Gaza: Meine Familie hat keine Chance zu fliehen – Im Gespräch mit Iman Abu El Qomsan

Seit mehr als 9 Monaten wird Gaza bombardiert, fast 40.000 Palästinenser wurden von Israel getötet. In Deutschland wird der Krieg jedoch allzu oft immer noch als Verteidigung dargestellt und die Perspektive der Menschen in Gaza ausgeblendet und ignoriert. Wir haben mit Iman Abu El Qomsan, die mindestens 88 Familienmitglieder in Gaza verloren hat, gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Iman, deine Eltern stammen beide aus Gaza, ein Großteil deiner Familie lebt noch in Gaza, wie geht es ihnen?

Iman Abu El Qomsan: Das Leben in Gaza ist für die Menschen unbeschreiblich schwer. Es gibt keinen sicheren Ort mehr. Seit neun Monaten fliehen sie von Ort zu Ort und sind ständig in Gefahr, bei den Bombardierungen verletzt oder getötet zu werden. Über 90% der Bevölkerung sind auf der Flucht und müssen verzweifelt nach Schutz suchen, mindestens 38.000 wurden getötet

Die Menschen leiden unter Hunger und Durst, da die Versorgung mit Trinkwasser knapp ist. Das Gesundheitssystem ist völlig überlastet und teilweise zusammengebrochen, was die Ausbreitung von Krankheiten begünstigt. Die medizinische Versorgung ist unzureichend, es fehlt an lebenswichtigen Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Trotz dieser extremen Bedingungen zeigen die Menschen in Gaza eine bemerkenswerte Stärke und Durchhaltevermögen. Sie versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen und sich gegenseitig zu unterstützen, auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt.

Meine Familie in Gaza ist mir sehr wichtig, und ich hoffe zutiefst, dass sie trotz allem so gut wie möglich zurechtkommt. Ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen sind meine größte Sorge, während sie weiterhin mit den täglichen Herausforderungen und der unvorstellbaren Belastung umgehen müssen.

Es gehört zum Leben dazu, dass geliebte Menschen sterben. Doch viele Kinder in Gaza erleben in diesem Krieg so häufig, so schnell und soviel Verlust, wie es kein Kind erleben sollte.

Die Freiheitsliebe: Viele Familienmitglieder von dir wurden im Krieg getötet, unter anderem bei den Bombardierungen Jabalias, was weißt du über ihren Tod?

Iman Abu El Qomsan: Bisher habe ich mindestens 88 Familienmitglieder durch israelische Bombardierungen verloren. Innerhalb von zwei Wochen wurden 55 meiner Verwandten getötet. Einige weitere Familienmitglieder sind noch vermisst, darunter mein 2-jähriger Großcousin Fouad. Die Bombardierungen waren brutal und rücksichtslos, sie trafen Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser. Die Angriffe waren so heftig und unerwartet, dass viele keine Chance hatten, zu entkommen oder sich zu schützen. Einige von ihnen wurden in ihren Häusern getötet, andere auf der Flucht oder in vermeintlich sicheren Zufluchtsorten. Es gibt keine Worte, die den Schmerz und den Verlust beschreiben können, den meine Familie und ich erlebt haben.

Die Freiheitsliebe: Der Krater eures Hauses in Jabalia fand sich sogar auf den Covern deutscher Zeitungen, wie hast du die Berichterstattung wahrgenommen?

Iman Abu El Qomsan: Ich empfand die Berichterstattung als sehr einseitig. Palästinensisches Leid wurde kaum bis gar nicht gezeigt und wenn wurde es größtenteils relativiert. In fast allen deutschen Zeitschriften und Berichten über die Bombardierung von Jabalia, wurde die massive Zerstörung in Jabalia relativiert und der Krater in den Kontext von Verteidigung gesetzt. Doch es ist keine Verteidigung Wohnhäuser zu bombardieren. Während die Bombardierung relativiert wurde, hatte ich das Bild meiner verstorbenen Familienmitglieder in weißen Leichentüchern, die neben dem Krater aufgebahrt wurden, vor Augen.

Es war erschütternd zu sehen, wie unser persönliches Leid und die Zerstörung unseres Hauses in den Medien dargestellt wurden, ohne die menschlichen Tragödien dahinter zu beleuchten. Während der Krater in den Nachrichten präsent war, wurden die Geschichten der Menschen, die ihr Leben verloren haben oder unter den Trümmern liegen ignoriert.

Die einseitige Darstellung hat das Ausmaß des Leidens, das wir und viele andere Familien in Gaza erleben, nicht angemessen widergespiegelt. Ich wünschte, dass die Medien mehr über die menschlichen Schicksale berichten würden, die hinter den Schlagzeilen stehen. Es ist wichtig, dass die Welt das volle Ausmaß der Tragödie versteht und erkennt, dass hinter jedem Bild eines zerstörten Hauses unzählige verlorene Leben und gebrochene Familien stehen.

Die Freiheitsliebe: Du berichtest selbst viel auf Social Media über die Situation in Gaza, liegt das auch daran, dass zu wenige Infos in Deutschland verbreitet werden, oder wie kam es dazu?

Iman Abu El Qomsan: Ja, ich schreibe viel auf Social Media über die Situation in Gaza. Das liegt zum großen Teil daran, dass in Deutschland nur sehr wenige Informationen über die tatsächlichen Bedingungen und das Leid der Menschen in Gaza verbreitet werden. Das humanitäre Ausmaß der Katastrophe findet erst langsam Einzug in die Berichterstattung, die persönlichen Schicksale kommen so gut wie gar nicht vor, anders als bei anderen Opfern.

Ich begann zu schreiben, weil ich das Bedürfnis hatte, die Geschichten und die Schicksale meiner Familie und der vielen anderen Menschen in Gaza zu teilen. Durch Social Media habe ich die Möglichkeit, eine direktere und authentischere Perspektive zu bieten und die Stimmen derjenigen zu verstärken, die oft nicht gehört werden.

Indem ich meine persönlichen Erfahrungen und die Geschichten meiner Familie teile, hoffe ich, ein umfassenderes Bild zu vermitteln und das Bewusstsein für die Situation in Gaza zu erhöhen. Es ist mir wichtig, dass die Welt erfährt, was wirklich passiert, und dass das Leid und die Herausforderungen, denen die Menschen hier täglich gegenüberstehen, nicht ignoriert werden.

Die Freiheitsliebe: Du hast nicht nur bei der Bombardierung Jabalias mehrere Familienmitglieder verloren, sondern auch mehrere Verwandte bei bei Bombardierungen einige Wochen später. Wie hältst du das alles aus?

Iman Abu El Qomsan: Es ist kaum auszuhalten, das Leid begleitet uns nun seit über 9 Monaten, jede Hoffnung auf einen Waffenstillstand wird von Nethanjahu zerstört. Ich habe Familie sowohl im Rimal, Sheikh Radwan als auch in Jabalia. Unser Haus im Rimal, wo ich als Kind häufig war, wurde früh im Verlauf des Krieges bombardiert. Meine Familie floh als die Bombardierungen näher kamen direkt in den Süden. Ich habe die Bilder unseres zerstörten Hauses gesehen und ich kann mich sehr gut an die Gegend erinnern. Mit meinen Cousinen bin ich oft die 5 Minuten zum Meer gelaufen, um zu schwimmen, die Sonne zu genießen oder etwas am Strand zu essen, meine Lieblingseisdiele Kazem war sogar nur zwei Minuten entfernt. Jetzt ist alles zerstört.

Die Gegend, die einst voller Leben war, ist nun ein Trümmerfeld. Es ist schwer zu begreifen, dass die Orte, die einst so vertraut und liebgewonnen waren, nun verschwunden sind. Die Bombardierungen haben nicht nur Gebäude, sondern auch Erinnerungen und Lebensgrundlagen zerstört. Viele Menschen, die ich kannte, sind entweder getötet oder vertrieben worden.

Ein Großteil derjenigen, die nicht in Jabalia getötet wurden, wurden in Sheikh Radwan getötet, wo meine Tante gemeinsam mit ihrer Familie und deren Kindern lebte. Eine Bombe traf ihr Haus, bis auf einen Cousin wurden sie alle getötet. Er wurde durch den Bombeneinschlag aus dem Haus geworfen und brach sich etliche Knochen, doch wenigstens überlebte er.

Die Freiheitsliebe: Kann man dieses Leid wirklich verarbeiten oder bist du grade noch bei den Gedanken, bei jenen die in Gaza leben?

Iman Abu El Qomsan: Es ist schwer, dieses Leid wirklich zu verarbeiten. Die Erinnerungen und der Schmerz sind allgegenwärtig, und oft finde ich mich in Gedanken bei jenen, die in Gaza leben und starben. Die ständige Sorge um meine Familie und Freunde, die täglich mit den Folgen des Konflikts konfrontiert sind, lässt mich nicht los.

Die Trauer und der Verlust von über 88 Familienmitgliedern sind eine immense emotionale Belastung, die schwer zu bewältigen ist. In solchen Momenten ist es kaum möglich, das Leid vollständig zu verarbeiten. Stattdessen versuche ich, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um das Bewusstsein für die Situation in Gaza zu schärfen und den Menschen dort eine Stimme zu geben.

Ein Großteil meiner Gedanken ist aktuell bei meinen Großeltern, die alt und krank sind. Sie haben keine Medikamente mehr, obwohl sie dringend bräuchten. Mein Opa schläft in einem Zelt am Strand, weil sein Haus zerstört wurde und es keinen sicheren Zufluchtsort gibt.

Die Freiheitsliebe: In anderen Ländern werden Palästinenser, die Familie in Gaza verloren haben, von der Regierung empfangen, sie erhalten Unterstützung durch den Staat, wie ist es in Deutschland?

Iman Abu El Qomsan: In Deutschland ist es nicht so, dass Palästinenser, die Familie in Gaza verloren haben, von der Regierung empfangen oder unterstützt werden, im Gegenteil unsere Trauer wird ausgegrenzt und unser Protest kriminalisiert. Andere Länder dagegen haben vom Staat geförderte Unterstützungsmaßnahmen, die gezielt auf die Bedürfnisse von Palästinensern ausgerichtet sind, die unter den Folgen dem Krieg leiden. Andere Präsidenten, Premierminister und Minister treffen sich mit Palästinensern, um ihre Perspektive zu hören, in Deutschland hat sich nicht ein einziger Minister geäußert, als in Gaza eine deutsche Familie getötet wurde.

Für viele Palästinenser in Deutschland bedeutet dies, dass sie auf private Netzwerke und selbstorganisierte Hilfe angewiesen sind, um mit den Herausforderungen des Verlusts von Familienmitgliedern und der Zerstörung von Eigentum umzugehen. Es bleibt ein Wunsch vieler Betroffener, dass Deutschland eine aktivere Rolle übernimmt, um humanitäre Hilfe und Unterstützung für die Opfer von Konflikten, einschließlich derjenigen in Gaza, zu verstärken.

Die Freiheitsliebe: Gibt es irgendwen der dich unterstützt?

Iman Abu El Qomsan: Ja, es gibt Menschen, die mich unterstützen. Meine Familie und Freunde sind eine große Stütze für mich. Wir trösten uns gegenseitig und versuchen, so gut es geht füreinander da zu sein. Der Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft gibt mir Kraft. Gemeinsam teilen wir die Erinnerungen an die Verlorenen und finden Trost in dem Wissen, dass wir nicht allein sind.

Aber es sind nicht nur die Menschen, die ich kenne, die mir Unterstützung bieten. Ich habe auch viele liebe Nachrichten von Leuten erhalten, die ich nicht kenne. Diese Nachrichten kommen oft unerwartet, aber sie bedeuten mir sehr viel. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen Mitgefühl und Solidarität zeigen, selbst wenn sie mich persönlich nicht kennen. Ihre Worte der Ermutigung und Unterstützung geben mir Hoffnung und zeigen mir, dass es auf der Welt noch viel Menschlichkeit und Güte gibt. Auch die weltweiten Proteste in Solidarität mit Gaza sind eine Quelle der Hoffnung, denn sie zeigen uns, dass wir nicht alleine sind.

Die Freiheitsliebe: Was würdest du dir von Deutschland wünschen, für deine Familie und Allgemein?

Iman Abu El Qomsan: Als Palästinenserin, die in Deutschland lebt und deren Familie in Gaza schweres Leid erfahren hat, wünsche ich mir vor allem mehr Verständnis, Empathie und Solidarität von der deutschen Regierung, sowie ein Ende der militärischen Unterstützung Israels und eine klare Positionierung an der Seite der Menschenrechte statt der Unterstützung einer rechten Regierung, die von Besatzung und Siedlungen in Gaza träumt.

Wenn die Bundesregierung ihre eigenen Worte ernst meint, müsste sie unabhängige Untersuchungen aller Verbrechen in diesem Krieg unterstützen, darüber hinaus könnte sie sich an anderen Ländern ein Beispiel nehmen und verletzte Palästinenser in deutschen Krankenhäusern behandeln. Doch selbst diese Minimalanforderungen, die alle erfüllen sollten, die sich humanistisch nennen, erfüllt Deutschland nicht.  

Die Freiheitsliebe: Gibt es etwas, womit man dich unterstützen kann?

Iman Abu El Qomsan: Jede und jeder kann etwas tun. Wir können auf die Situation in Gaza aufmerksam machen, wir könne widersprechen, wenn Palästinenser entmenschlicht werden und wir können jene informieren, die bisher noch zu wenig wissen.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

Imans Cousine Ruba wurde in Gaza durch Bomben schwerverletzt, die Kosten für die Behandlung werden in Ägypten nicht vom Staat übernommen, sie ist daher auf Hilfe angewiesen. Wer sie unterstützen will, kann dies über den folgenden Link.

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2 Antworten

  1. ich bin zutiefst erschüttert über das was ich gerade gelesen habe und finde es eine Schande das kaum Hilfe bis heute stattfindet von der deutschen Regierung und wie man es auch betrachtet kann dies nicht gerechtfertigt werden mit dem Argument dies entspräche deutsche Staatsräson . Ich hoffe so sehr daß diese Hölle auf Erden bald ein Ende haben wird aber die Schande für Deutschland wird lange bleiben wenn nicht für immer. Ich wünsche den Menschen in Gaza sehr viel Kraft deses zu durchstehen . Herzlichst , L Hohfeld-Stoutjesdijk

  2. Es tut mir sehr Leid, was Ihre Familie alles durchmacht… ABER es tut mir auch Leid, was die Israelische Familien durchmachen müssen.
    Wenn die Israelis das Gefühl hätten, dass die Mehrheit der Palästinensische Bevölkerung den Überfall am 7 Oktober als abscheulich empfunden hätten, oder, wenn die Hamas jetzt mindestens sagen würden: wir wollen die Palästinensische Menschen verschonen und geben auf, dann würden die Israelis höchst wahrscheinlich auch aufhören.
    Ich hoffe immer noch auf 2 Staaten, Israel und Palästina, die beiden in Frieden miteinander leben könnten. Dafür wären auch viele Israelis bereit sich ganz vom Westbank und Ost Jerusalem zurückzuziehen, mit der Altstadt Jerusalems offen für beide Völker…
    Dies ist mindestens mein Traum !

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