Morgen wird in Israel gewählt, wieder einmal ist eine Regierung zerbrochen, lange bevor die Legislatur zuende war. Die neuen Wahlen könnten einen weiteren Rechtsruck bedeuten, wie Markus Bickel, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel, beschreibt.
Die Freiheitsliebe: Israel wählt am kommenden Dienstag wieder einmal das Parlament. Was sind die Ursachen für die erneut vorgezogenen Wahlen?
Markus Bickel: Die Koalitionsregierung zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Benny Gantz ist schon im vergangenen Dezember zerbrochen. Der formale Grund: Netanjahu hielt sich nicht an die Vereinbarung, bis zum Jahresende einen Doppelhaushalt für 2020 und 2021 durch das Kabinett beschließen zu lassen. Das zieht in Israel Neuwahlen nach sich. Doch politisch war das Bündnis zwischen Gantz und dem Langzeitpremier bereits vom ersten Tag an fragil. Im Grunde ist es dem früheren Generalstabschef der Armee nie gelungen, sich gegen Netanjahu durchzusetzen.
Im Gegenteil: Viele liberale und konservative Israelis, die in ihm noch bei den drei Parlamentswahlen 2019 und 2020 einen Hoffnungsträger und potenziellen Nachfolger Netanjahus sahen, betrachten ihn nun als Opportunisten, weil er sich überhaupt auf eine gemeinsame Regierung mit dem wegen Bestechung, Betrug und Untreue angeklagten Likud-Chef einließ. Die Rechnung dafür dürfte Gantz kommende Woche kassieren: Umfragen zufolge kann sich Blau-Weiß nur fünf oder sechs der 120 Sitze in der Knesset sichern. Bei den letzten Wahlen waren es noch 35 Sitze.
Die Freiheitsliebe: Die israelische Politik ist, wenn man aktuellen Umfragen Glauben schenkt, weiter nach rechts gerückt. Woran liegt das und wo positionieren sich Yamina und New Hope?
Markus Bickel: Das stimmt: Mehr als 100 Knesset-Abgeordnete dürften künftig aus Parteien kommen, die sich im Zentrum oder rechts davon positionieren. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Netanjahu durch seine Koalitionen mit Parteien der religiösen Rechten immer mehr von deren Positionen übernommen hat – sei es bei der Ausweitung der Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, sei es bei der Stärkung des orthodoxen Judentums gegenüber liberalen Strömungen. Auch das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz, das den jüdischen Charakter Israels festschreibt, hat zu diesem Rechtsruck beigetragen. Die beiden stärksten Konkurrenten Netanjahus aus dem rechten Lager, Gideons Saars Neue Hoffnung, und die Jamina (die Rechte) von Naftali Bennet, stellen diesen Kurs nicht infrage, sondern gehen eher noch darüber hinaus: sei es beim rücksichtslosen Umgang mit Arbeitsmigranten, bei der Verfolgung von Asylbewerbern oder der Forderung nach Annexion von großen Teilen des Westjordanlands. Anders als Saar jedoch schließt Bennet eine Koalition mit Netanjahu nicht aus und hofft insgeheim darauf, als Zünglein an der Waage fungieren zu können, das Netanjahu am Ende eine knappe Mehrheit in der Knesset sichert.
Die Freiheitsliebe: Wird es eine rechte Regierung geben und was wären ihre Projekte?
Markus Bickel: Ob es Netanjahu wirklich gelingt, sich wieder eine Mehrheit zu sichern, hängt möglicherweise nur von einzelnen Stimmen ab. Dadurch, dass so vielen Parteien wie nie zuvor der Einzug in die Knesset gelingen könnte, ist aber auch eine Mehrheit für ein vom liberalen Politiker Jair Lapid von Jesch Atid geführten Bündnis möglich, das mehrere rechte Parteien mit einbinden müsste. Insofern ist die Frage nicht unbedingt, wie rechts die neue Regierung wird, sondern ob es gelingt, eine Mehrheit gegen Netanjahu zu bilden. Diese Koalition wäre ideologisch sehr disparat und würde wohl vor allem darauf setzen, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern. Andere gesellschaftspolitische Fragen stünden hintan.
Bliebe Netanjahu tatsächlich an der Macht, wäre er wohl zu größeren Zugeständnissen an die religiös-rechtsgerichteten Parteien Schas, Religiöse Zionisten, Vereintes Tora-Judentum und die Jamina gezwungen. Ein weiterer Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und eine neuerliche Debatte um Annexion des Westjordanlands – und einen damit verbundenen Transfer der palästinensischen Bevölkerung – wären die Folge. Das aber dürfte international auf Kritik stoßen und sich kaum gegen den neuen US-Präsidenten Joe Biden durchsetzen lassen.
Die Freiheitsliebe: Die israelische Linke kann dagegen kaum gewinnen und verharrt auf niedrigem Niveau. Welche Ursachen hat das?
Markus Bickel: Dafür gibt es mehrere Gründe: Neben der weltweiten Krise der Sozialdemokratie hängt der Niedergang von Arbeiterpartei und Meretz auch mit dem demographischen Wandel zusammen, den Israel seit dreißig Jahren durchläuft. Als Yitzhak Rabin 1992 die Wahl gewann, hatte das Land weniger als fünf Millionen Einwohner, heute sind es mehr als neun – viele davon Einwanderer aus der früheren Sowjetunion, die mit den linken Idealen der Gründergeneration von 1948 wenig anfangen können. Und auch die ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereintes Tora-Judentum haben ihren Einfluss dank des Bevölkerungswachstums ihrer Anhängerschaft ausweiten können: Machte der Anteil der streng religiösen Israelis 2009 lediglich zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, so waren es 2020 bereits knapp 13 – Tendenz steigend. Aber natürlich spielt auch eine Rolle, dass der Friedensprozess zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde in den vergangenen Jahren kein Thema mehr war. Und die Entscheidung der Arbeitspartei, in Koalitionen mit Netanjahu einzutreten, hat ihrer Glaubwürdigkeit auch nicht geholfen. Vielleicht gelingt es ihrer neuen Vorsitzenden Merav Michaeli jedoch, der traditionsreichen Awoda neue Stärke einzuhauchen. Insbesondere Frauen, die vor einem Jahr noch Gantz gewählt haben, könnte die bekennende Feministin zurückgewinnen.
Die Freiheitsliebe: Die Vereinte Liste hat eine ihrer größeren Parteien, die Islamische Bewegung verloren. Ging es dieser, wie von ihr behauptet, wirklich um gesellschaftspolitische Fragen, oder versucht sich Ra‘am, regierungsfähig zu geben?
Markus Bickel: Sowohl als auch: In Fragen wie der Ehegesetzgebung oder LGBTIQ*-Rechten vertritt die Ra‘am (Vereinigte Arabische Liste, Anm. d. Red.) von Mansur Abbas deutlich konservativere Positionen als die drei anderen Parteien der Vereinten Liste, das sind Balad, Chadash und Ta’al. Insofern ist das Bündnis politisch sozusagen an seiner Sollbruchstelle auseinandergefallen. Zugleich setzt der Ra’am-Vorsitzende Abbas ganz offensichtlich auf eine Annäherung an Netanjahu, der in diesem Wahlkampf anders als in der Vergangenheit unverhohlen um arabische Wähler wirbt. Ob die Rechnung von Abbas aufgeht, sich als Königsmacher zu profilieren, der dem Langzeitregierungschef möglicherweise doch noch eine Mehrheit sichert, ist allerdings völlig offen: Manchen Umfragen zufolge wird den Islamisten nicht einmal der Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde gelingen. Und der Preis, den die palästinensische Bevölkerung Israels für ein Bündnis eines ihrer Repräsentanten mit Netanjahu zahlen müsste, wäre ebenfalls hoch: Viele linke arabische Israelis wünschen sich deshalb, dass Abbas für seinen Anbiederungskurs mit dem Ausscheiden aus der Knesset bestraft wird – und nicht mit einem Kabinettsposten.
Die Freiheitsliebe: Welche Auswirkungen werden die Wahlen auf eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts haben?
Markus Bickel: Ich fürchte: keine. Die Zweistaatenlösung oder eine andere Verhandlungslösung ist im Wahlkampf kein Thema gewesen, und auch die ungleiche Impfpolitik in Israel und den palästinensischen Gebieten zeigt, wie gering das Interesse der israelischen Bevölkerungsmehrheit an dem Thema inzwischen ist. Offenbar haben sich viele damit abgefunden, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete anhält – und zwei Rechtssysteme auf einem Territorium fortbestehen. Daran wird auch die neue US-Administration auf Dauer nichts ändern. Für Biden hat die Iran-Politik Priorität im Nahen Osten, nicht die Regelung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Und durch die Normalisierungsabkommen, die Netanjahu vergangenes Jahr mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko (sowie Sudan, Anm. d. Red.) abschließen konnte, ist es ihm gelungen, die Arabische Liga weiter an die Seite Israels zu ziehen – auf Kosten der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.
Markus Bickel leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Der Journalist und Diplom-Politologe war zuvor Chefredakteur des Journals von Amnesty International in Berlin und Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kairo.
Web: www.weltreporter.net/bickel
Twitter: @markusbickel
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