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Frei und solidarisch leben – Universelles Sozialsystem und dessen Realisierung

Das bestehende Sozialsystem ist mangelhaft, bürokratisch und repressiv. Es ist nicht in der Lage, soziale Ungerechtigkeiten zu beheben. Daher wird ein alternatives Konzept diskutiert, das universelles Sozialsystem. Im Folgenden werden das bestehende Sozialsystem skizziert, die Merkmale eines universellen Sozialsystems dargelegt und dessen konkrete Realisierung beschrieben.

Das bestehende Sozialsystem

Das deutsche öffentliche Sozialsystem kann grob in drei Bereiche eingeteilt werden:

Infrastruktureller und dienstleistender Bereich: Dazu gehören beispielsweise Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen, Kindertagesstätten, beratende und unterstützende Dienstleistungen und ähnliches. Diese sind steuer- beziehungsweise beitragsfinanziert. Insbesondere die ungenügende personelle und infrastrukturelle Ausstattung dieses Bereichs liegt im Fokus der Kritik, auch die geringen Einflussmöglichkeiten der Nutzer*innen, die Angebote qualitativ und quantitativ besser zu gestalten.

Monetäre Sozialversicherungsleistungen: Dazu gehören Geldleistungen wie Arbeitslosengeld, Krankengeld, gesetzliche Rente (im Alter und bei Erwerbsminderung). Diese werden größtenteils beitragsfinanziert, teilweise aus Steuermitteln bezuschusst. Im Fokus der Kritik steht die Ausgrenzung aus dem Leistungssystem, wenn keine Beiträge für diese gezahlt worden sind, auch deren Abhängigkeit in der Höhe vom vorangegangenen Lohn. Das heißt, wer nicht oder wenig eingezahlt hat, bekommt nichts oder wenig. Dieses System reproduziert soziale Ungleichheiten des Arbeitsmarktes. Dazu kommt, dass die sogenannte Selbstverwaltung dieser Leistungssysteme undemokratisch organisiert ist.

Monetäre Sozialleistungen: Dazu gehören zum Beispiel alle Grundsicherungsleistungen (Grundsicherung für Arbeitsuchende = Hartz IV, Hilfe zum Lebensunterhalt = HLU und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung), Wohngeld, BAföG, Sonderleistungen für Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Sozialhilfe, Kindergeld, Kinderzuschlag usw. Diese werden steuerfinanziert. Im Fokus der Kritik stehen bei den bedürftigkeitsgeprüften steuerfinanzierten Leistungen deren bürokratischer und stigmatisierender Charakter mit der Folge der Nichtinanspruchnahme zustehender Leistungen, sowie deren völker- und grundrechtswidrige Ausgestaltung als Mittel der Zwangsarbeit bei Hartz IV und Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU).

Neben dem öffentlichen Bereich der sozialen Absicherung, der in weiten Teilen exkludierend, stigmatisierend und uneffektiv ist sowie soziale Ungleichheiten (re-) produziert, gibt es vielfältige Formen privater und halböffentlicher Absicherungen und Unterstützungen unterschiedlicher Ausprägung: von privaten Versicherungen über private Unterhaltsabsicherungen und betriebliche Altersvorsorge bis hin zu nachbarschaftlichen und gemeinschaftlichen Hilfen und Unterstützungen. Auf diese Formen, deren mögliche Abschaffung (bürgerliches Unterhaltsrecht) beziehungsweise deren mögliche Förderung (private, nachbarschaftlichen und gemeinschaftlichen Hilfen und Unterstützungen) durch das universelle Sozialsystem kann hier aus Begrenzungsgründen nicht eingegangen werden.

Was sind Merkmale eines universellen öffentlichen Sozialsystems?

  1. Es ist universell im Sinne von niemanden nirgendwo niemals ausschließend. Das ist menschen- und grundrechtlich konsequent und definiert ein universelles soziales System als Ausdruck globaler sozialer Rechte, die jeder einzelne Mensch (Individuum) überall und immer hat, so lange er lebt – eben, weil er ein Mensch ist.
  2. Das wiederum bestimmt das universelle Sozialsystem als ein System, das bedingungslos soziale Rechte und Ansprüche gewährt. Es gelten keine im Verhalten oder sozialen Status der*des Anspruchsberechtigten gegebenen Voraussetzungen für den Rechtsanspruch auf die Sozialleistungen wie etwa Bereitschaft zur Arbeit oder zu einer Gegenleistung, eigene andere Einkommen und Vermögen (keine Bedürftigkeitsprüfung), zuvor zu leistende Beiträge zum Sozialsystem, Staatszugehörigkeit, bestimmtes Alter, Familienstatus usw. Universalität und Bedingungslosigkeit im genannten Sinne sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
  3. Sehr wohl gelten aber bei bestimmten Personen bestimmte zeitweilige oder auch dauerhafte soziale oder individuelle Lagen als Voraussetzung bestimmter, auf das konkrete Individuum abgestellter Leistungen. Diese gehen über die für alle Menschen gleichermaßen bedingungslos geltenden Ansprüche hinaus: einkommens- und vermögensunabhängige Sonderleistungen monetärer und unterstützender Art für Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten, spezielle sozialpädagogische Unterstützungen, monetäre Absicherungen im Krankheitsfall oder im Rentenalter entsprechend vorheriger Einzahlung.
  4. Ein universelles Sozialsystem ist radikal egalisierend – nicht in dem Sinne, dass alle das gleiche bekommen müssen. Sondern in dem Sinne, dass es jedem einzelnen Menschen bedingungslos die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichert – das sowohl in monetärer Hinsicht, zum Beispiel durch ein Grundeinkommen und eine ausreichende gesundheitliche Vor- und Versorgung für alle sowie durch ausreichende Hilfen, Unterstützungen und Zusatzleistungen in obengenannten bestimmten sozialen beziehungsweise individuellen Lebenslagen.
  5. Universell ist das universelle Sozialsystem auch deswegen, weil alle eigenen Einkommen und hohe Vermögen von Menschen (sofern vorhanden, außer Grundeinkommen und monetäre Sozialleistungen) zu bestimmten Prozentsätzen zur Finanzierung des universellen Sozialsystems herangezogen werden – durch entsprechende Abgaben. Die Finanzierung eines universellen Sozialsystems setzt eine Finanzierung im Sinne einer (Rück-)Umverteilung von oben nach unten voraus, sonst wäre es nicht finanzierbar. Auch in diesem Sinne ist ein universelles Sozialsystem egalisierend (ergänzend zu Punkt 4).
  6. Ein universelles Sozialsystem ist ein Sozialsystem, was auf Freiheit durch und in Solidarität setzt. Erstens weil jede*r eine soziale Absicherung erhält, die eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht, ohne Fremdbestimmung durch materielle und finanzielle Zwänge, sei es in gesellschaftlichen Kontext durch den Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft oder im privaten Kontext, durch direkte materielle oder finanzielle Abhängigkeiten von anderen. Solidarisch ist dies, weil dieses Recht und der Anspruch jedem einzelnen Menschen zugestanden wird.
  7. Ein universelles Sozialsystem ist ein Sozialsystem, was darüber hinaus auf Freiheit durch und in Demokratie setzt, beispielsweise durch demokratische Mit-Gestaltung des Sozialsystems selbst. Denn Freiheit meint sowohl individuelle Selbstbestimmung als auch demokratische Mit-Gestaltung der gesellschaftlichen und natürlichen Lebensbedingungen. Alle Menschen, also alle Nutznießer*innen des Sozialsystems, können das universelle Sozialsystem in direkter Form (Räte, Selbstverwaltung) und indirekter Form (Wahlen) mitgestalten.
  8. Ein universelles Sozialsystem ist dekommodifizierend, weil es erstens jedem Menschen die grundlegenden und ausreichenden Mittel zur Sicherung der Existenz und Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe an die Hand gibt – ohne seine Haut/Arbeitskraft auf dem Markt feilbieten zu müssen. Zweitens, weil es demokratisch organisiert und gestaltet wird, also nicht privatisiert oder dem Markt überlassen wird. Von daher ist es auf der Seite der Distribution antikapitalistisch – mit positiven Rückwirkungseffekten auf die Gestaltung der Produktion und Gesellschaft im Sinne deren umfassenden Demokratisierung: Die selbstbestimmte Lebensführung und demokratische Gesellschafts-/Produktionsgestaltung ist Voraussetzung einer solidarischen Ökonomie, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, nicht am Profit.

Konkrete Realisierung eines universellen Sozialsystems

Eine Grafik soll die drei Bereiche eines universellen Sozialsystems (universell, bedingungslos und individuell) verdeutlichen, wie es relativ einfach und schnell das bestehende Sozialsystem in Deutschland ersetzen beziehungsweise verändern könnte – wenn sich politische Mehrheiten dafür fänden.

Die sozialen Infrastrukturen und Dienstleistungen stehen allen Menschen gebührenfrei zu Verfügung – unabhängig davon, ob sie Beiträge oder Abgaben zur Finanzierung geleistet haben. Dafür machen sich viele Wissenschaftler*innen, Parteien und Organisationen stark. Sie werden im Rahmen der Bürger- oder Erwerbslosenversicherung und durch zweckgebundene Abgaben finanziert. Auch hier gilt, dass für Menschengruppen in besonderen individuellen und sozialen Lagen Ansprüche auf die Inanspruchnahme gesonderter Angebote haben.

Die Sozialversicherungszweige Kranken-/Pflegeversicherung und Rentenversicherung werden in Bürgerversicherungen umgewandelt. Auch dafür machen sich viele Wissenschaftler*innen, Parteien und Organisationen in Deutschland stark. Zur Finanzierung können alle Einkommensarten aller Menschen verbeitragt werden (außer Grundeinkommen und Sozialleistungen), eine paritätische Einzahlung der Beiträge durch „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ kann verbleiben. Die Arbeitslosenversicherung wird in eine Erwerbslosenversicherung für alle Erwerbstätigen umgewandelt (ebenso eine paritätische Einzahlung). Sogenannte Beitragsbemessungsgrenzen bei der Einzahlung in die Versicherungen werden aufgehoben, Auszahlungen aber in der Höhe gedeckelt – damit wird die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten weitgehend vermieden und eine (Rück-)Umverteilung befördert. Bei der Unfallversicherung werden weiterhin die Beiträge nur vom „Arbeitgeber“ eingezahlt. Die monetären Leistungen dieser Versicherungszweige sind durch das Grundeinkommen gesockelt, so dass zum Beispiel keine Rente, kein Krankengeld und kein Erwerbslosengeld unter die Höhe des Grundeinkommens fällt. Durch diese Sockelung wird also ein Teil der monetären Versicherungsleistungen zukünftig durch das steuerfinanzierte Grundeinkommen abgesichert. Mittel-/langfristig sollte die paritätische Einzahlung aufgehoben werden. Dies ist eine die tatsächliche Finanzierung von Sozialversicherungen verklärende Konstruktion – die „Arbeitgeber“ zahlen zwar ein, bezahlen aber nicht. Letztlich zahlen die Konsumierenden mit dem Kauf der Waren die gesamten Arbeitskosten, die die sogenannten Arbeitgeber haben. An die Stelle der Einzahlung durch die „Arbeitgeber“ tritt eine stark von oben nach unten rückverteilende Abgabe auf alle Kapitaleinkommen, Luxusgüter und Finanztransaktionen.

Grundsicherungen unter anderem monetäre steuerfinanzierte Leistungen werden durch ein Grundeinkommen ersetzt (wie BAföG, Kindergeld/Kinderfreibetrag etc.). Sonderleistungen, etwa für Menschen mit Behinderungen, bei Pflege oder bei hohen Mieten (Wohngeld, ergänzt durch Mietendeckel), werden ausgebaut. Und auch dafür machen sich viele Wissenschaftler*innen, Parteien, Parteigruppierungen und Organisationen in Deutschland stark. Finanziert werden können diese Leistungen durch zweckgebundene Abgaben im Sinne einer (Rück-)Verteilung von oben nach unten.

Universelle Produktion – universelle Absicherung

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass mit Forderungen nach basic income, social insurance und social services für alle – weltweit und in Deutschland – der Druck auf die herrschende Politik steigt, bestehende Sozialsysteme zu universalisieren. Gründe sind – neben dem kritikwürdigen Zustand des jetzigen Sozialsystems selbst – die Universalisierung der Produktion beziehungsweise das zunehmende Verständnis der Produktion als eines universellen Prozesses auf der Grundlage gemeinsamer Güter (Commons). Dieses Verständnis entlarvt schon längst das Lohnarbeit-/Kapitalverhältnis als auch bürgerliche, patriarchalische Lebensformen als fortschrittshinderliche gesellschaftliche Zwangshüllen. Das diese fortschrittshinderlichen Verhältnisse reproduzierende kapitalistische, paternalistische und patriarchale Sozialsystem gehört durch ein universelles Sozialsystem ersetzt.

Ronald Blaschke ist Diplom-Philosoph und Diplom-Pädagoge. Er ist Mitherausgeber mehrerer Bücher und Autor zahlreicher Beiträge zum Grundeinkommen und angrenzender Themen. Zurzeit koordiniert er die Europäische Bürgerinitiative zu bedingungslosen Grundeinkommen in der EU. Mehr über Ronald Blaschke und viele Beiträge von ihm auf seiner Homepage.


Ergänzende bzw. weiterführende Literatur/Quellen:

  • BAG Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE: Das emanzipatorische Grundeinkommen, https://www.die-linke-grundeinkommen.de
  • Blaschke, Ronald (2013): Unterhaltsprinzip? Abschaffen! Plädoyer für eine neue Idee der Subsidiarität, https://www.linksnet.de/artikel/28381
  • Blaschke, Ronald (2018): Marxistische Perspektive auf das Grundeinkommen, https://diefreiheitsliebe.de/politik/marxistische-perspektive-auf-das-grundeinkommen
  • Blaschke, Ronald (2019): Grundeinkommen – Was ist das eigentlich? Und was ist ein emanzipatorisches Grundeinkommenskonzept? in: Werner Rätz / Dagmar Paternoga / Jörg Reiners / Gernot Reipen (Hrsg.): Digitalisierung? Grundeinkommen! Wien, Berlin
  • Konzeptwerk Neue Ökonomie (2020): Zukunft für alle Eine Vision für 2048. gerecht – ökologisch – machbar. Kapitel Soziale Garantien, https://zukunftfueralle.jetzt/buch-zum-kongress/04-soziale-garantien
  • Website https://universalbasicservices.org
  • Website http://old.links-netz.de/rubriken/R_infrastruktur.html

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11 Antworten

  1. Es ist eine illusionäre Vorstellung, ein Sozialsystem könne die Ungleichheit, die in den kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen und ungleichen Erwerbseinkommen begründet ist, weitgehend ignorieren und aufheben. Es ist m.E. keine sinnvolle linke Position, sondern schädlich und indirekt eine Hilfe für die Neoliberalen, die den Sozialstaat bekämpfen, erkämpfte und wichtige soziale Errungenschaften so einseitig schlecht zu reden wie das hier einleitend passiert. Dass die beitragsfinanzierten Sozialversicherungsgeldleistungen, also insb. Rente, Arbeitslosengeld I, Krankengeld, die vorherige Ungleichheit der Löhne und Beitragszahlungen – durch Sozialausgleichsregelungen abgemildert – reproduzieren, ist logisch und in erheblichem Maße unvermeidlich, weil ein ausgebauter Sozialstaat nicht nur Existenzminimum, sondern Lebensstandard nötigenfalls sichern soll und auch nur dann Akzeptanz für hohe Beitragszahlungen besteht. Sonst würden noch mehr Gelder – ohne Sozialausgleich – in über die Finanzmärkte organisierte Privatversicherungen fließen und so zugleich die Finanzwirtschaft weiter pampern, und der Widerstand nicht nur das Kapitals, auch normal und überdurchschnittlich verdienender Beschäftigter gegen hohe Beiträge und Steuern würde noch stärker.

    Bezeichnenderweise ist von der Finanzierungsseite, die notwendig zu jedem Sozialsystem dazugehört, nur sehr unkonkret die Rede. Die würde bei einem solchen System, insb. mit Grundeinkommen, nämlich auf exorbitante Steuer- und Abgabensätze hinauslaufen von 70, 80 und mehr Prozent auf die Einkommen, und zwar auf die Masseneinkommen, nicht nur die der Reichen. Das würden die Leute nicht akzeptieren, und auch das viel mehr als heute Leistungen auch an erwerbsfähige Leute verteilt werden sollen, ohne dass die dafür arbeiten und Beiträge zahlen, mindert die Akzeptanz bei den Beschäftigten, die dafür bezahlen müssen. Dass das Kapital als herrschende Macht der kapitalistischen Macht dafür sorgen würde, dass es weiter hinreichende Profite machen kann und damit die Umverteilung Grenzen hat, ist weiterhin klar, und bei freiem internationalen Kapitalverkehr und den anderen EU-Binnenmarkt-und internationalen Freiheiten für die Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte ist das auch nicht in den Griff zu bekommen. Hier sind sozialistische Strategien zur Begrenzung der Kapitalmacht, zur Regulierung der Arbeitsmärkte und Einkommensverhältnisse, Stärkung der Gewerkschaften und Tarifverträge, und für einen wirklich weitreichenden Abbau der Ungleichheit die Überwindung des Kapitalismus, der gesellschaftlichen Herrschaft des Kapitals, notwendig. Ansonsten bleibt universelle Gleichheit bloße Wunschvorstellung, Illusion, und damit Ablenkung von den real durchsetzbaren Verbesserungen und den dafür anstehenden und laufenden Kämpfen, um höhere Löhne, bessere Renten, ein gutes öffentliches Gesundheitswesen usw.

    1. Lieber Ralf Krämer, hast Du Dich jemals ernsthaft mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen BGE auseinandergesetzt? Ich empfinde Deine „Kritik“ an der nicht ausführlich beschriebenen Finanzierung nichts weiter als ein Nachgeplapper genau jeder „Argumente“ der (Einfluss-)Reichen, sog. Konservativen wie Merz und Co. Von sozialen Gedanken ist Dein Geschrei – eine Diskussion ist das nicht – jedenfalls sehr weit entfernt.

    2. Warum die Kritik von Ronald Blaschke an der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die bestehenden Sicherungssysteme keine linke Position ist und die neoliberale Sozialstaatskritik sogar fördert, wird das Geheimnis von Ralf Krämer bleiben, weil er in seinem Kommentar dafür keine Argumente darlegt.
      Da hilft es auch nicht, die Logik als vermeintlichen Verbündeten ins Feld zu führen, um so die kapitalistische Form der Produktion gleichsam als naturgegeben zu charakterisieren. Die Einkommensunterschiede haben mit Logik gar nichts, aber mit Ausbeutung und Marktmacht sehr viel zu tun. Dass diese Ungerechtigkeiten – wie Ralf Krämer schreibt – „in einem erheblichen Maße unvermeidlich“ seien, kann man wohl nur als Kapitulation vor der aus seiner Sicht offenbar unüberwindbaren Erwerbsarbeit und letztlich als Aufgabe linker Politik lesen.
      Der Beitrag von Roland Blaschke weist für die weitere Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen in die richtige Richtung. Wir müssen das BGE stärker als bisher als ein qualitativ neues Element in einem universellen System sozialer Sicherung verorten. So können wir uns noch eindeutiger von neoliberalen BGE-Unterstützer-Feinden abgrenzen. In diesem Kontext ist auch die Finanzierungsfrage zu diskutieren. Hier besteht – das würde ich Ralf Krämer zugeben – Diskussionsbedarf. Solidarische Lösungen können aber durchaus gefunden werden, wenn man das BGE will und es für sinnvoll hält.

    3. Was der verdi-Gewerkschaftsfunktionär Ralf Krämer als illusionär bezeichnet, ist zu großen Teilen Beschlusslage seiner eigenen Gewerkschaft. Seltsam! Auch das Grundeinkommen wird von großen Teilen in verdi befürwortet. Gern kann er sich auch über die Finanzierung des Systems informieren – siehe der link zu einem konkreten Konzept dazu. Dort kann er sich auch über das tatsächliche Umverteilungspotenzial informieren. Ist jedenfalls besser als uninformiert Behauptungen in die Welt zu setzen. Das ist nicht sachdienlich!

    4. Man könnte meinen, ein Gewerkschafter wie Herr Krämer, möchte gar keine Änderung der Verhältnisse. (Immerhin sind sich die Gewerkschaftsvertreter in der Mindestlohnkonferenz einig, dass schäbige 9,50 € in einem Hochpreisland wie Deutschland völlig ausreichend sind. Ich sehe hier überhaupt keinen starken Einsatz für einen Mindestlohn, der den Beschäftigten später einen Lebensabend ohne Schlange stehen beim Sozialamt gewährleistet).

      Ja, es ist richtig erkannt, wir haben ganz starke gesellschaftliche Minderheiten, die zum Teil seit Jahrhunderten existieren und die es als völlig selbstverständlich halten, dass ihnen 90 % des Kuchens gehören und sich der Mehrheit in der Bevölkerung um die restlichen Krümel prügeln dürfen. Die Grundeinkommensbewegung will nichts weiter, als das sich Prügeln um ein paar Brosamen in eine Verteilung eines Mindestmaßes an Ressourcen umzuwandeln. Ich halte das für fair. Jedem Menschen steht ein fester Boden unter den Füßen zu – ohne Betteln, ohne Rechtfertigung, einfach um des Menschseins willen. Daher „Bedingungslos“.

      Das bedeutet aber auch, dass nun die einzelnen Menschen entscheiden, wie und was sie arbeiten, wobei mit Arbeiten eben nicht nur die dröge Erwerbsarbeit in irgendeinem der vielen Niedriglohnsektoren – wie man jetzt deutlich sieht: systemrelevanten – gemeint ist, sondern vielleicht die Aufnahme einer Ausbildung, eines Studiums, einer Umschulung, Familienarbeit in allen Formen oder was auch sonst immer Menschen interessiert.

      Machen wir uns nichts vor: Die kleine Gesellschaftsschicht mit den sehr tiefen Taschen hat mit der Einführung des BGE immens viel zu verlieren. Die ganzen Niedriglohnsektoren müssten sich plötzlich um Mitarbeiter bemühen: Anständige Arbeitsbedingungen bieten, was die Menschen doch mehr umtreibt als eine hohe Bezahlung. Was nützt ein der Tag, wenn der Mensch nach getaner Arbeit einfach nur kaputt ins Bett fällt und das Gefühl hat, nur am Wochenende leben zu können. Die Menschen würden – meiner Meinung nach – die fremdbestimmte Arbeitszeit kürzen und sich verstärkt anderen, ihnen nützlich erscheinenden Betätigungen widmen. Was die Verkürzung der Arbeitszeit angeht, haben Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten die Arbeitszeitverkürzung als Ziel aus den Augen verloren – oder: ziemlich versagt?

      Und machen wir uns ebenfalls nichts vor, die Menschen sind bereits dabei, sich ihre Arbeitsverkürzung und die ihnen genehme Arbeit zu holen. Der ein oder andere wirft den gut dotierten Bankenjob hin und zieht mit dem Foodtruck durch die Lande. Andere wandern aus und finden die besseren Arbeitsbedingungen im Ausland (dass medizinisches Personal viel glücklicher in Norwegen oder der Schweiz ist, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben). Andere ziehen aufs Land und leben als Selbstversorgen. Die steigen einfach aus. Den einen gelingt das erfolgreich, den anderen nur unvollständig. Aber die Entwicklung ist da. Die sollte nicht unterschätzt werden. Das sind viele kleine Rückzüge in ein entschleunigtes Leben. Da hilft auch kein Zwang á la Hart 4-Drangsalierungssystem.

      Die Coronakrise hat doch gezeigt: Wir alle sind voneinander abhängig. Wir brauchen alle einander. Also müssen wir auch dafür sorgen, dass jeder mitgenommen wird. Menschen wollen tätig sein, denen fällt die Decke auf den Kopf, wenn sie nichts mehr tun können. Menschen, die abgesichert sind, werden trotz gekürzter Arbeitszeit entspannter, kümmern sich umeinander, kümmern sich um andere. Die Coronakrise zeigte auch: Plötzlich waren die schuftenden Niedriglöhner wie Paketboten, Zulieferer, Pflege- und Reinigungskräfte die Helden. Dienstleistungen wie Kindergärten und Schulen wurden schmerzlich vermisst. Selbst der eher nicht so im Fokus stehende Kultursektor wurde als ziemlich wichtiger Teil der Wirtschaft wahrgenommen.

      Keine Beiträge dagegen haben die Besitzenden geliefert. Das karge Kurzarbeitergeld musste unvermindert in zu hohe Mieten gesteckt werden. Der Finanzmarkt (leistungsloses Einkommen!) konnte ungehindert seinen Zockereien nachgehen und schließt mit einem Plus ab. Dicke Industrien wurden mit ungeheuren Geldmengen bedacht, ohne dass, wie bei jedem Hartz4-Antrag, nach eigenen Mitteln gefragt wurde, um die Krisensituation selbst abzuwenden und der Grundsatz, erst musst Du Dir selbst helfen und Dein Vermögen verbrauchen, ehe Dir geholfen wird, völlig ignoriert.

      Und bei all dem Geld soll ein BGE nicht möglich sein? Eine Bereitstellung von festem Boden unter den Füßen ein jeglicher Existenz? Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die nur den Nützlichkeitsgedanken in sich trägt? Muss wirklich immer eine Gegenleistung her, um einen Platz und eine Existenz in der Gesellschaft zu erhalten? Um wie viel reicher würde eine Gesellschaft, wenn sie jeden ohne Wenn und Aber mitnähme und jedem damit auch Raum gäbe, sich einzubringen! Dazu muss man eben neue Wege gehen und darf nicht in den alten Trampelpfaden verharren. Sonst wird uns die nächste Krise auf die Sprünge helfen.

  2. Warum die Kritik von Ronald Blaschke an der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die bestehenden Sicherungssysteme keine linke Position ist und die neoliberale Sozialstaatskritik sogar fördert, wird das Geheimnis von Ralf Krämer bleiben, weil er in seinem Kommentar dafür keine Argumente darlegt.
    Da hilft es auch nicht, die Logik als vermeintlichen Verbündeten ins Feld zu führen, um so die kapitalistische Form der Produktion gleichsam als naturgegeben zu charakterisieren. Die Einkommensunterschiede haben mit Logik gar nichts, aber mit Ausbeutung und Marktmacht sehr viel zu tun. Dass diese Ungerechtigkeiten – wie Ralf Krämer schreibt – „in einem erheblichen Maße unvermeidlich“ seien, kann man wohl nur als Kapitulation vor der aus seiner Sicht offenbar unüberwindbaren Erwerbsarbeit und letztlich als Aufgabe linker Politik lesen.
    Der Beitrag von Roland Blaschke weist für die weitere Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen in die richtige Richtung. Wir müssen das BGE stärker als bisher als ein qualitativ neues Element in einem universellen System sozialer Sicherung verorten. So können wir uns noch eindeutiger von neoliberalen BGE-Unterstützer-Feinden abgrenzen. In diesem Kontext ist auch die Finanzierungsfrage zu diskutieren. Hier besteht – das würde ich Ralf Krämer zugeben – Diskussionsbedarf. Solidarische Lösungen können aber durchaus gefunden werden, wenn man das BGE will und es für sinnvoll hält.

  3. Sehr geehrter Herr Krämer,

    ich habe schon häufig Ihren Namen gelesen, wenn es um Gegenstimmen zum Grundeinkommen geht, offenbar ein Bedürfnis, hierzu möglichst überall Ihren Pflock zu setzen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Alternative, wie ein Sozialsystem gerechter wird, bearbeiten Sie alles andere als visionär. Sie verharren in Vorstellungen von gestern, wenn Sie schreiben, es bedürfe „sozialistischer Strategien zur Begrenzung der Kapitalmacht, zur Regulierung der Arbeitsmärkte und Einkommensverhältnisse, Stärkung der Gewerkschaften und Tarifverträge“, um einen „wirklich weitreichenden Abbau der Ungleichheit“ zu erreichen, sogar um „den Kapitalismus zu überwinden“.

    Wie sollen denn diese „sozialistischen Strategien“ aussehen? So ist es nur eine Phrase und erfüllt tatsächlich alle Voraussetzungen, um „bloße Wunschvorstellung“ und „Illusion“ zu sein. Wer glaubt, nur (ein wie immer gearteter) Sozialismus kann das schaffen, erkennt nicht, dass gerade das Grundeinkommen endlich die notwenige Unabhängigkeit bringt, „die anstehenden und laufenden Kämpfe um höhere Löhne, bessere Renten, ein gutes öffentliches Gesundheitswesen usw.“ auf einer Höhe zu führen, das endlich jedes prekäre Niveau verlassen hat! Es eben nicht mehr um Mindestlöhne von 9,50 € geht, sondern von 15 € und im Rahmen von Tarifkämpfen von deutlich mehr!

    Dass Sie sich in der mit nichts belegten Behauptung verlieren, die Finanzierungsseite für ein Grundeinkommen würde auf „exorbitante Steuer- und Abgabensätze von 70, 80 und mehr Prozent auf die Einkommen, und zwar auf die Masseneinkommen, nicht nur die der Reichen“ hinauslaufen, ist ein Schreckgespenst, das sich jeder sachlichen Diskussion entzieht. Mehr als 80% Steuern für die Masseneinkommen? Ich habe schon lange nicht derart Substanzloses gelesen. Im Verlauf der Corona-Krise sind allein bis jetzt rd. 58.000 Millionäre neu hinzugekommen, allein in Deutschland. Es ist genug Geld da und gerade ein Grundeinkommen in einer Höhe von ca. 1.200 € monatlich ist geradezu prädestiniert, die Umverteilung nach und nach auf ein Maß zurückzuschrauben, wo der Millionär oder die Millionärin immer noch exorbitant mehr hat wie jemand aus dem Spektrum der „Masseneinkommen“.

    Judith Leonhard

  4. Ich habe nicht bestritten, dass die Position von Ronald Blaschke eine linke ist, sondern dass es eine SINNVOLLE linke Position ist. Ich habe auch nicht geschrieben, dass die Ungerechtigkeiten unvermeidlich sind, sondern dass in erheblichem Maße unvermeidich ist, dass Sozialsysteme vorgelagerte Unglecihheiten reproduzieren. Um das zu ändern, muss man die vorgelagerten Ungleichheiten der Einkommens- und Eigentumsverteilung ändern, das geht nicht über ein staatliches Umverteilungssystem, das ist meine Aussage. Ich habe mich sehr intensiv mit diversen Modellen von Grundeinkommen und insb. ihren Finanzierungfragen befasst, das ist aber in einem Kommentar nicht auszuführen. Dazu ist immer noch die beste Darlegung m.E. das ver.d Wipo-Info hier:
    https://wipo.verdi.de/publikationen/++co++ab29a9ba-db39-11e7-ade4-525400940f89
    Da ist auch zitiert der Bundeskongress-Beschluss, dass ver.di Forderungen nach einem BGE ablehnt. Die IG Metall hat ähnlichen Beschluss.
    Das breit getragene Konzept der LINKEN zur Zukunft des Sozialstaats kann man hier nachlesen:
    https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/parteivorstand/2018-2020/beschluesse/detail/das-linke-konzept-fuer-einen-demokratischen-sozialstaat-der-zukunft0/

    Einige Beiträge hier glänzen leider durch ziemliche Unkenntnis realer ökonomischer Verhältnisse, Einkommensverteilung, Abgabensystem und allgemein politischer Ökonomie des Kapitalismus. Ausführliche Beiträge zur Kritik der BGE-Forderung und speziell der innerlinken Debatte darum sowie zur Kapitalismusanalyse und sozialistischer Strategie finden sich auf meiner Website: http://www.ralfkraemer.de/

  5. Sehr geehrter Herr Krämer,

    ich war eben auf Ihrer Seite, und zwar auf der Suche nach den so genannten „sozialistischen Strategien“. Leider habe ich dort keine gefunden. Dass Sie keine Links in Ihren Kommentar einbauen, mit denen diese vermeintlichen Strategien leicht zu finden wären oder besser noch diese einmal selbst kurz skizieren, zeugt von einer Haltung, die sehr „von oben herab“ daherkommt. Es kann doch nicht so schwer sein, anderen das einmal in aller Kürze zusammenzufassen. Indes verlangen Sie offenbar nicht nur langes Suchen, sondern auch, dass man Ihr Verständnis von Wirtschafts-Theorie teilt, obwohl – und das sagt schon das Wort – es in diesem gesamten „Wissenschafts“-Bereich gar keine Gesetzmäßigkeiten gibt, sondern ausschließlich Theorien, von denen die, die oben aufliegt – wie soll es anders sein – das jeweilige Herrschaftsverständnis widerspiegelt.
    Ihre Aussage „einige Beiträge glänzen hier leider durch ziemliche Unkenntnis realer ökonomischer Verhältnisse, Einkommensverteilung, Abgabensystem und allgemein politischer Ökonomie des Kapitalismus“ ist nochmals belehrend, muss aber sicher auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Sie möchten, dass man Ihr Gesamtwerk liest, ggf. sogar erwirbt, was natürlich völlig legitim ist. Worüber ich mich aber ärgere, ist das Desavouierende, das Sie damit zum Ausdruck bringen. Kommentarschreiber*innen vorzuwerfen, dass Sie keine Ahnung haben, dann aber daraus ein Geheimnis machen, was genau in ihren Argumenten denn „mit ziemlicher Unkenntnis glänzt“. Es zeigt sich einmal mehr, dass Sie leider nicht an weiterbringender Kritik interessiert sind. Sie möchten lieber mit einem herabwürdigen Rundumschlag enden. Für mich passt es zum Bild, dass es Ihnen in Sachen Grundeinkommen nur darum geht, wieder „einen Pflock eingeschlagen“ bzw. eine „Duftmarke gesetzt“ zu haben, es Ihnen aber nicht darum geht, ein System „mitzudenken“, dass die bisherige Umverteilung wirklich umkehren kann, und zwar ohne den Kapitalismus abzuschaffen. Er würde aber gebändigt sein, weil die Profite und die Vermögen sich nicht mehr entziehen könnten, das neue BGE-basierte soziale Sicherungssystem zu finanzieren, selbstverständlich in angemessener Höhe und nicht auf neoliberalem Niveau.

  6. Die Ausführungen von Ronald Blaschke zur Gestaltung eines universellen Sozialsystems stimmen überein mit den Vorstellungen und Forderungen nach sozialer Sicherung für alle, die die Frauen der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt in ihrer letzten Bundesfrauenkonferenz einstimmig beschlossen haben. Bezüglich der Rente hat die IG BAU bereits vor gut zwanzig Jahren zur Vermeidung von Altersarmut ein Konzept für ein solidarisches, universelles Rentensystem vorgelegt, das hohe Einkommen und Vermögen stärker zur Finanzierung heranzieht. Es ist der Sinn solidarischer Systeme, dass diejenigen, die viel haben, mehr abgeben müssen, damit alle eine Existenzgrundlage haben.

    Ja, unsere derzeitigen Systeme sozialer Sicherung sind mangelhaft, und auch die Gewerkschaften sind zu stark in dem Ideal guter, existenzsichernder Erwerbsarbeit für alle verhaftet. Selbstverständlich teilen die IG BAU Frauen die Forderungen nach fairer Arbeit und einem guten Leben. In der Realität sind allerdings schon jetzt die Arbeitsverhältnisse von mehr als der Hälfte der Beschäftigten nicht mehr tariflich geregelt. Im Zeitalter der Digitalisierung nehmen prekäre Beschäftigungsformen zu, und Vollbeschäftigung ist nicht zu erwarten. Um die Erwerbsarbeit auf mehr Schultern zu verteilen, bedarf es einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit.

    Die Auswirkungen der Einschränkungen aufgrund des Corona-Virus machen erneut drastisch deutlich, wie schnell Menschen ihre Existenzgrundlage durch Erwerbsarbeit verlieren können und in finanzielle Not geraten. Rund 2,7 Millionen Arbeitslose, zwei Millionen in Kurzarbeit, rund 5,4 Millionen Menschen beziehen ALG II oder Sozialgeld – und das sind nur die offiziellen Zahlen vom November 2020.

    Dazu kommt eine riesige Zahl von Selbständigen im Kunst- und Kulturbereich, Bildungs-arbeiter*innen, Beschäftigte im Tourismus, im Hotelgewerbe und in der Gastronomie, all die Mütter, die jetzt wieder beruflich zurückstecken, Student*innen und, und, und …
    Weit über 800.000 Minijobs sind weggefallen, ohne dass die Betroffenen irgendwelche Hilfe erhalten. Allein in meinem Bekanntenkreis kenne ich zahlreiche Menschen, die aus dem System rausfallen oder versuchen, den sozialen Absturz in Hartz IV irgendwie noch zu vermeiden.

    Wie viele Menschen können ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen und haben dann den Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen? 10,3 Milliarden Beitragsschulden haben die Selbstzahler, berichtet LabourNet Germany. Ihnen wird nur eine ärztliche Notversorgung gewährt, die Schulden treiben die Kassen dennoch rigoros ein. Aus welchem Grund müssen die Verwaltungen von 105 Krankenkassen in Deutschland über Beiträge unterhalten werden, die viel effektiver der Finanzierung unseres Gesundheitssystems dienen könnten? Warum darf es sein, dass jemand, der (oder vor allem „die“) in Vollzeit das ganze Erwerbsleben gearbeitet hat, im Alter Grundsicherung beantragen muss?

    Nein, ich habe kein Verständnis mehr für Gewerkschafter, die immer noch pauschal ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ablehnen, anstatt konstruktiv an der Gestaltung und an Finanzierungsideen mitzuarbeiten. Vor allem vermisse ich Alternativvorschläge, wie soziale Sicherung für alle verwirklicht werden kann. Arbeit ist nicht nur Erwerbsarbeit, und auch diejenigen, die unbezahlte Arbeit leisten, verdienen eine eigenständige Existenzsicherung.

    Natürlich muss ein BGE über Steuern finanziert werden. Aber es ist nicht der hart arbeitende Bauarbeiter oder die Reinigungskraft, auf deren Kosten sich dann andere mit ihrem BGE in die soziale Hängematte legen. Erwerbsarbeit ermöglicht einen höheren Lebensstandard, und das soll sie auch. Angenommen, ich erhalte in einem fiktiven Beispiel 1200 Euro Grundeinkommen und muss von meinem Lohn aber 800 Euro mehr an Abgaben zahlen als bisher, dann bleiben mir unter dem Strich immer noch 400 Euro mehr in der Tasche. Diejenigen, die jetzt schon viel haben, müssen etwas mehr abgeben. So ist das mit der Solidarität. Das ist nicht schwer zu vermitteln. Das BGE ist kein zusätzliches Einkommen für alle, sondern ein grundsätzliches, welches das Recht auf Existenz absichert.

    Es ist damit ein wichtiger Teil eines universellen Sozialsystems, dessen konkrete Ausgestaltung Ronald Blaschke fundiert und gut nachvollziehbar erläutert hat. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei, sondern um eine Um- bzw. Rückverteilung gesellschaftlichen Reichtums, die allen Teilhabe und soziale Absicherung ermöglicht. Gerade jetzt wird die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen den Krisengewinnlern und denen, die auf der Strecke bleiben, noch ein bisschen weiter geöffnet. 58.000 neue Millionäre in Deutschland durch Corona, schrieb der Fokus am 22.10.2020. Solidarische Systeme dienen nicht nur dazu, diese Kluft zu verringern und mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, sie sind der Leim, der eine Gesellschaft zusammenhält.

    Sylvia Honsberg
    IG BAU Frauen
    Ehrenmitglied 2020 der BAG Grundeinkommen DIE LINKE

  7. Ein bedingungsloses Grundeinkommen muss sich meiner Meinung nach aus Leistungen UND Geld zusammensetzen: Wohnen (als Anspruch auf oder gleich eine Wohnung!), kostenlose Gesundheitsversorgung und ein entsprechender monetärer Beitrag für die restlichen Aufwendungen des Lebens.

    So stelle ich mir persönlich ein BGE als Mitvorständlerin der Initiative Grundeinkommen Osnabrück e. V. (gemeinnützig) vor. Nichtmonetäre Leistungen, die jedem zustehen – so würden Mitnahmeffekte ( durch Wohnungsmieten! Krankenversicherungskosten) vermieden oder stark vermindert werden. Das sollte man zusätzlich noch durch kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und Kulturkarte flankieren. Soetwas ist dann tatsächlich eine universelle soziale Absicherung, die jedem per Geburtsrecht Bürger zusteht.

    So ließe ein Zwang zum Arbeiten (wegen Existenz) vermeiden und damit würde eine größtmögliche Teilhabe ermöglicht werden.

    Soetwas ließe sich gut finanzieren. Und es spart Milliarden an Verwaltungskosten – wenn (bürokratiefrei) eine Stelle das automatisch auszahlt. Bei einer Absicherung per Bürgerversicherung könnte es noch eine zusätzliche Altervorsorge entstehen, für diejenigen, die Zeit Lebens gearbeitet haben (die wird es immer noch geben!).

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