Es sei ein Weckruf für die israelische Gesellschaft, sagte der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin. Damit meinte er eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des „Pew Research Centre“. Ihr zufolge wollen 48 Prozent der befragten jüdischen Israelis, dass die palästinensischen Araberinnen und Araber ausgewiesen werden. Und fast 80 Prozent der Befragten fordern eine bevorzugte Behandlung von Jüdinnen und Juden im israelischen Staat!
Weil solche Umfragen bei uns kaum an die Öffentlichkeit dringen, sind die alarmierenden Ergebnisse den wenigsten bekannt. Neu sind sie allerdings bei weitem nicht: Bereits im Jahr 2004 verlangten 63 Prozent der in einer Studie des „Haifa Universitätszentrums zur Erforschung der nationalen Sicherheit“ befragten Israelis, ihre Regierung solle die Araber zur Auswanderung ermutigen. 48 Prozent gaben an, in ihren Augen würden Araber in Israel „zu gut“ behandelt. 2012 schrieb der israelische Journalist Gideon Levy über die Ergebnisse einer von DIALOG durchgeführten Umfrage, die meisten Israelis befürworteten ein Apartheidregime: 69 Prozent sprachen sich dagegen aus, den 2,5 Millionen Palästinensern das Wahlrecht zuzugestehen, sollte Israel die Westbank annektieren, 74 Prozent plädierten für getrennte Straßen für Israelis und Palästinenser. 47 Prozent wollten die israelischen Araber zumindest teilweise in die palästinensischen Gebiete transferieren, 59 Prozent forderten, dass Juden bei Jobs in Regierungsministerien grundsätzlich arabischstämmigen Anwärtern vorgezogen werden. 49 Prozent vertraten die Meinung, Juden sollten besser behandelt werden als Araber, 42 Prozent wollten nicht, dass ihre Kinder gemeinsam mit palästinensischen Kindern zur Schule gehen. Zu guter Letzt bekannten 58 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels freimütig, Israel praktiziere gegenüber den Arabern Apartheid. Bei der Mehrheit der Israelis stößt das nicht auf Kritik.
Diese Umfrageergebnisse unter der jüdisch-israelischen Bevölkerung machen deutlich, dass es nicht „nur“ die von den israelischen Regierungen geschaffenen Fakten „on the ground“ sind, also insbesondere die Zerstückelung und Annexion großer Teile palästinensischen Bodens mithilfe von Siedlungen, die eine Zweistaatenlösung immer unwahrscheinlicher werden lassen. Nur noch die Hälfte sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Bevölkerung spricht sich für eine Zweistaatenlösung aus. Viele befürworten inzwischen eine Einstaatenlösung. Dabei träumen viele Palästinenser und eine kleine Minderheit der israelischen Bevölkerung von einem gemeinsamen demokratischen Staat, in dem alle Bürger die gleichen Rechte haben, wohingegen die meisten jüdisch-israelischen Befürworter das Gegenteil anstreben: einen jüdischen Staat im gesamten historischen Palästina und noch darüber hinaus (zum Beispiel im syrischen Golan), in dem Palästinenser allenfalls als unterdrückte und rechtlose Minderheit einen Platz haben. Nicht in erster Linie aufgrund mangelnder politischer Alternativen wurde Benjamin Netanjahu zum wiederholten Male zum Premierminister gewählt, und nicht zufällig rückte sein Kabinett mit jedem Mal weiter nach rechts. Viele Kabinettsmitglieder übertreffen den Regierungschef bei weitem an Radikalität und Rassismus gegenüber Palästinensern sowie gegenüber nach Israel Geflüchteten – mehr als einmal haben Mitglieder der Regierung zur „Vernichtung“ der Palästinenser aufgerufen. Die israelische Sport- und Kulturministerin Miri Regev und Parteifreundin Netanjahus bekannte gar, sie sei „stolz, eine Faschistin zu sein“. Dieser Bekundung vorausgegangen war eine Äußerung der damaligen Knesset-Abgeordneten Regev während einer Großdemonstration gegen afrikanische Geflüchtete im Mai 2012. Sie bezeichnete die nach Israel geflohenen Sudanesen als „Krebs in unserem Körper“ – und sorgte damit für eine stundenlange Hetzjagd auf dunkelhäutige Menschen in Tel Aviv. Regev „entschuldigte“ sich im Nachhinein: Sie habe weder Krebspatienten „beleidigen“ wollen, noch sei es ihre Absicht gewesen, Afrikaner mit menschlichen Wesen zu vergleichen. Diese Aussage ist leider keine Einzelmeinung. Eine Umfrage unter jüdischen Israelis förderte sogar zutage, dass 52 Prozent der Befragten dem Statement Regevs, afrikanische Migranten seien ein „Krebs“, zustimmten.
Radikalisierung von oben
Miri Regev sieht inzwischen ihre Hauptaufgabe darin, kritischen Künstlern Fördermittel zu entziehen und Preise an Musiker zu verleihen, die radikale Siedler unterstützen. Der für Bildung zuständige Minister Naftali Bennett, Vorsitzender der nationalreligiösen Partei HaBajit haJehudi (Jüdisches Heim), die eine Räumung der völkerrechtswidrigen Siedlungen kategorisch ablehnt, verbietet derweil im Bildungsbereich alles, was seinen radikalen Vorstellungen zuwiderläuft.
Die palästinensische Zivilbevölkerung sowie kritische Israelis werden sowohl von höchster politischer Ebene als auch durch sich zunehmend radikalisierende und immer größer werdende Gruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft diskriminiert und bedroht. Alles, was die Mörder des palästinensischen Säuglings Ali Dawabscheh und seiner Eltern, die nach dem Wurf eines Molotowcocktails durch israelische Siedler auf ihr Haus im Sommer 2015 ihren schweren Verbrennungen erlagen, von ihren Opfern wussten, war, dass sie Palästinenser waren. Zwar verurteilten Netanjahu und einige Minister seines Kabinetts diesen Mord – der Anteil israelischer Politiker an dem Feuer, in dem der Säugling und seine Eltern umkamen, ist allerdings offensichtlich. Politiker und radikale Teile der Bevölkerung stacheln sich seit Jahrzehnten gegenseitig auf und ermöglichen so die Fortführung der Besatzung mit all ihren Folgen:
Seit Jahrzehnten sitzen mehrere Tausend Palästinenser aus politischen Gründen in israelischen Gefängnissen. Folter, die in einigen Fällen auch zum Tod führte, ist dort immer noch an der Tagesordnung, einer Vielzahl von Gefangenen wird der Besuch ihrer Familien versagt, Hunderte Palästinenser befinden sich jeden Monat in Administrativhaft, ohne Anklage und Verurteilung, manchmal jahrelang. Unter Menschenrechtlern ist kaum noch umstritten, dass Israel die Administrativhaft als Kollektivstrafe missbraucht – genau wie die Verweigerung eines Rechtsbeistandes und unabhängiger Haftprüfungen, was einen Verstoß gegen internationales Recht darstellt.
Derzeit sitzen mehrere Hundert Kinder in israelischen Gefängnissen. Nach israelischem Militärrecht, das von der israelischen Regierung und den israelischen Sicherheitsdiensten in den besetzten palästinensischen Gebieten angewandt wird, können Kinder bereits ab einem Alter von zwölf Jahren zu einer bis zu zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt werden. Erst vor einigen Wochen wurde eine Zwölfjährige, die jüngste Gefangene der Welt, aus dem israelischen Gefängnis entlassen. Anders als das israelische Zivilrecht hält sich das Militärrecht, nach dem Palästinenser verurteilt werden, nicht an die UN-Kinderrechtskonvention. 16-jährige Palästinenser werden vor den Gerichten wie Erwachsene behandelt, während israelische Jugendliche erst mit 18 Jahren als volljährig und damit voll strafmündig gelten. Auch ist bei palästinensischen Kindern für das Strafmaß nicht das Alter zum Zeitpunkt des Deliktes, sondern das Alter bei der Verurteilung ausschlaggebend. Bei israelischen Jugendlichen hingegen ist – wie international üblich – das Alter zum Tatzeitpunkt relevant. Israelis dürfen höchstens 24 Stunden festgehalten werden, bis sie zwingend einem Richter vorgeführt werden müssen; bei Palästinensern, auch bei Kindern, sind acht Tage möglich. Im Militärrecht können Verhaftete, auch Kinder, bis zu neunzig Tage ohne juristischen Beistand bleiben – im israelischen Zivilrecht sind es hingegen höchstens 21 Tage. Viele palästinensische Kinder und Jugendliche „gestehen“ unter enormem Druck. Eine Studie von UNICEF aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Ergebnis: „Die Misshandlung von palästinensischen Kindern in israelischen Gefängnissen scheint weit verbreitet, systematisch und institutionalisiert zu sein. (…) Das Muster der Misshandlung beinhaltet die Verhaftung von Kindern zuhause zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens durch schwerbewaffnete Soldaten, die Praxis, Kindern die Augen zu verbinden und ihre Hände mit Plastikfesseln zu fixieren, physische und verbale Misshandlung während des Transports zum Ort des Verhörs (…), die Befragung mittels physischer Gewalt und Drohungen (…) und den fehlenden Beistand durch Anwälte oder Familienmitglieder während des Verhörs.“
Kultur der Straflosigkeit
Das Wegsperren der jungen palästinensischen Generation und die Verhaftung von Kindern stellen nach internationalen Standards ein Verbrechen dar. Gepaart mit der massiven Siedlergewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, die mit Enteignung und Landnahme einhergeht, wird dieses Vorgehen zu einer hochgefährlichen Mischung. Bei der palästinensischen Bevölkerung macht sich nicht nur die Überzeugung breit, keine gerechte Behandlung erwarten zu können, sondern auch die Gewissheit, jeder Zukunft beraubt zu werden und zudem der Gefahr körperlicher Übergriffe insbesondere durch Siedler ausgesetzt zu sein. Ermöglicht wird dieser Zustand durch die weitgehende Kultur der Straflosigkeit. Siedler, die Gewaltverbrechen gegen palästinensische Zivilisten begehen, müssen zumeist nicht mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Vielmehr können sie häufig nicht nur auf die Ignoranz, sondern sogar auf die Unterstützung durch israelische Sicherheitskräfte zählen.
Ein besonders grausames Beispiel hierfür stellt die Erschießung eines wehrlosen Palästinensers in Hebron im März dieses Jahres dar. Der Vorgang wurde gefilmt und die Aufzeichnung der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem zugespielt: Das Video zeigt zwei Palästinenser, die – umstellt von israelischen Soldaten – am Boden liegen und von denen ganz offensichtlich keinerlei Gefahr mehr ausgeht. Zuvor sollen sie Soldaten mit Messern angegriffen haben. Einer der am Boden Liegenden ist verletzt, der andere wohl bereits tot. Die Soldaten ignorieren beide, auch um eine medizinische Versorgung des Verletzten bemüht sich niemand. Einer der ebenfalls anwesenden Siedler sagt zu einem der Soldaten: „Das Arschloch atmet noch.“ Nach kurzem Hin und Her schießt einer der Soldaten dem verletzt am Boden liegenden Palästinenser aus kurzer Entfernung in den Kopf. Ein Sturm der Entrüstung blieb aus; dafür wurde der Täter in den sozialen Medien wie ein Held gefeiert. Gegen seine Suspendierung wurde in mehreren Städten protestiert. In einer von Zehntausenden unterzeichneten, an Premier Netanjahu gerichteten Petition wurde gefordert, dem Täter eine Auszeichnung zu verleihen – denn er habe nur seinen Job getan, und das ganz hervorragend. Eine solche Tat und die zustimmende Reaktion eines großen Teils der israelischen Bevölkerung sind nicht loszulösen von den Aussagen israelischer Politiker wie jener der israelischen Justizministerin Ajelet Shaked während des Gaza-Krieges im Sommer 2014: Alle palästinensischen Frauen sollten getötet werden, forderte sie. Denn sie seien Schlangen, in deren Häusern neue kleine Schlangen heranwüchsen! Infolge des Streits zwischen Premier Netanjahu, der der Familie des Täters von Hebron telefonisch seinen Beistand versprach, und führenden Vertretern der israelischen Armee, deren Ansicht nach die Tat nicht mit den „moralischen Werten“ der israelischen Armee vereinbar war, trat Verteidigungsminister Moshe Yaalon am 20. Mai 2016 zurück. Yaalon, wie Netanjahu Mitglied des Likud und dort als Hardliner bekannt, hatte zuvor seine Offiziere aufgefordert, ihre Meinung zu artikulieren, auch wenn diese der Linie der Regierung zuwiderliefe. Als Grund für seinen Rücktritt gab Yaalon den anwachsenden Extremismus in Israel und innerhalb des Likud an.
Die immer kleiner werdende israelische Friedensbewegung bäumt sich scheinbar erfolglos gegen den zunehmenden Rassismus und die Gewalt auf. Immer häufiger geben israelische Pazifisten an, von radikalen Israelis bedroht und sogar körperlich angegriffen zu werden. Sie fühlen sich durch die israelischen Sicherheitskräfte keinesfalls ausreichend geschützt. Zudem ist eine massive Kampagne seitens der israelischen Regierung im Gange, die sich insbesondere gegen linke NGOs und Menschenrechtsverteidiger richtet: Im Dezember 2015 passierte ein Gesetzentwurf von Justizministerin Shaked das Kabinett, der von NGOs, die über 50 Prozent ihrer Finanzen durch Zuwendungen offizieller Stellen im Ausland bestreiten, verlangt, ihre Geldquellen stets öffentlich anzugeben. Auf diese Weise sollen sie als „ausländische Agenten“ abgestempelt werden. Rechte NGOs, die ebenfalls hohe Fördersummen aus dem Ausland erhalten, soll das Gesetz hingegen nicht betreffen, denn ihre Geldgeber sind Privatpersonen.
Wenig Hoffnung auf Besserung
Insbesondere die von israelischen Soldaten gegründete Organisation Breaking the Silence, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufzudecken, wird in ihrer Arbeit erheblich behindert. Im März wurde ihr vorgeworfen, sie habe versucht, durch eingeschleuste Personen an geheime Informationen zu gelangen. Sie wolle so den israelischen Streitkräften schaden. Breaking the Silence versichert, dies entspreche nicht der Wahrheit, man halte sich bei der Entscheidung, was veröffentlicht werde, an die Vorgaben der Militärzensur.
Die massive Schwächung der Friedensbewegung und kritischer NGOs nicht zuletzt durch die israelische Regierung lässt für die Zukunft kaum auf Besserung hoffen. Diese Entwicklung wird durch eine westliche Politik des Tolerierens verstärkt: Weder die Bundesregierung noch die EU treten der Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser und der zumeist aus Afrika Geflohenen in Israel entschieden entgegen. Und statt sich jene, die um Frieden ringen, zu Partnern zu machen, wird das System der militärischen Besatzung seit nunmehr fast fünfzig Jahren in jeder Hinsicht unterstützt – sowohl politisch als auch durch westliche Waffenlieferungen und Technologietransfer.
Ein Gastbeitrag der linken Bundestagsabgeordneten Annette Groth
Eine Antwort
Alle bisherigen zum Palästinakonflikt getroffenen Resolutionen der Vereinten Nationen sowie Konferenzen und Abkommen haben Israels Regierungen nicht von ihrer expansionistischen Politik in Palästina abbringen können. Im Gegenteil, die reaktionäre Netanjahu-Regierung verschärft in den letzten Monaten zunehmend ihre Politik der Apartheid, des Landraubes und der Besatzung und das Leid und die Entbehrungen der PalästinenserInnen steigen ins Unermessliche.
Wir fordern die Bundesregierung erneut auf, ihr internationales Gewicht geltend zu machen und sich einzusetzen für:
1. Stopp aller Rüstungsexporte an Israel und Aussetzung der Anschaffung von israelischen Kampfdrohnen, die zu einer Entgrenzung des Krieges führen!
2. Sofortiges Aussetzen des EU-Israel-Assoziierungabkommens bis zum Abschluss eines Friedensvertrags zwischen Israelis und Palästinensern!
3. Beendigung der Besatzung und Kolonialisierung des 1967 besetzten arabischen Landes und den Rückbau der Mauer.
4. Anerkennung der Grundrechte der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf vollständige Gleichberechtigung
5. Achtung, Wahrung und Unterstützung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge, wie in UN-Resolution 194 festgelegt auf Rückkehr zu ihren Wohnstätten und Schadensersatz bei Verlust oder Beschädigung ihres Eigentums oder auf Entschädigung für den Fall, dass sie nicht zurückkehren wollen.
Die PalästinaIsrael Zeitung veröffentlicht in ihrer (bedauerlicherweise) allerletzten Ausgabe auf Seite 2 einen sehr gut recherchierten Artikel von Paul Grasse unter dem Titel „Waffenbrüder“. Sehr lesenswert: http://www.palaestina-israel-zeitung.de/downloads/2016-Piz10.pdf
mit solidarischen Grüßen
Cristina