In vielen Medien wird bei jeder neuen Katastrophe an den EU-Außengrenzen, ob auf den griechischen Inseln, dem Mittelmeer oder der sogenannten Balkanroute, immer wieder das Narrativ der humanitären Krise reproduziert. Gerade ereignet sich an der polnisch-belarussischen Grenze genau dasselbe: Es wird von einer humanitären Krise gesprochen.
Nicht nur für die großen Akteure wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) oder die Internationale Organisation für Migration (IOM) spielt dieses Narrativ eine Rolle, sondern auch für die unzähligen kleinen Graswurzelinitiativen entlang der Schauplätze des Grenzregimes der Europäischen Union.
Kann es Richtiges im Falschen geben? Diese Frage muss auch in Bezug auf die vielen Graswurzel-Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Flüchtende an den EU-Außengrenzen unterstützen, gestellt werden. Grundsätzlich gibt es vier Prinzipien von humanitärer Hilfe, die die Arbeitsgrundlage – auch von kleinen Initiativen bilden. Zuallererst die Humanität, die besagt, dass menschliches Leid überall dort, wo es auftritt, angegangen werden muss.
Der Zweck humanitärer Hilfe besteht darin, Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Achtung der Würde jedes Menschen zu gewährleisten. Das zweite Prinzip ist die Neutralität. Humanitäre Akteur*innen sollen zu keiner Zeit Partei ergreifen und sich nicht auf Kontroversen politischer, ethnischer oder religiöser Art einlassen. Dazu kommt die Unparteilichkeit, denn humanitäre Hilfe soll bedarfsgerecht sein. Und letzteres Prinzip ist die Unabhängigkeit, und zwar von politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder sonstigen Zielen. So einleuchtend diese Prinzipien auf den ersten Blick wirken mögen, sind sie wohl eher etwas für Lehrbücher, denn praktisch verstricken sie sich in Widersprüchen. Dies zeigt das Grenzregime der EU.
Problematiken humanitärer Hilfe
Humanität, also Menschlichkeit oder Wohltätigkeit, impliziert erstmal etwas Un- oder Vorpolitisches. So geht es um das Wirken von Einzelnen oder Organisationen zugunsten bedürftiger Personen. Dies untergräbt allerdings die historisch-materielle Analyse: Erst die restriktiven Grenzpraktiken der EU produzieren diese Verhältnisse. Dies bedeutet, dass die Unterstützung von Menschen an den EU-Außengrenzen etwas genuin Politisches ist.
Von den großen Organisationen, wie dem UNHCR, ist die Entpolitisierung durch das Narrativ der humanitären Krise nicht weniger problematisch, aber auch nicht anders erwartbar. Denn fast 90 Prozent des Budgets wird von Staaten und Staatenverbünden wie der EU geleistet. Unabhängigkeit und Neutralität sieht anders aus. Einzelnen, die in diesem System arbeiten, ist dies nicht anzulasten, doch die strukturellen Probleme, die dies mit sich bringt, sind nicht zu verleugnen.
Eingreifen allein reicht nicht
Gerade den kleinen Graswurzel-NGOs sollte dies als Aufruf dienen, ihre Arbeitsprinzipien zu überdenken. Ob in Griechenland, auf dem Mittelmeer oder im Westbalkan: NGOs sind auf internationale Freiwillige angewiesen, die ganz unterschiedliche Motivationen mitbringen. Studien zeigen, dass es hier drei zentrale Motivationen gibt: Menschen in Not zu helfen, etwas Sinnvolles zu tun und mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, deren Ziele unterstützt werden.[1]
Unter den Freiwilligen sind mitnichten alle aus politischen Gründen vor Ort. Oft genug wollen Menschen einfach helfen und wissen nicht oder wollen nicht wahrhaben, dass sie als Bürger*innen der EU nicht Unbeteiligte sind, die unproblematisch helfen können. Deshalb muss weitergegangen werden, als der italienische Marxist Antonio Gramsci es in einem berühmt gewordenen Ausspruch formuliert hat: „Ich glaube, dass leben bedeutet, Partei zu ergreifen. (…) Ich lebe, ich bin parteiisch. Deshalb hasse ich den, der nicht eingreift, ich hasse die Gleichgültigen.“ Doch nicht nur das Eingreifen ist in diesem Falle wichtig, sondern essentieller ist die Rolle der NGOs, für die Freiwillige arbeiten. Zwar greifen die Freiwilligen ein, doch dabei darf eines nicht vergessen werden: die politische Dimension der Arbeit.
Hinzu kommt die Verstrickung von NGOs, die diese zwangsläufig mit den lokalen Institutionen des Staates eingehen müssen. Manchen gelingt dies besser, manchen schlechter. Zum Beispiel kritisiert Maximilian Pichl in seiner Studie „Der Moria-Komplex“ für Medico International, dass gerade NGOs, die in dem Lager auf der Insel Lesbos arbeiten, zu stark von den Behörden abhängig sind und somit mitwirken, dieses Lagersystem aufrecht zu erhalten. Auch auf dem Westbalkan sieht die Situation oft ähnlich aus, ob in Serbien oder in Bosnien und Herzegowina. Zwar kommen momentan kaum Organisationen zu den Flüchtenden an die polnische Grenze, allerdings muss hier das Narrativ des Humanitären klar angegangen werden. Denn dies erzeugt ein falsches Verständnis von dem, was gerade dort geschieht.
Die Graswurzel-NGOs befinden sich hier natürlich in einem Dilemma, denn auch eine Politisierung birgt Risiken. Wenn die konkrete Arbeit für Flüchtende durch die Behörden untersagt wird, ist erst recht niemanden geholfen. Generelle praktische Handlungsempfehlungen sind deshalb schwer auszusprechen.
Es muss trotzdem konstatiert werden, dass das, was an den EU-Außengrenzen geschieht, Ausdruck einer Krise der Politik ist und die NGOs befinden sich an der Front eines ideologischen Konflikts um die Migrationspolitik eines Staatenverbundes mit ungewissen Ausgang. Die sogenannte Krise ist staatlich initiiert und gewollt – auch die Graswurzel-NGOs müssen sich fragen, auf welcher Seite sie stehen.
Kritische Nothilfe
Ein zentrales Stichwort, das zur Repolitisierung der Arbeit von Graswurzel-NGOs beitragen kann, ist dabei das Konzept der kritischen Nothilfe. Zum Beispiel hat Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos beschlossen, nicht mehr im Lager der Insel zu arbeiten, sondern nur noch außerhalb zu agieren. Auch ein Mehrebenen-Ansatz, den einige NGOs verfolgen, kann eine Lösung sein. So dokumentieren einige für das Border Violence Monitoring Network neben ihrer Arbeit illegale Pushbacks. Dieses erstellt einen monatlichen Bericht und agiert auf europäischer Ebene, der als Grundlage von politischer sowie rechtlicher Arbeit dient.
Widerständige Praktiken gegen das Grenzregime, auch wenn sie noch so klein erscheinen, sind nicht nur möglich, sondern auch notwendig, um gegen die herrschenden Verhältnisse der Festung Europa aufzubegehren. Dabei ist ein ganzheitlicher Ansatz nicht zu vernachlässigen, denn weder Akteur*innen auf dem Mittelmeer, dem Westbalkan oder Griechenland noch allein juristische oder politische Akteur*innen können die restriktiven Grenzpraktiken ändern. Erst im kollektiven Handeln – auch in sozialen Bewegungen – können Mehrheiten gewonnen werden, die vermögen, die jetzigen Verhältnisse aufheben zu können.
Von Lukas Geisler.
Anmerkun
[1] Trihas, Nikolaos, and Konstantinos Tsilimpokos. „Refugee crisis and volunteer tourism in Lesvos, Greece.“ Journal of Tourism & Sustainability 2.1 (2018): 42-56.