Buraij Flüchtlingslager - Bild: Motaz Azaiza

Frieden in Nahost: Wie die EU versagt

Die EU versagt massiv bei der Arbeit für Frieden in Israel und Palästina: Statt Waffenlieferungen und Wegschauen wären Einsatz für einen Waffenstillstand und politische Vermittlung Pflicht. Ein Gastbeitrag von Johannes Fehr, dem stellvertretenden Vorsitzender MERA25

Angesichts des schrecklichen Verlustes an zivilen Leben während des jüngsten Angriffs der Hamas auf Israel und der andauernden, ungerechtfertigten kollektiven Bestrafung der Menschen in Gaza, richtet sich der Blick der Menschheit aktuell auf Israel und Palästina. 

Doch dieser Blick könnte unterschiedlicher nicht sein. In Deutschland gibt es eine einseitige Haltung vieler Medien und etablierter Parteien sowie großer Organisationen der Zivilgesellschaft. Ständig lesen wir Erklärungen und sehen Berichte: Die Kriegsverbrechen der israelischen Armee gegen die Palästinenser:innen werden als “Verteidigung” dargestellt und der Fokus liegt auf den schrecklichen Taten der Hamas. Diese sind natürlich genauso zu verurteilen wie jeder Angriff auf Zivilist:innen und andere Kriegsverbrechen, egal wer diese verübt.

In vielen europäischen Ländern sieht die Lage jedoch anders aus. Die Tagesschau schreibt beispielsweise in einem verwunderten Bericht über “mehr Nähe zu Palästinensern als zu Israel” in Spanien. Es ist von Zehntausende die Rede, die den Paseo de la Castellana in Madrid hinunterziehen und skandieren „No es una guerra, es un genocidio“ – „Das ist kein Krieg, das ist ein Genozid“. Die Menschen in Madrid fordern einen sofortigen Waffenstillstand und „Freiheit für Palästina“. In London und vielen anderen europäischen Städten gab es die größten Demonstrationen seit vielen Jahren.

Droht ein Völkermord?

Diese Gefahr scheint in Deutschland kaum jemand zur Kenntnis zu nehmen. Dabei spricht alles dafür: Die israelische Armee hat einen Evakuierungsbefehl für den nördlichen Teil des Gazastreifens erlassen, wodurch 1,1 Millionen Palästinenser:innen aus ihren Häusern vertrieben werden. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Genfer Konventionen

„Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff, alles wird gestoppt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend“, so beschreibt der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant die Maßnahmen. Als Putin letztes Jahr in der Ukraine ähnliches veranlasste, wurde er zu Recht als Kriegsverbrecher gebrandmarkt.

Der israelische Außenminister spricht von einer Verkleinerung des Gazastreifens, also einer völkerrechtswidrigen Eroberung von Gebiet. Premierminister Netanyahu bezeichnet die Hamas als die neuen Nazis und gegen die ist bekanntlich alles erlaubt. Ein rechter israelischer Politiker fordert im Fernsehen die Vernichtung Gazas, wie Dresden 1945.

Und den Worten folgen Taten. Der Gazastreifen wird von der israelischen Regierung blockiert, sodass Krankenhäuser in Gaza mittlerweile ohne Betäubung operieren müssen. Es fehlt an Wasser, Lebensmittel und Energie. Dazu kommt ein massives Bombardement mit mehreren Tausend Toten schon jetzt, die Hälfte davon Kinder. Eine Bodenoffensive hat begonnen. Kirchen, Moscheen, Wohnhäuser, Krankenhäuser, Bäckereien, alles wird zerstört. Auch Flüchtlingslager und Evakuierungsrouten werden angegriffen.

Frage: Wenn man ein Gebiet, das etwa 40 Kilometer lang und 6 bis 12 Kilometer breit ist, abgeriegelt hat und alle lebenswichtigen Lieferungen bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Wenn man dann massive Bombardierungen beginnt, was anderes als ein Völkermord an den 2,2 Millionen dort lebenden Menschen droht dann?

Diese Frage müssten auch die Politiker:innen und Medien in Deutschland stellen, das wäre unsere historische gemeinsame Verantwortung. So wie das Thema aktuell behandelt wird, setzen wir unsere Menschlichkeit aufs Spiel

Die Gemengelage in der EU

Während von Völkermord in Deutschland fast garnicht die Rede ist, sieht das zum Beispiel in Spanien und Griechenland anders aus. 

Die spanische Sozialministerin Ione Belarra, spricht von „ethnischer Säuberung“ am palästinensischen Volk und fordert von der Europäischen Union einen härteren Kurs gegen Israel. „Wir können handeln, und zwar sofort: Wir können diplomatische Beziehungen zu Israel einstellen“, so Belarra. „Wir können wirtschaftliche Sanktionen gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und die israelische politische Führung verhängen, wir können ein Waffenembargo vollziehen und wir können Netanyahu vor den internationalen Strafgerichtshof bringen.“ 

Griechenland: MERA25 und das International Centre of Justice for Palestinians informieren die griechische Regierung und Premierminister Kyriakos Mitsotakis über ihre mögliche Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Kaum lässt sich in den Sitzungen der EU eine gemeinsame Linie finden. Es wird darüber gestritten, ob man humanitäre Feuerpausen (Mehrzahl) oder eine humanitäre Feuerpause (Einzahl) fordern soll. Für die Bundesregierung und Außenministerin Annalena Baerbock klingt die Einzahl zu sehr nach einer Forderung nach Waffenstillstand. Das ist genauso beschämend, wie die Enthaltung Deutschlands in der UN-Vollversammlung bei der Abstimmung für einen Waffenstillstand. Eine große globale Mehrheit stimmte dafür, die EU ist auch hier gespalten.

Exemplarisch für das Versagen der EU steht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Mit ihrer Reaktion hat sie gegen die rechtlichen Bestimmungen der Europäischen Union verstoßen und grundlegenden moralischen Anstand missachtet. Während sie Angriffe auf Zivilist:innen in Israel verurteilt hat, hat sie die Abriegelung der Zivilist:innen in Gaza von Wasser, Lebensmitteln und Strom und ihre Bombardierung unterstützt. Dieses Handeln missachtet internationale, völkerrechtliche Gesetze und das demokratische Mandat der EU-Mitgliedstaaten. In einer Petition mit über 60.000 Unterschriften fordern MERA25 und DiEM25 in Deutschland deshalb ihren Rücktritt. 

Wie soll das weitergehen?

Wie in der Ukraine kann auch der Krieg um Gaza nicht militärisch gelöst werden. Es kann keinen militärischen Sieg geben, der nicht noch mehr Kriegsverbrechen, noch mehr Leid, noch mehr Ungerechtigkeiten gegen die Schwächsten – und damit noch mehr Kriege – nach sich zieht.

Das Leiden der Menschen vor Ort ist unermesslich und unsere Empathie für alle Betroffenen ist von großer Bedeutung. Angesichts der Eskalation der Gewalt und der Gefahr eines Völkermordes fordern wir deshalb dringend:

  • einen sofortigen Waffenstillstand und den Stopp der Vorbereitungen Israels zur Invasion von Gaza-Stadt.
  • die Wiederaufnahme der Versorgung mit Strom, Wasser, Lebensmitteln und humanitären Gütern in den Gazastreifen.
  • die Öffnung von humanitären Korridoren und Evakuierungsrouten für die Bewohner:innen des Gazastreifens, wie es das Völkerrecht vorsieht.
  • die Freilassung von Geiseln und politischen Gefangenen auf beiden Seiten und die Wiederaufnahme von politischen Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der UN.

Um dies zu erreichen, müssten Deutschland und die EU sich gegen Waffenlieferungen und Wegschauen entscheiden. Schon viel zu lange sind die Palästinenser:innen der Unterdrückung, der militärischen Besetzung und der Entmenschlichung ausgesetzt. Ein neues, dunkles Kapitel wurde aufgeschlagen. Sie stellt sogar die Apartheid des israelischen Staates in den Schatten, wie sie von Human Rights Watch, B’tselem und Amnesty International beschrieben wird.

Langfristig muss das historische Land Palästina ein sicheres, friedliches Land sowohl für Jüd:innen als auch für Palästinenser:innen sein. Die Mitglieder der jüdischen und palästinensischen Diaspora müssen ihr Recht auf Rückkehr behalten. Jüd:innen und Palästinenser:innen müssen die gleichen Rechte auf Freiheit, Sicherheit, Freiheit von Zwang und Diskriminierung, Vereinigungsfreiheit und Stolz auf ihre Identität und Nationalität haben.

Progressive Humanist:innen müssen sich für ein Ende der vom israelischen Staat mit rücksichtsloser Effizienz betriebenen Apartheidpolitik, für die Einstellung der Kämpfe und für ein demokratisches Gebilde einsetzen, in dem sowohl Jüd:innen als auch Palästinenser:innen frei von Angst und Zwang leben können. DiEM25 fordert hierzu eine Lösung mit einem einzigen demokratischen und säkularen Staat.

Unsere Hausaufgaben

Auch innerhalb Europas ist nicht Wegschauen, sondern Hinsehen unsere Aufgabe. Europas Medien und Politiker:innen arbeiten daran, Rassismus wieder normal zu machen. Wir müssen uns dagegen wehren, denn: Antisemitismus ist nie die Antwort. Antimuslimischer Rassismus ist nie die Antwort. Vorurteile und Hass sind nie die Antwort. 

Wir schließen uns den über 100 in Deutschland lebenden jüdischen Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen und ihrem offenen Brief aus der taz an: „Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben.“

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