Die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche, die sich im Finanzmarktkapitalismus weiter zuspitzen, erzeugen in Verbindung mit der dominierenden neoliberalen Politik eine Vielzahl tiefer Konflikte und Krisenprozesse. Ihnen ist gemeinsam: Sie sind untereinander eng verflochten, sie verstärken sich gegenseitig in ihren negativen Wirkungen, sie sind in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht lösbar.
Seit einigen Jahren gibt es eine Konjunktur kapitalismuskritischer Publikationen, darunter auch zahlreicher, in denen ein Ende des Kapitalismus vorausgesagt und begründet wird. Im Vordergrund stehen dabei die Analyse der Systemkrise und der ihr zugrundeliegenden Tendenzen, die die gesellschaftliche Reproduktion untergraben und zerstören. Für die gegenwärtige Situation in Deutschland und in industrialisierten kapitalistischen Staaten weltweit ist charakteristisch, dass auch große Teile der Bevölkerung der Meinung sind, der Kapitalismus werde zwar die heutigen Widersprüche nicht lösen, aber zugleich denken sie, dass es zu ihm keine realistische Alternative gibt.
In Deutschland waren bei einer Befragung vor einigen Jahren nur 16 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die freie Marktwirtschaft gut funktioniere. Fast 80 Prozent der Deutschen sehen den Wohlstandsegoismus als zerstörerisch an. Trotz dieser kritischen Einschätzung des gegenwärtigen Kapitalismus waren zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass es keine vernünftige oder durchsetzbare Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem gebe. Noch nie war das Auseinanderklaffen der Notwendigkeit einer Transformation der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische Alternative und den dafür bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen so groß wie gegenwärtig.
Hieraus ergeben sich für die Linke weitreichende Konsequenzen. Es geht im Kern um die Ausarbeitung eines Projekts für einen dringend notwendigen Politikwechsel, das geeignet ist, breite Kreise der Bevölkerung und soziale Bewegungen für Aktivitäten zu seiner Durchsetzung zu gewinnen. Hierfür benötigt die Linke ein möglichst realistisches Konzept für eine zukünftige sozialistische Gesellschaft, in der die Ursachen für die gegenwärtigen Fehlentwicklungen und Blockierungen sowie für die Unzufriedenheit und Ängste der Menschen beseitigt werden können.
Alternative erfüllen Welche Anforderungen müsste heute eine noch auszuarbeitende sozialistische?
• zeigen, dass mit ihr die Bedingungen für ein gutes Leben und „gute Arbeit“ für alle Menschen geschaffen werden können.
• soweit es heute möglich ist, begründen, dass eine solche Alternative realistisch ist, d.h. die darin enthaltenen Vorschläge verwirklicht werden können und nicht auf Wunschträumen einer idealen Welt beruhen.
• deutlich machen, dass sie auf die Entfaltung der Individualität und zugleich auf die Herausbildung und Festigung gemeinschaftlicher und solidarischer Beziehungen zwischen den Menschen gerichtet ist.
• dazu beitragen, die für eine demokratische, emanzipatorische und zukunftsorientierte Transformation notwendigen Akteure zu gewinnen.
• nachweisen, dass die Vorstellungen einer solchen Alternative den veränderten Verhältnissen des 21. Jahrhunderts gerecht werden.
Für die Bestimmung der Herausforderungen an einen zukunftsfähigen Sozialismus im 21. Jahrhundert spielen folgende vier Erkenntnisquellen eine bestimmende Rolle
Erstens: Konsequenzen aus der Systemkrise des gegenwärtigen Kapitalismus und ihren grundlegenden Widersprüchen.
Zweitens: Erfahrungen des gescheiterten Staatssozialismus in Europa sowie Erfahrungen aus China, Vietnam, Kuba und mehreren lateinamerikanischen Ländern.
Drittens: Neue Anforderungen und Ansprüche, die sich im 21. Jahrhundert aus der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturbedingungen ergeben
Viertens: Wichtige Erkenntnisse einer modernen, zeitgemäßen Gesellschaftstheorie, in der eine moderne marxistische Theorie einen herausragenden Platz einnimmt.
Der von Marx charakterisierte Umschlag der Produktionsverhältnisse in Fesseln der Entwicklung der Produktivkräfte erreicht im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus eine neue Qualität. Die Gesellschaft verliert zunehmend ihre Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten über die gesellschaftliche Reproduktion und die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Die Dialektik des gesellschaftlichen Fortschritts in der sozialistischen Transformation zeigt sich darin, dass es nicht schlechthin darum geht, den Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, sondern zugleich die positiven Züge der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ihre ökonomische Effizienz, Reaktions- und Innovationsfähigkeit zu erhalten und weiterzuentwickeln. Dies betrifft in hohem Grad auch den weiteren Ausbau demokratischer und Freiheitsrechte sowie insgesamt die Stärkung der Zivilgesellschaft.
Der Staatssozialismus ist durch grundlegende strukturelle Defizite und Fehlentwicklungen gekennzeichnet, die in Europa zum Scheitern der sozialistischen Versuche führten. Diese gilt es in einer sozialistischen Transformationsstrategie von vornherein zu vermeiden. Zugleich gab es in diesen Ländern auf wichtigen Gebieten positive Ansätze und Erfahrungen, die in einem erneuerten Sozialismus aufgehoben und weiterentwickelt werden sollten. Es gibt eine verbreitete Auffassung: Da der Staatssozialismus gescheitert sei und vor den Ansprüchen des realen Lebens versagt habe, bräuchten wir uns mit diesen Erfahrungen nicht weiter zu beschäftigen. Diese Auffassung ist nach meiner Überzeugung grundsätzlich falsch und hinderlich für die Ausarbeitung einer realistischen Transformationsstrategie.
In den Analysen, insbesondere zur systemischen Krise des Kapitalismus und zu einer sozialistischen Transformation konnten in den letzten Jahren Erkenntnisfortschritte erzielt werden. Das betrifft insbesondere den Inhalt und die Voraussetzungen einer großen Gesellschaftstransformation und ihrer Realisierung als doppelte Transformation im Kapitalismus und darüber hinaus hin zu einer sozialistischen Gesellschaft, einschließlich der hierfür unverzichtbaren Akteure und neuen Akteurskonstellationen. Zugleich gibt es auf wichtigen Gebieten der Theorie beträchtliche Defizite, an deren Überwindung intensiv zu arbeiten ist. Es gibt bisher noch kein gemeinsames Konzept der Linken zu einer solchen sozialistischen Alternative. Viele Fragen bleiben umstritten und weiterhin offen. Es ist daher notwendig, wissenschaftliche Analysen und Studien sowie Diskussionen zu diesen Fragen intensiv weiterzuführen. Dies gilt ebenfalls für eine wirksame Gestaltung des internationalen Rahmens für gemeinsame Untersuchungen und Diskussionen sowie für gemeinsame Analysen und Diskurse zwischen verschiedenen linken Gruppen und sozialen Bewegungen.
Die mit einer sozialistischen Transformation verbundenen Probleme sind so komplex, differenziert und auch in Vielem widersprüchlich, dass es längerer Zeit intensiver Forschungsarbeiten, Diskussionen und anderer gemeinsamen Anstrengungen der Linken bedarf, um in wichtigen Punkten zu gemeinsamen Auffassungen, zu einem gemeinsamen Projekt der Linken zu kommen.
2. Charakterisierung der Herausforderungen an einen zukunftsfähigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts
Im Ergebnis von Analysen und theoretischen Verallgemeinerungen können neun grundlegende Herausforderungen an einen zukunftsfähigen und stabilen Sozialismus im 21. Jahrhundert hervorgehoben werden: Diese sind untereinander eng verflochten und können ihre positiven Wirkungen für die Verwirklichung der Ziele einer sozialistischen Gesellschaft nur in ihrer Gesamtheit und gegenseitigen Verflechtung optimal erfüllen.
2.1 Entwicklung der Produktivkräfte
Eine Entwicklung der Produktivkräfte erreichen, die die Defizite und Fehlentwicklungen im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus überwindet. Im Vordergrund stehen eine höhere Produktivität und Effizienz der gesellschaftlichen Reproduktion zu erreichen und die Schaffung der Bedingungen, um ihre Potenziale und Möglichkeiten für eine neue Ökonomie der Zeit, für die Erhaltung der natürlichen Umwelt und für die freie Entfaltung der Individualität umfassend zu nutzen sowie die Bedürfnisse der Menschen in der Arbeit und im Leben zu befriedigen.
2.2 Vergesellschaftung der Eigentumsverhältnisse
Die Dominanz des kapitalistischen Privateigentums überwinden und eine bestimmende Rolle des Gemein- und öffentlichen Eigentums in seinen vielfältigen Formen herausbilden und sichern. Auf dieser Grundlage gilt es neue Möglichkeiten für den gesellschaftlichen Fortschritt im Interesse der Menschen, für die Wirtschaftsdemokratie, für eine neue Qualität des gesellschaftlichen Zusammenhalts und für die Erhaltung der natürlichen Umwelt zu schaffen.
Diese Herausforderung kann gemeinsam mit der Produktivkraftentwicklung als grundlegende Bedingung und Voraussetzung für die Verwirklichung aller anderen Herausforderungen angesehen werden. Das verlangt, dass die konkrete Gestaltung sozialistischer Eigentumsverhältnisse vor allem als reale Vergesellschaftung entscheidender Teile des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln durchgeführt wird.
2.3 Eine neue sozial-ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Produktions- und Betriebsweise
Eine neue gesellschaftliche Produktions- und Betriebsweise herausbilden, die auf einer qualitativ neuen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und der Wirksamkeit sozialistischer Produktionsverhältnisse beruht. Auf ihrer Grundlage entstehen neue Bedingungen und Möglichkeiten für den gesellschaftlichen und individuellen Fortschritt sowie für einen nachhaltigen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft.
2.4 Demokratisierung der Gesellschaft
Bedingungen für eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung schaffen, sichern und weiter vervollkommnen. Eng hiermit verflochten entstehen auch qualitativ neue Anforderungen an den Staat, der eine entscheidende Funktion bei der Leitung und Organisierung der Wirtschaft und der anderen Bereiche der Gesellschaft ausübt. Es gilt von vornherein die für den Realsozialismus typische Dominanz und Macht einer Partei im Staat zu verhindern. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die staatliche Tätigkeit durch ihre Partizipation an der Beratung und Entscheidung gesellschaftlich wichtiger Aufgaben sowie an der öffentlichen Kontrolle ihrer Umsetzung.
2.5 Ein qualitativ neues System der gesellschaftlichen Regulierung der Wirtschaft und anderer Bereiche
Ein qualitativ neues System der gesellschaftlichen Regulierung der Wirtschaft und der anderen gesellschaftlichen Bereiche herausbilden, das sich der Regulierung im Kapitalismus als überlegen erweist.
Nach allen vorliegenden Erfahrungen des Realsozialismus setzt eine erfolgreiche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eine qualitativ neue Regulierungsweise der Wirtschaft und anderer Bereiche der Gesellschaft voraus. Diese beruht auf einer Kombination und engen Verflechtung zwischen einer Steuerung und Regulierung der Wirtschaftsprozesse auf Grundlage der Planung mit einer marktwirtschaftlichen Regulierung. Eine solche Kombination setzt voraus, die Vorteile beider Regulierungsweisen weitgehend zu nutzen und zugleich ihre jeweiligen Nachteile zu vermeiden bzw. so weit wie möglich einzuschränken.
2.6 Ein leistungsfähiges und sozial gerechtes Steuer- und Abgabensystem
Ein leistungsfähiges und sozial gerechtes Steuer- und Abgabensystem gestalten, das die erforderlichen Einnahmen der öffentlichen Haushalte gewährleistet, um die Finanzierung der vielfältigen Aufgaben der sozialen Sicherheit, des sozial-ökologischen Umbaus, der strategischen Strukturpolitik, der internationalistischen Entwicklungshilfe und weiterer Erfordernisse zu sichern.
2.7 Freie Entwicklung von Individualität und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Schaffung der notwendigen Bedingungen für die Entwicklung aller Individuen, die Herausbildung und freie Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten in der Arbeit und in allen Lebensbereichen sowie insgesamt für eine neue Qualität und Struktur in der Nutzung der Lebenszeit. Dabei geht es gleichzeitig darum, die Entwicklung der Individualität mit der Herausbildung engerer, insbesondere solidarischer Beziehungen zwischen den Individuen untereinander sowie zwischen ihnen, ihren Kollektiven und der ganzen Gesellschaft zu verbinden.
Diese Herausforderung beruht auf dem im Kommunistischen Manifest entwickelten Grundgedanken für die neue Gesellschaft als einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW 4 1959, 482)
2.8 Soziale Ungleichheit beseitigen, Teilhabe aller am gesellschaftlichen Fortschritt verbessern
Notwendige Bedingungen schaffen für die Beseitigung sozialer Ungleichheit. Dies betrifft insbesondere die Überwindung der im Kapitalismus typischen Reproduktion und der Verschärfung sozialer Ungleichheit auf entscheidenden Gebiete, durch die Polarisierung der Einkommen. Die individuellen Einkommen, vor allem die Arbeitseinkommen und Sozialeinkommen, sollten sich so entwickeln, dass für alle Menschen die Befriedigung der Grundbedürfnisse und die Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt möglich wird und zugleich die Beschäftigten materiell angeregt werden, ihre Fähigkeiten für gute Arbeitsergebnisse zu nutzen. In enger Verbindung hiermit gilt es, alle Hindernisse für die Gleichberechtigung und reale Gleichstellung der Geschlechter zu beseitigenn. In einer sozialistischen Gesellschaft darf es keine Diskriminierung von Menschen in Abhängigkeit von Geschlecht, Ethnie, Religion, sexueller Orientierung und Behinderungen geben.
Eine wichtige Aufgabe besteht in diesem Zusammenhang darin, ein neues, zum Kapitalismus alternatives Wohlfahrtsmodell auszuarbeiten Im Maße der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse aller Menschen gewinnt anstelle eines ständig höheren Konsums materieller Güter die stärkere Orientierung auf eine höhere Lebensqualität an Bedeutung. Ein Wohlfahrtsmodell des 21. Jahrhunderts kann nur dann als zukunftsfähig angesehen werden, wenn es gleichzeitig den Erfordernissen sowohl sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit als auch des notwendigen ökologischen Umbaus entspricht.
2.9 Gleichberechtigte und solidarische internationale Beziehungen
In den internationalen Beziehungen die Prinzipien der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Vorteils und der solidarischen Unterstützung ökonomisch schwächerer bzw. von größeren Entwicklungsproblemen betroffener Länder sichern, eine für alle Länder möglichst vorteilhafte, effiziente Kooperation und Arbeitsteilung durchsetzen und für stabile friedliche Beziehungen zwischen allen Staaten sorgen.
[1] Hier können diese neun Herausforderungen nur knapp skizziert werde. Sie werden in dem Buch: Klaus Steinitz, Zukunftsfähiger Sozialismus im 21. Jahrhundert, Herausforderungen an eine sozial-ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Produktionsweise (VSA Verlag) , das Anfang Mai vorliegen wird, näher erläutert und begründet.
Dieser Beitrag wurde von Klaus Steinitz, Wirtschaftswissenschaftler, in der DDR in Lehre und Forschung und in der Staatlichen Plankommission tätig, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, verfasst. 2007 erschien von ihm Das Scheitern des Realsozialismus, 2016 (gemeinsam mit Joachim Bischoff) die Flugschrift Götterdämmerung des Kapitalismus? und 2018 Zukunftsfähiger Sozialismus im 21. Jahrhundert.