„Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel. Unser oberstes Gebot ist, die Menschen zu schützen. Und ich sage deutlich: Auch vor sich selbst.“, so Markus Söder, Bayerischer Ministerpräsident, am 20. März 2020 auf der Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Corona-Einschränkungen für Bayern.
An dieser Aussage wird Folgendes deutlich: Im Angesicht der Corona-Pandemie sehen sich politische Entscheider genötigt, das Leben aller zu schützen, notfalls auch gegen den Willen des Einzelnen. Sogar die vorübergehende Suspendierung grundlegender Freiheitsrechte erscheint dabei als probates Mittel. Für die Motivation, den Schutz des Lebens aller Menschen im Land als das oberste Gebot staatlichen Handelns zu definieren und dafür Grundrechte außer Kraft zu setzen, erhalten Bundes- und Landesregierungen derzeit viel Anerkennung und Zuspruch aus weiten Teilen der Gesellschaft. Und wer würde dieses edle Motiv kritisieren?
Aber bei allem Verständnis für dieses Motiv: In vielen Bereichen unseres Daseins geht es permanent um Leben und Tod. Wir alle sind täglich Gefahren ausgesetzt, die unser Leben vorzeitig beenden können. Autofahrten, Flugreisen und Fensterputzen sind nur eine sehr kleine Auswahl an Dingen, bei denen Menschen jeden Tag durch eigenes Handeln oder das Handeln Dritter zu Tode kommen. Dennoch käme niemand auf die Idee, deswegen Autos, Flugzeuge oder Putzmittel zu verbieten. Auch wenn ein Vergleich zwischen Unfall- und Pandemietoten unzulässig ist, so wird durch diese Gegenüberstellung doch deutlich, dass der Staat den Schutz des Lebens schon unter normalen Umständen nicht gewährleisten kann. Das ist kein staatliches Versagen, es ist eine Konsequenz aus unseren Freiheiten. Jetzt in Zeiten der Pandemie den Schutz des Lebens als oberstes Gebot staatlichen Handelns auszurufen, ist daher – gelinde gesagt – anmaßend und im Ergebnis nicht einlösbar.
Dabei lag schon vor Söders Bekenntnis die tatsächliche Ursache für die Grundrechtseinschränkungen längst auf dem Tisch: Unser Gesundheitssystem muss seit Corona vor einer Überforderung geschützt werden. Ein Gesundheitssystem, das uns stets als „hervorragend“ oder zuletzt gar als „exzellent“ (Angela Merkel) beschrieben wird und welches uns im Krankheitsfall vor dem schlimmsten bewahren – also schützen – soll, ist offenbar selbst schutzbedürftig. Das erscheint paradox.
Hier soll nicht ignoriert werden, dass eine Pandemie wie Corona jedes Gesundheitssystem überfordern kann. Aber es kommt darauf an, ab welcher Fallzahl und ab welchem Zeitpunkt die Überforderung eintritt. Ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem mit Leistungsreserven kann dafür sorgen, dass dieser Zeitpunkt deutlich später eintritt, als es jetzt der Fall ist. Ein Gesundheitssystem, welches bei Normalauslastung ausreichend Luft nach oben hat, bis es an seine Leistungsgrenze stößt, verschafft der Gesellschaft und den politischen Entscheidern wertvolle Zeit, um beispielsweise vor der Aussetzung von Grundrechten die Wirksamkeit milderer Maßnahmen zu prüfen. Denn auch in Ausnahmesituationen wie dieser darf der Staat nur dann in Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig ist. Weil aber das Gesundheitssystem schon sehr früh im Pandemieverlauf vor einer Überforderung geschützt werden musste, fehlte die Zeit, die Verhältnismäßigkeit zu prüfen und die Bevölkerung breit und umfassend zu informieren. Es fehlte auch die Zeit, unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskutieren und zu beurteilen und bei der Schließung von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen und Betrieben selektiver als jetzt vorzugehen. Stattdessen wurden mit Bezugnahme auf das Infektionsschutzgesetz elementare Grundrechte ohne Prüfung milderer Mittel für alle suspendiert: Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Ausübung der Religionsfreiheit und so weiter.
Mit diesen Maßnahmen sowie der Kontaktsperre („social distancing“) wurden wir zum Preis der Freiheit gleichsam zur Gesundheit verpflichtet, um unser Gesundheitssystem zu schützen. Die ab dem 27. April 2020 in allen Bundesländern geltende Maskenpflicht macht diese Gesundheits-Verpflichtung jetzt auch äußerlich sichtbar. Freiheit gegen Pflicht ist aber immer ein schlechter Tausch. Deshalb ist es wichtig, die Ursachen für die Einschränkung unserer Freiheit genauer in den Blick zu nehmen.
Tatsache ist: Unser Gesundheitssystem hat keine Reserven mehr. Seine Leistungsfähigkeit wird seit fast 30 Jahren politisch gewollt immer weiter zurückgefahren.
Der „Erfolg“ dieser Entwicklung im deutschen Gesundheitssystem wird in folgenden Zahlen sichtbar (alle Werte sind öffentlichen Quellen entnommen, das Verhältnis Einwohner/Betten wurde selbst errechnet):
1991 | 2017 | |
Anzahl Krankenhäuser | 2.411 | 1.942 |
Anzahl Betten | 665.000 | 497.000 |
Anzahl Einwohner | ca. 80 Mio. | ca. 83 Mio. |
Verhältnis Einwohner/Betten | ca. 120 Einwohner pro Bett | ca. 166 Einwohner pro Bett |
Man muss kein Statistiker sein, um zu erkennen, was offensichtlich ist: Die Entwicklung der Anzahl der Krankenhäuser und Betten ist gegenläufig zur Entwicklung der Einwohnerzahl.
Ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist unter anderem die Bertelsmann-Stiftung, die politische Entscheider in vielen Bereichen berät. Diese Stiftung forderte noch im Sommer 2019 eine weitere Reduzierung der in Deutschland vorhandenen Krankenhäuser von derzeit 1.400 auf weniger als 600 (!) Einrichtungen. Auch die Leopoldina, die derzeit die Politik zur Corona-Exit-Strategie berät, unterstützte diese Forderung 2016 in einem Thesenpapier.
Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssen wir die Zahl der Intensivbetten in den Vergleich mit einbeziehen. Die Politik betont, dass alles getan wird, um die Zahl der Intensivbetten zu erhöhen, was tatsächlich auch geschieht: „Vor der Corona-Krise gab es in Deutschland bundesweit 28.000 Intensivbetten, davon 20.000 mit Beatmungsmöglichkeit. Diese waren durchschnittlich mit einer Quote von 70-80 Prozent belegt. (…) Aktuell konnten die Zahl der Intensivbetten auf 40.000 und die Beatmungsplätze auf 30.000 gesteigert werden.“ Diese imponierende Steigerung, dokumentiert auf der Homepage der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), verdeckt jedoch die Tatsache, dass es am Personal mangelt, welches notwendig ist, um diese Betten überhaupt nutzen zu können. Der Personalnotstand in der Intensivpflege hat seit Jahren eine traurige Tradition, der aufgebaute Puffer an wirklich einsatzfähigen Intensivbetten ist also deutlich kleiner, als es die nackte Zahl vermuten lässt.
Halten wir fest: Die gesundheitspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte, die zu dieser Situation geführt haben, sind eine wesentliche Ursache für die derzeitige Suspendierung bürgerlicher Freiheiten während der Corona-Krise. Mit der Suspendierung dieser Freiheiten kann der Staat sichtbar Handlungsfähigkeit im „Kampf gegen das Virus“ demonstrieren. Rigorose Maßnahmen sollen zu zählbaren Ergebnissen führen: Die Aussetzung der Versammlungsfreiheit bedeutet eine Reduzierung sozialer Kontakte. Eine Reduzierung sozialer Kontakte bedeutet eine Reduzierung der Zahl neuer Infektionen. Für politische Entscheider ist dies in Zeiten der Krise eine bestechend einfache Gleichung.
Dabei wird erfolgreich davon abgelenkt, dass der Staat dort, wo „der Kampf gegen das Virus“ tatsächlich stattfindet, bereits vor Jahren seine Handlungsfähigkeit im wahrsten Sinne des Wortes verkauft hat: Neben der Schließung zahlreicher öffentlicher Kliniken wechselten viele der verbliebenen Häuser in private Hände. Die Abrechnung von medizinischen Leistungen mittels Fallpauschalen trug dazu bei, dass sogenannte „Überkapazitäten“ konsequent abgebaut wurden. Aus einem öffentlichen vorsorge- und vorratsorientierten Gesundheitssystem wurde ein schlankes Gesundheitssystem ohne Puffer, dem zu schnell die Luft ausgeht, wenn nationale Notlagen wie die Corona-Pandemie eintreten.
Wenn man über die aktuelle Notlage hinausblickt, dann darf man auf die öffentliche Diskussion gespannt sein, wenn unser Gesundheitssystem sich ab Ende des Jahres vielleicht mit einem ganz anderen Ergebnis des aktuellen Lockdowns auseinandersetzen muss: Dem Corona-Babyboom. Welcher Gesundheitsminister will dann öffentlich erklären, dass wir leider nicht genügend Entbindungsstationen haben?
Die Gewinner der Entwicklung
Zu den wirtschaftlichen Gewinnern gehören die privaten Krankenhauskonzerne (zum Beispiel die Helios Kliniken GmbH (zur Fresenius AG gehörend) oder auch die Asklepios GmbH). Der Anteil der privaten Kliniken hat im hier betrachteten Vergleichszeitraum von der Schrumpfung der öffentlichen und gemeinnützig geführten Häuser stark profitiert:
1991 | 2017 | |
Anzahl öffentlicher Kliniken | 1.110 | 560 |
Anzahl gemeinnütziger Kliniken (z.B. Kirchen als Träger) | 943 | 662 |
Anzahl privater Kliniken | 358 | 720 |
An dieser Tabelle wird deutlich: Auf 720 Krankenhäuser hatte der Staat schon 2017 keinen direkten Einfluss mehr.
Private Betreiber müssen Gewinne erwirtschaften. Das ist der wichtigste Unternehmenszweck in der Privatwirtschaft und nicht verwerflich. Also wurden die privaten Kliniken auf Gewinn und Effizienz getrimmt: Bettenkapazitäten wurden möglichst knappgehalten, die Fallzahlen pro Vollzeit-Pflegekraft und die Apparatemedizin wurden hochgefahren und die Verweildauern von Patienten wurden reduziert. Der wirtschaftliche Erfolg wurde schnell sichtbar. So stieg zum Beispiel der Wert der Fresenius AG von 1994 bis 2017 von 1,22 Euro auf 76,35 Euro je Aktie.
Zu den politischen Gewinnern in der aktuellen Situation gehören die derzeitige Bundesregierung und die in ihr koalierenden Parteien CDU, CSU und SPD. Alle drei Parteien sind maßgeblich verantwortlich für den aktuellen Zustand unseres Gesundheitssystems. Jetzt konnten sie sich durch die Aussetzung der Grundrechte als handlungsstark präsentieren. Insbesondere die CDU profitiert davon und erfreut sich seit dem Corona-Lockdown steigender Zustimmung bei der Sonntagsfrage (hier durch FORSA erhoben):
Datum Sonntagsfrage: | 22.02.2020 (vor dem Lockdown) | 25.04.2020 (ca. 5 Wochen nach dem Lockdown) | Bundestagswahl-ergebnis 2017: |
CDU/CSU | 27 % | 39 % | 32,9 % |
SPD | 14 % | 16 % | 20,5 % |
Die Verlierer der Entwicklung:
Zu den Verlierern gehören alle anderen. Die politischen Verlierer sind die Parteien der Opposition, die die Entscheidungen der Bundesregierung in der Corona-Krise bisher überwiegend kritiklos mittragen. Das macht sich besonders bei den Grünen in schwindender Zustimmung bei den Wählern bemerkbar:
Datum Sonntagsfrage: | 22.02.2020 (vor dem Lockdown) | 25.04.2020 (ca. 5 Wochen nach dem Lockdown) | Bundestagswahl-ergebnis 2017: |
AFD | 10 % | 9 % | 12,6 % |
FDP | 7 % | 6 % | 10,7 % |
Linke | 10 % | 8 % | 9,2 % |
Grüne | 24 % | 15 % | 8,9 % |
Wie oben schon gesagt, bezahlen wir alle gerade mit der Einschränkung einiger Grundrechte, obwohl vielleicht mildere Mittel ausreichend wären. Somit gehören wir alle als Inhaber dieser Grundrechte ebenfalls zu den politischen Verlierern. Verlierer auf allen Feldern sind die Beschäftigten in den Krankenhäusern.
Die Schlagzeile „Krankenschwester platzt der Kragen: „Euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken!“ ging Ende März durch die Medien und wurde schnell bundesweit bekannt. In ihrem Wutausbruch beklagte eine Berliner Krankenschwester öffentlich die Arbeitsbedingungen und den Mangel an Schutzausrüstung in ihrem Krankenhaus, die sich unter der zusätzlichen Corona-Belastung verschärft und verschlechtert hatten. Sie beklagte ebenso das Außerkraftsetzen von Richtlinien zur Sicherheit der Krankenhausangestellten. Nicht erst seitdem werden Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in öffentlichen Reden zu Corona stets erwähnt und ihre Leistung wird – wie die des gesamten medizinischen Personals – völlig zu Recht gelobt und als herausragend beschrieben. Jetzt ist eine steuerfreie Corona-Prämie von 1.500 Euro in der Diskussion, die allen in der Krankenpflege Tätigen gezahlt werden soll. Es bleibt abzuwarten, ob es bei dieser Prämie bleibt und ob sich in der Diskussion weitere konkrete Verbesserungsvorschläge durchsetzen werden. Seit dem Wutausbruch sind einige Online-Petitionen gestartet worden, die eine Verbesserung der Situation in der Kranken- und Altenpflege zum Ziel haben und die zahlreiche Unterstützer gefunden haben.
Nicht zu vergessen, sind alle, die neben dem Verlust von Grundrechten auch wirtschaftliche Verluste durch den Lockdown erleiden: Arbeitnehmer, Unternehmer, Selbständige, Künstler und weitere.
Fazit:
Wir können aus dem hier Beschriebenen mindestens Folgendes ableiten:
- Die Schließung öffentlicher Krankenhäuser und der Verkauf einer großen Zahl der verbliebenen Einrichtungen an private Eigentümer war ein kapitaler Fehler, der uns jetzt teuer zu stehen kommt. Dabei werden wir als Gesellschaft gleich mehrfach zur Kasse gebeten: Während der Krise zahlen wir mit der Aussetzung von Grundrechten, mit der Gesundheit unserer Krankenpflegekräfte und mit der wirtschaftlichen Existenz zahlreicher Betriebe und kultureller Einrichtungen. Hier muss dringend umgesteuert werden.
- Wir beobachten, dass unter den aktuellen Corona-Bedingungen der politische Wille der Bundes- und Landesregierungen sehr schnell eine bisher ungekannte unmittelbare Wirkung im Alltag entfaltet: Neben der Einschränkung der Grundrechte werden per Verordnung Betriebe und Geschäfte geschlossen. Dies wäre so vor Corona nicht denkbar gewesen.
- Als Gesellschaft können wir die Erkenntnis unter 1. und die Beobachtung unter 2. als Momentum nutzen, um die Politik zu einer Umkehr in der Gesundheitsvorsorge zu bewegen: Die krisenfeste Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung muss wieder Staatsaufgabe werden. Dies ist dringend geboten, damit sich das aktuelle Szenario nicht wiederholt. Argumente aus der Politik, dass ein Umbau des aktuellen Gesundheitssystems aufgrund zahlreicher politischer und finanzieller Sachzwänge nicht möglich sei, sind kraftlos: Alles, was durch die Politik auf diesem Feld entschieden wurde, kann auf dem gleichen Weg wieder revidiert werden. Wenn es notwendig ist, Grundrechte einzuschränken, um das Gesundheitssystem zu schützen, dann ist das ein unüberhörbarer Weckruf. Verantwortlich für die aktuelle Situation ist nicht ein heimtückisches Virus. Verantwortlich sind vielmehr die politischen Entscheidungsträger, die unser Gesundheitssystem in die Lage gebracht haben, schutzbedürftig zu sein. Es geht darum, den Willen zur Umsteuerung in der Gesundheitspolitik zu wecken und ihn gegen Widerstände wachzuhalten. Dazu braucht es unser aller Engagement in einer öffentlichen Debatte nach Corona, damit wir unsere Freiheiten nicht noch einmal wegen eines geschwächten Gesundheitssystems verlieren.
Marc Schlichtherle, geboren 1965, ist diplomierter Sozialwissenschaftler. Er lebt mit seiner Familie in Bremen und ist in der Friedensbewegung engagiert.
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