Eine israelische Solidaritätskampagne mit dem Gazastreifen angesichts der Corona-Krise

Aufgrund der ersten Fälle von COVID-19 im Gazastreifen fordern Israelis von ihrer Regierung, Verantwortung für die sich dort abzeichnenden Krise zu übernehmen und sammeln Spende für die vom Virus bedrohte Bevölkerung.

Das neue Corona-Virus hat Gaza erreicht und es ist furchtbar, sich die potenziellen Folgen einer weiten Verbreitung von COVID-19 in diesem eingekesselten Landstreifen vorzustellen. Der Grund für diese Befürchtung liegt nicht nur an der möglichen hohen Todesrate durch den Virus bei noch fehlendem Impfstoff, sondern auch an den besonderen Bedingungen im Gazastreifen. Die Enklave hat eine extrem hohe Bevölkerungsdichte und Infrastrukturen, die aufgrund der tödlichen und unverhältnismäßigen Militärangriffe, die Israel alle paar Monate und zuletzt vor ein paar Tagen gegen den Gazastreifen durchführt, völlig heruntergekommenen sind.

Wenn sogar Länder mit einer starken Wirtschaft, einem hochentwickelten Gesundheitssystem und gut ausgebauter sozialer Absicherung Schwierigkeiten haben, mit der Pandemie fertig zu werden, wie schwerwiegend werden dann die Folgen im Gazastreifen sein? Die Masseninfektionen und die große Zahl der Todesopfer, die wir in China erlebt haben und die wir jetzt in Italien, Spanien und den USA sehen, sind nur ein Vorgeschmack auf das, was passieren kann, wenn das Virus das größte Gefängnis der Welt verwüstet.

Wenn wir an die bevorstehende unvermeidliche Katastrophe denken, macht uns auch die anhaltende Gleichgültigkeit der israelischen Öffentlichkeit gegenüber der Situation im Gazastreifen Angst. Die COVID-19-Krise birgt aber auch die Möglichkeit, unsere Realität zu überdenken, den gesunden Menschenverstand zu konsultieren, unsere schrumpfenden Freiheiten zu schätzen, unsere Prioritäten neu zu setzen und solidarisch zu sein.

Aus diesem Grund haben wir, eine Gruppe jüdischer Israelis, eine unabhängige Kampagne unter der Überschrift „Epidemie im Gazastreifen“ gestartet, um die Palästinenserinnen und Palästinensern im Gazastreifen mehr ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und unsere Solidarität mit ihnen auszudrücken. Wir hoffen, dass wir auch in einer Krisensituation, in der wir uns um die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Nächsten sorgen, Raum finden, unsere Verantwortung für das zu erkennen, was nur wenige Kilometer von uns entfernt geschieht. Es ist unsere Pflicht, Hilfe zu leisten und vor allem eine unverzügliche Änderung der unmenschlichen Politik Israels gegenüber den Menschen im Gazastreifen einzufordern.

Mit jedem Tag wird es klarer, dass die Pandemie nicht nur ein medizinischer Notfall ist, sondern auch eine Manifestation der Krise der öffentlichen Gesundheitssysteme und der sozialen Dienste. Es waren nicht die Fledermäuse in China, die die Anzahl der Krankenhausbetten in Israel reduziert haben, noch waren es Schuppentiere, die den öffentlichen Wohnungsbau zerstört haben. Die hohe Armutsrate in Israel wurde nicht durch ein Husten in die falsche Richtung verursacht. Ähnlich wären auch das Leid und Elend, das der Gazastreifen erleiden könnte, nicht Folge des Virus allein, sondern auch der israelischen Politik.

Professor Yehia Abed von der Al-Quds Universität in Gaza, ein Spezialist für öffentliche Gesundheit und Berater des palästinensischen Gesundheitsministeriums bei der Corona-Pandemie, nahm am 26. März an einem J-Street-Webinar teil und erzählte von den Bemühungen des medizinischen Personals im Gazastreifen. Er hob die enorme Kluft zwischen den in Israel und den im Gazastreifen verfügbaren Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie hervor – eine Folge jahrzehntelanger israelischer Kontrolle und Unterdrückung.

Außerdem erklärte er, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen Israel für die Verschlechterung ihres Gesundheitssystems verantwortlich machen. Deshalb sehen sie es als Israels Pflicht, die zur Bekämpfung der Pandemie erforderlichen medizinischen Mittel zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich dabei nicht um eine Wohltätigkeit, sondern ist Israel verpflichtet, solche Hilfe zu leisten. Ebenso bestehen Menschenrechtsorganisationen, darunter die Ärzte für Menschenrechte-Israel, B’Tselem und Gisha, auf Israels moralischer und völkerrechtlicher Verantwortung für die Gesundheit der Menschen im Gazastreifen.

Viele Israelis mögen fragen: „Warum ist das unsere Verantwortung?“ Es waren doch schließlich zwei Palästinenser, die aus Pakistan über Ägypten zurückkehrten und so den Virus in den Gazastreifen brachten – warum sollte also Israel dafür verantwortlich sein? Obwohl Israel COVID-19 nicht in den Gazastreifen gebracht hat, ist Israel dennoch dafür verantwortlich, dass die drohende Krise im Gazastreifen nicht wirksam bekämpft werden kann.

Nicht nur sofortige Hilfe, sondern ein Aufruf zur Änderung der Politik

Wir dürfen nicht vergessen: Die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen sind Flüchtlinge aus dem Krieg von 1948, denen Israel die Rückkehr in ihre Häuser und ihr Land verwehrt hat. Das ist der ursprüngliche Grund für die Armut und die hohe Bevölkerungsdichte im Gazastreifen. Wie ist es möglich, einen „sicheren Abstand“ einzuhalten und überfüllte Orte zu vermeiden, wenn die Bevölkerungsdichte über 5.000 Menschen pro Quadratkilometer beträgt?

Israel kontrolliert auch weiterhin die meisten Aspekte des Lebens im Gazastreifen, selbst nach dem „Rückzug“ im Sommer 2005. Es hat den Luftraum, die Hoheitsgewässer und alle Landübergänge unter seiner Kontrolle, mit Ausnahme von dem in Rafah, der von Ägypten kontrolliert wird. Es überwacht die Waren, die in den Gazastreifen gelangen, und begrenzt den Import von medizinischer Ausrüstung. Es schränkt die Wasser- und Stromversorgung ein.

Wie ist hinreichende Hygiene möglich, wenn mehr als 95 Prozent des Wassers im Gazastreifen verschmutzt sind und die Abwassersysteme zusammenbrechen? Wie ist es möglich, mit einer Pandemie fertigzuwerden, wenn die vorhandenen Reinigungs- und Desinfektionsmittel kaum ausreichen und es nur 70 Krankenhausbetten für Intensivbehandlung und 60 Beatmungsgeräte gibt, um eine Bevölkerung von über zwei Millionen Menschen zu versorgen?

Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und der geringen Möglichkeiten, in andere Länder auszuwandern, arbeiten rund 6.000 im Gazastreifen lebende Palästinenser in Israel, hauptsächlich im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Aufgrund der verschärften Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit angesichts der Corona-Krise dürfen palästinensische Arbeiter aus dem Gazastreifen jedoch nicht mehr nach Israel einreisen. Wie zu erwarten, erhalten sie weder Hilfe noch Entschädigung.

Israel hat auch die Ein- und Ausreise aus dem Gazastreifen für Patientinnen und Patienten, die dringend medizinische Versorgung benötigen, weiter eingeschränkt. Diese Politik hat sich nicht geändert, selbst nachdem die ersten Fälle von COVID-19 im Gazastreifen aufgetreten sind.

Die Notfallkampagne, die wir diese Woche gestartet haben, zielt darauf ab, direkte Unterstützung und Hilfe bei dem Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus im Gazastreifen zu leisten. Unsere Aktion zielt aber auch darauf ab, reflektierte Solidarität zu fördern, die die ungleichen Machtverhältnisse zwischen dem Gazastreifen und Israel anerkennt und sich weigert, Israels Gewalt als Norm zu akzeptieren oder seine Verantwortung für das Leben und Wohlergehen der im Gazastreifen Eingekesselten zu verringern.

Wir waren von der Resonanz auf die Kampagne positiv überrascht. Innerhalb von drei Tagen haben wir unser ursprüngliches Ziel von 20.000 Schekel (ca. 5.000 Euro) erreicht, und nun haben wir nur noch zehn Tage (Stand 4. April) Zeit, um unser neues Ziel von 50.000 Schekel (ca. 12.500 Euro) zu erreichen. Das gespendete Geld wird für den Kauf von Desinfektionsmittel für Hände und andere medizinische Ausrüstung verwendet, die von den Ärzten für Menschenrechte-Israel so bald wie möglich in den Gazastreifen gebracht werden sollen. Wir haben auch Dutzende rührende Antworten erhalten, unter anderem von Aktivistinnen und Aktivisten im Gazastreifen.

In diesen unerträglichen Zeiten der Unsicherheit und Sorge um unsere Liebsten sehen wir einen Spalt für Mitgefühl und eine Gelegenheit, mit unseren Schwestern und Brüdern jenseits des Grenzzauns solidarisch zu sein. Wir wollen diesen Spalt vergrößern. Wir möchten diese seltene Gelegenheit für radikale Veränderungen nutzen, um das Gesamtbild zu sehen, anhaltende Unterdrückung zu erkennen und auf eine bessere Realität hinzuarbeiten.

Die Situation kann so nicht weiter gehen. Israel muss die Belagerung beenden und verantwortlich handeln, um allen Menschen in dieser Region eine bessere Zukunft in Aussicht zu stellen. Humanitäre Ad-hoc-Hilfe ist keine nachhaltige Lösung für den Gazastreifen; dafür bedarf es der vollständigen Befreiung von der Besatzung und die Aufhebung der Belagerung.

Hier findet ihr die Spendenseite:
https://giveback.co.il/project/56874?lang=en

Ein Beitrag von Yaara Benger Alaluf, Hadas Pe’ery, Adi Golan Bikhnafo und Guy Shalev

Dr. Yaara Berger Alaluf ist Historikerin und feministische politische Aktivistin.

Hadas Pe’ery ist Musikerin und politische Aktivistin.

Adi Golan Bikhanfo ist Künstlerin und politische Aktivistin.

Dr. Guy Shalev ist medizinischer Anthropologe an der Hebräischen Universität im Rahmen des Programms Martin Buber Society of Fellows.

Die ursprüngliche hebräische Version des Artikels wurde auf der Webseite von Sicha Mekomit veröffentlicht.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin.


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