Eine Kritik an der Kritik oder Anleitung zur Solidarität

Spätestens seit den Blockaden von Extinction Rebellion in Berlin überschlagen sich Rechte und Linke in Besserwisserei, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze zu XR und nennen es Kritik. Bei Rechten überrascht das niemanden, für die Linke ist es traurig, wie sie sich an den Spaltungsversuchen der Klimabewegung und der Zerlegung einer neuen und schnell wachsenden Gruppe beteiligt.

Die Bundesregierung ignoriert 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen am 20.09.2019, die andauernden Proteste von FFF, alle Studien von Wissenschaftlern und verabschiedet etwas, was nicht einmal den Namen Klimapäckchen verdient hat. Die geplanten Maßnahmen sind ein Konjunkturprogramm und helfen dem Klima nicht einmal ansatzweise. Währenddessen üben sich viele mit der Tastatur in empörender Wortakrobatik mit teilweise haltlosen Behauptungen zu XR. Einige be- oder verurteilen die verschiedenen Ausprägungen zivilen Ungehorsams direkt und pauschal in richtig oder falsch und in gut oder böse. Es sind die immer wiederkehrenden Aussagen zu XR zu lesen: eine Sekte, hierarchisch, vom Kapital finanziert, zu radikal, zu wenig radikal also pseudoradikal, emotionalisieren mit der Angst spekulierend und so weiter und so fort.

Doch es geht auch anders. Große Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung und anderer linker Personen und Organisationen, wie Ende Gelände, Interventionistische Linke, Peng Kollektiv, Hedonistische Internationale, Teile von FFF, einzelne Politikerinnen üben solidarische Kritik an XR und beteiligen sich nicht an einem undifferenzierten Shitstorm. Auch wenn XR eine sehr widersprüchliche Bewegung ist und viel Anlass zur Kritik bieten mag, sollten wir kritisch mit der Kritik umgehen und auch den Sinn von Solidarität mit allen Aktivistinnen, also XR und der gesamten Klimabewegung diskutieren. Darum lasst uns über Kritik genauso diskutieren wie über Solidarität. Ein Wert, der doch von Linken so gerne bemüht wird.

Drei wiederkehrende Kritikpunkte:

Aufstand gegen das Aussterben

In unterschiedlicher Intensität wird kritisiert, XR emotionalisiere, propagiere die Apokalypse, die Aussagen entsprächen denen einer Sekte und würden jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren.

Natürlich emotionalisiert XR und arbeitet mit Bildern. Das machen Bewegungen, Vereine, Parteien und am erfolgreichsten das Kapital mit Werbung und indirekter Beeinflussung. Soweit also nicht Besonderes. Ist die Aussage, dass die Menschheit vom Aussterben bedroht ist denn tatsächlich übertrieben? Leider ist das keine Erfindung von XR, sondern entspricht Szenarien, die Wissenschaftler in Modellen durchgespielt haben. Genau das greift XR auf und warnt davor, das ist was anderes als unterstellter quasireligiöser Glaube. Großes Aufsehen hat die Studie einer australischen Forschergruppe erregt, die das Ende der Menschheit Mitte des Jahrhunderts sehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine EU-Studie Warum das IPCC oder Klimaforschungsinstitute in ihren Prognosen und in ihrer Sprache deutlich gemäßigter auftreten, erklärt z.B. Prof. Schellhuber sehr anschaulich. XR greift also wissenschaftliche Studien auf und warnt vor einer drohenden Gefahr, die sehr konkret wird, wenn wir die CO2 Emissionen nicht drastisch reduzieren. Man kann sehr kontrovers darüber diskutieren, ob die Sprache und Bilder von XR zielführend sind, welche Wirkung sie auslösen und ob sie eher Menschen dazu bewegen, das Thema aus einem Gefühl der Ohnmacht zu ignorieren oder ob es Menschen ermutigt, aktiv zu werden. Die Entwicklung der Gruppe und die wachsende Anzahl Menschen, die sich dort engagieren, sprechen eher für eine erfolgreiche Mobilisierung, grade auch aus der bürgerlichen Mitte. Die Warnung vor diesen Szenarien als quasireligiöse Spinnerei darzustellen und XR damit zur Sekte erklären zu wollen, zeugt entweder von Unkenntnis oder von einer Diffamierungsabsicht.

XR ist hierarchisch und keine Graswurzelbewegung XR wurde in England gegründet und funktioniert zunächst wie ein FranchiseSystem. Werte, Aussagen, Forderungen, Design, Struktur- alles ist vorbereitet. Jede Person kann in ihrem Ort eine XR Gruppe gründen, wenn sie sich den Vorgaben anschließt und bekommt alles zur Verfügung gestellt inkl. eines Zugangs zu einer Kollaborationsplattform. Das ist hierarchisch und „von oben“ durchorganisiert. Die Kritik daran ist durchaus berechtigt. Das kann man als Problem sehen. Gleichzeitig scheint das ein Erfolgsfaktor für das schnelle Wachstum der Gruppe zu sein. Der Einstieg ist leicht und schnell, jede Person kann mitmachen. Viele Dinge sind vorbereitet. Genau hierin liegt auch eine Chance. Insbesondere Menschen, die bisher nicht in Bewegungen, vielleicht insgesamt nicht politisch aktiv waren, wird der Einstieg erleichtert, es gibt einen Onboarding Prozess, der sogar erklärtermaßen auf schnelles Wachstum zielt. Dieses schnelle Wachstum bedeutet natürlich auch Veränderung und Entwicklung. Es gibt inzwischen hunderte Ortsgruppen, tausende Menschen bringen ihre eigenen Ansichten, Vorstellungen und Werte ein und beginnen, das
System XR zu beeinflussen und zu verändern. Die Bewegung ist gar nicht leicht autoritär zu steuern. Linke Kritiker sollten hinschauen, womit sie es lokal zu tun haben und kein Generallable vergeben.

Bewegungen leben von Vielfalt, Solidarität und Entwicklung. Das alles erfährt auch XR. Fehler, wie die fehlende oder späte Solidarisierung mit anderen Gruppen der Klimabewegung, Datensammlung statt Datenschutz in der Vorbereitung der Rebellion Week, rassismusverdächtige Aussagen, unsolidarisches Verhalten in der Blockade (Hamburg), unkluge Aussagen einzelner Ortsgruppen in den sozialen Medien, wurden bereits zugegeben und korrigiert. Bei XR hat eine darüberhinausgehende Debatte zur Klassenfrage begonnen, postkoloniale Machtstrukturen werden erkannt und diskutiert und schlussendlich wird auch der etwas oberflächlich definierte Gewaltbegriff, durchaus streitbar zum Gesprächsthema. XR diskutiert, lernt und entwickelt sich von unten.

Radikalität: zu radikal oder pseudoradikal

Sie machen Die-ins und Straßenblockaden, meistens nur für wenige Minuten und häufig sogar bei der Polizei angemeldet. Für die einen ist das noch längst kein ziviler Ungehorsam, für andere sind es erste radikale Erfahrungen. Beides ist richtig. Menschen sind auch in Bewegungen unterschiedlich. Wenn nun XR eher Menschen anspricht, für die ziviler Ungehorsam eine neue Aktionsform ist, ist das doch großartig, oder? Tatsache ist auch, dass XR über Tage Straßen und Plätze in Berlin unermüdlich blockiert hat, zahlreiche Lock-ons dabei waren und bei aller bemühten Gewaltfreiheit und Freundlichkeit auch erste Gewalterfahrungen mit der Polizei machen musste. Die Aktionswoche in Berlin hat viel Aufmerksamkeit erregt und beigetragen das Thema in eine breite Öffentlichkeit zu tragen.

Liebe linke Kritiker*innen: Lasst uns über die Klimakatastrophe selber reden, statt uns vorrangig an Spaltungsdiskussionen zu beteiligen und verurteilen doch keine Gruppe, die in Deutschland grade ihre erst große Aktion hatte. Wieviel mehr hätte XR erreichen können, wenn mehr andere Protagonisten deren Aktionen zum Anlass genommen hätten, das Versagen der Politik zu thematisieren. Dann gibt es noch einige Berufsideologen, welche die reine und wahre Lehre vertreten und die einzig richtigen linken Positionen vertreten. Um den Planeten vor der Klimakatastrophe bewahren zu wollen, muss man nicht im ersten Zuge, die Klassenfrage „richtig“ beantworten, in jedem dritten Satz „antikapitalistisch“ rufen, oder das Mehrwertgesetz kennen. Leider sind diese Ideologen weder solidarisch noch verbindend oder auch nur strategisch klug.

Solidarität statt Spaltung

Ich muss in einem Kampf ums Überleben der Menschen innerhalb einer Bewegung nicht jede Gruppierung großartig finden, ich muss nicht jede Ansicht völlig teilen und ich muss nicht alles mitmachen. Entscheidend ist, ob wir ein gemeinsames Ziel haben, eine ausreichende Schnittmenge und keine fundamentalen Werte- oder Zielkonflikte. Dann kann ich mich entweder beteiligen, konstruktiv Kritik üben oder aus der Distanz beobachten. Mit Solidarität, Respekt, Toleranz und direkten Kontakt, also miteinander Reden werden wir vielleicht gemeinsam so stark und groß, dass wir eine Veränderung erreichen können.

In dem Sinne, seid solidarisch und redet mehr miteinander statt übereinander!

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5 Antworten

  1. Hallo Melanie, der Autor der XR-Kritik, auf die du dich teilweise beziehst, hier.

    Erstmal Danke für deinen Artikel. Ich finde gut, dass es darüber eine Diskussion gibt. Gleichzeitig finde ich es schade, dass du meine Kritikpunkte einfach als „Besserwisserei“ abtust. Ich halte weiterhin daran fest, dass XR aus vielen Gründen eine problematische Bewegung ist. Nichtsdestotrotz stimme ich dir zu: Eine Zusammenarbeit, vor allem auf lokaler Ebene, sollte möglich sein. Auf diese Weise ist es vielleicht möglich, am Kurs der Bewegung etwas zu verändern.

    In deinem Artikel gehst du auf drei Hauptkritikpunnkte an XR ein und versuchts, diese zu entkräftigen.
    Ich möchte dazu kurz Stellung beziehen:

    1.“ Aufstand gegen das Aussterben“ bzw. Emotionalisierung

    Die Studien, die ein Massenaussterben diagnostizieren beziehunsgweise vorraussagen, sind umstritten. Natürlich ist es verständlich, dass XR einen emotionalisierten Diskurs anschlägt, um Aufmerksamkeit zu generieren. Doch die problematische Art, zu kommunizieren, hört da nicht auf: Von den Gründern sind zahlreiche esoterisch anmutende Aussagen belegt. Auch auf der website von Extinction Rebellion finden sich zahlreiche blumige Aussagen wie diese:

    „Eine Welt, in der wir lebendige blühende Verbindungen innerhalb unserer Gesellschaft und mit unserer Umwelt schaffen. Diese Verbindungen bringen uns Hoffnung und ermöglichen es uns, die Richtung für unser Leben und unsere Zukunft zu bestimmen.
    Eine verbindende inklusive Welt, in der wir Wert auf faire Prozesse gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung legen, Kreativität in den Vordergrund stellen und unsere Vielfalt an Gaben anerkennen, begrüßen und fördern.“ Was soll das sein, abgesehen von Geschwurbel? Das ganze erinnert mehr an eine New-Age-Bewegung aus den 70ern als an eine ernstzunehmende politische Organisation.

    2. Hierarchische Struktur

    Im Gegensatz zu FFF ist XR keine Bewegung von unten. Du stellst dies als Vorteil dar, ich sehe das weiterhin sehr kritisch. Gleichzeitig geben ich dir recht: Die Ortsgruppen unterscheiden sich stark unterieinander, es gibt viele Überschneidungen zu FFF, Klimakollektiven oder Parteien und damit auch die Möglichkeit, auf XR einzuwirken.
    Gleichzeitig ist das Problem an der Bewegung jedoch, das eine Abgrenzung zu anderen (linken) Gruppen stattfindet. Das ufert mitunter in unsolidarisches Verhalten wie beispielsweise bei der Klimablockade in Hamburg u.ä. aus. Das XR aus den Fehlern gelernt hat, habe ich noch nicht mitbekommen. Hoffentlich hast du da recht.

    3. Nicht radikal genug

    Ich habe das Gefühl, du hast mich und andere, die das kritisieren, falsch verstanden. Es geht nicht darum, verschieden Aktionsarten zu bewerten. Du hast vollkommen recht: Von Aktionen des zivilen Ungehorsams bis angemeldeten Demos ist alles gut! Es geht aber um die Frage, was dahintersteht: Bei XR sind es eben keine konkreten Forderungen, keine fundierte Kritik. Wozu das ganze also? XR kommuniziert keine konkreten Anliegen und setzt mit Aussagen wie:
    „XR hat die strategische Entscheidung getroffen, keine konkreten Vorschläge zu unterbreiten, wie die Klima- und Umweltkrise zu lösen ist. Es gibt seit Jahrzehnten genügend Lösungen und Ansätze, wie den allgegenwärtigen Krisen begegnet werden kann.“
    alles mögliche gleich, was nicht zusammen gehört. Sind Pseudo- Lösungen à la FDP („Innovation gegen den Klimawandel“) und systemkritische Ansätze für XR etwa gleich viel wert?

    Es geht nicht darum, zu spalten, sondern darauf hinzuweisen, was schief läuft. Und bei XR ist aus meiner Sicht einiges im Argen.

    Liebe Grüße,
    Nicolas Weber

    1. Lieber Nicolas,
      wenn ich deinen Kommentar lese, sehe ich keinen Grund zur „Beanstandung“. So wie du hier schreibst, kann ich gut erkennen, dass es um eine differenzierte Kritik geht. Was ich noch nicht so klar erkennen kann, ist der von Melanie angesprochene Aspekt der Solidarität. Natürlich muss man sich laut aufregen, wenn XR z.B. auf einer Aktionsaufrufseite Daten von Aktivistis sammelt. (Da haben sie sich inzwischen für entschuldigt und erklärt, das da mangelnde Erfahrung im Spiel war). Solidarisch erklären ich und andere Klimagerechtigkeitsaktistis sich jedoch ausdrücklich mit den Menschen, die unter der XR Flagge ZU leisten. Ich persönlich glaube nicht und habe auch nicht verstanden, dass Melanie glaubt, dass die zentrale Organisation von XR überwiegend Vorteile ggü. den Bewegungen von Unten hat. Eher im Gegenteil. Sie hat aber AUCH Vorteile, z.B. bezogen auf die Wachstumsgeschwindigkeit. Mir scheint übrigens der „wissenschaftliche Backround“ bezüglich der Wirkung von Widerstandsbewegungen, den einer der XR Gründer ins Feld führt recht obskur zu sein. Das soll uns aber nicht abhalten, tausende von Menschen, die eben unter diesem Zeichen handeln, aus der Soli zu nehmen. Insofern geht es im Wesentlichen darum, dass Es keine „unwürdigen“ Kämpfer gegen die Klimakatastrophe gibt, was noch lange nicht heißt, dass linke Aktivistis ihren eigenen, systemkritischen Standpunkt verleugnen müsste. Wenn ein XR Aktivist neben mir in einer Blockade sitzt, habe ich Zeit genug, meine Weltanschauug zu vertreten und mache das auch. Aber zuerst sage ich: „Schön das du hier bist“.

  2. Vielen Dank für den Beitrag. Ich stimme dir 100% zu. Einige Linke Kritiker_innen sind nicht fair gegenüber XR, weil sie einzelne Punkte die zurecht kritisierbar sind herausgreifen und dabei vergessen, dass XR eine heterogene Organisierung ist mit unterschiedlichen v.a. vielen neuen und unerfahreneren Menschen. Anstelle sie einfach abzukanzeln lohnt es sich den Dialog zu suchen und eine vielfältige Klimabewegung stark zu machen die sich solidarisch Aufeinander bezieht. Der Umgang von XR mit dem Krieg in Rojava und die Verschwesterungsszenen der beiden Bewegungen z.B. sind ein hoffnungsvolles Zeichen einer gegenseitigen Annäherung.

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