre. Das Militärpaket selbst könnte allerdings noch durch  Bernie Sanders und dessen Verbündete gestoppt werden. Seit der Ausweitung des Kriegs in den Libanon, die durch die Pagerangriffe begann, und in den letzten Tagen immer weiter intensiviert wurde, scheint ein Waffenstillstand allerdings noch aussichtsloser zu sein als zuvor. 

Deutschlands Rolle

Deutschland, einer der engsten Verbündeten Israels, spielt im Gazakrieg wenn überhaupt nur eine negative Rolle. Bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand ist Deutschland nicht eingebunden, dafür liefert Deutschland seit Kriegsbeginn umso mehr Waffen. Die Abnahme der Waffenlieferungen an Israel hängt zumindest offiziell weniger mit einer kritischeren Analyse des israelischen Kriegs zusammen als mit dem Druck, der durch die Klage Nicaraguas gegen Deutschland erzielt wurde. Offiziell fordert die Bundesregierung einen Waffenstillstand und ein Ende der Gewalt, doch selbst im Westjordanland, wo Siedlungsbau und Siedlergewalt inzwischen Alltag sind, schafft es die Bundesregierung nicht, die Verantwortlichen klar zu benennen oder übernimmt gar Israels Narrative. Auf internationaler Ebene isoliert sich Deutschland mit seiner extrem unkritischen Haltung immer stärker. Auch in Deutschland teilen große Teile der Bevölkerung nicht die Sichtweise der Bundesregierung. Dies geht auch mit einer zunehmenden Kritik an der einseitigen Berichterstattung in den großen deutschen Medien einher.

Anders als in anderen Ländern hat sich  diese kritische Haltung der Bevölkerung bislang nicht in Massenprotesten gegen den Krieg übersetzt. Mitverantwortlich dafür dürfte zum einen sein, dass die deutschen Gewerkschaften, anders als die Gewerkschaften in fast jedem anderen Land, noch einseitiger sind als die Regierung und bisher nahezu keinerlei Kritik an Israel äußern. Zum anderen gibt es mit Ausnahme der Abgeordneten des BSW und Teilen der Linken wie Nicole Gohlke, Özlem Alev Demirel oder Bernd Riexinger kaum parlamentarische Stimmen, die sich deutlich gegen den Gazakrieg positionieren und auch zu Protesten aufrufen. In der SPD werden allerdings Stimmen lauter, die einen Kurswechsel anmahnen, darunter insbesondere Abgeordnete wie Isabel Cademartori oder Reem Alabali Radovan. Bei Union, FDP und Grünen äußerten sich bislang nur wenige Abgeordnete wie Kassem Taher  öffentlich, wenn auch hinter vorgehaltener Hand viele Abgeordnete deutlich kritischer sind.

Für die Menschen mit palästinensischen Wurzeln in Deutschland bedeutet dies oft nicht nur politische Heimatlosigkeit, es bedeutet auch, dass sie in ihrer zweiten Heimat an den Rand gedrängt wird, ihre Trauer nicht ernst genommen oder gar kriminalisiert wird. Nicht ohne Grund warnen Menschenrechtsorganisationen weltweit inzwischen vor der massiven Repressionen gegen Proteste in Deutschland, insbesondere bei pro-palästinensischen Protesten. Statt die Repressionen zu beenden und die Trauer ernst zu nehmen, wird diese seit einem Jahr fortgesetzt, gepaart mit politischen Reden, in denen um israelische Opfer getrauert wird, palästinensische Opfer aber unsichtbar gemacht werden oder ihr Leid verharmlost. Politikerinnen und Politiker aller großen Parteien erklärt am 07.10 ihre Solidarität mit den israelischen Opfern und dass sie sich mit Angehörigen getroffen hätten, kein Politiker der Regierung oder der konservativen Oppositionsparteien hielt im vergangenen Jahr eine ähnlich empathische Rede mit Blick auf die palästinensischer Opfer, keiner traf sich mit uns, die Menschen, deren Familien in Gaza getötet wurden. Die Botschaft dahinter ist klar: „euer Leben ist uns weniger wert.“ Mit dieser Haltung stehen sie aber alleine, denn große Teile der Bevölkerung artikulieren sehr klar, dass sie palästinensisches Leid sehen, dass sie die Verbrechen in Gaza nicht akzeptieren und Nethanjahu nicht hofieren wollen.

Es ist aktuell unrealistisch, dass sich die offizielle deutsche Position  dahingehen verändert, die dass sie  israelische Verbrechen nicht länger stillschweigend hinnimmt oder die deutsche Politik auf einmal Empathie für die Menschen in Gaza artikuliert. Für die Menschen in Gaza und im gesamten Nahen Osten wäre es ein wichtiger Schritt, wenn Deutschland zumindest die Lieferung aller Waffen und Dual-Use-Güter einstellt. Ein erster Schritt in diese Richtung  könnten der Protest von deutschen NGOs am 18. Oktober sein, der nicht nur ein Ende des Kriegs fordert, sondern auch ein Ende der Besatzung und damit einhergehend ein Ende der jahrzehntelangen Unterdrückung der Palästinenser.

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