Die Kriminalisierung religiöser Praktiken ist als Waffe der politischen Rechten und als Kernelement des Rassismus in Europa von hoher Bedeutung. Phil Marfleet und Nira Yuval-Davis, Verfasser eines neuen Buchs über den Zusammenhang von Rassismus, Religion und Migration, gehen davon aus, dass die Theorie vom Kampf der Kulturen heute als selbstverständlich angesehen wird und dabei Religion eine zentrale Rolle spielt.
Die sozialen Probleme in Europa werden daher in erster Linie als Konfrontationen »zwischen einem fortschrittlichen westlichen Block und einem aufsässigen Islam« wahrgenommen. Sie beschreiben, wie die Politik der »Festung Europa« nichteuropäische Migrantengemeinschaften verschärften sozialen Härten aussetzt und so »religiösen Organisationen und Netzwerken neuen Einfluss und Sichtbarkeit« verschafft. Besonders dort, wo »religiöse Einrichtungen und Netzwerke Migranten und anderen rassistisch ausgegrenzten Gemeinschaften helfen und sich öffentlich für sie einsetzen«, wächst deren Unterstützung. Die dominante Rolle der Religion in rassistischen und antirassistischen Diskursen in Europa hat religiöse Netzwerke zunehmend attraktiv gemacht. Aber sie hat auch zu einer neuen Beschäftigung in der Linken und im feministischen Diskurs mit der Bedeutung des Säkularismus geführt.17 Marfleet und Yuval-Davis betonen, dass Religion nicht aufgrund theologischer oder spiritueller Gründe an Bedeutung gewinnt, sondern weil Menschen in einer Gesellschaft, die von kontinuierlicher Spaltung und Diskriminierung geprägt ist, nach Gemeinschaft suchen.
Das bringt uns zurück zu Marx: Im Zentrum seiner Religionskritik steht die Vorstellung, dass Religion gesellschaftliche Ursachen hat. In den Thesen zu Feuerbach unterstrich Marx die Bedeutung des »religiösen Gefühls« als »gesellschaftliches Produkt«, das für Menschen attraktiv ist, die selbst Produkte bestimmter sozialer Formationen sind. Staatlichen Religionsverboten stand diese Kritik diametral entgegen. Lenin schrieb zum Beispiel im Jahr 1909 mit Bezug auf Engels: »[..] im Jahre 1877 brandmarkte Engels im ›Anti-Dühring‹ schonungslos selbst die geringsten Zugeständnisse des Philosophen Dühring an den Idealismus und die Religion, verurteilte aber zugleich nicht minder entschieden die angeblich revolutionäre Idee Dührings, in der sozialistischen Gesellschaft die Religion zu verbieten.«18 Ein solches Verbot würde, wie der US-amerikanische Marxist Paul Siegel schrieb, eine Abwendung vom politischen Kampf bedeuten und die Rolle der Religion nur stärken, weil die Angegriffenen sich in eine defensive Position zurückziehen und Trost und Hilfe in ihren religiösen Gemeinden suchen. Marx wollte auch die Bevorzugung einzelner Religionen gegenüber denen von Minderheiten nicht dulden. In einem Artikel in der Rheinischen Zeitung von 1842 kritisierte er die Behauptung, dass die Privilegierung des Christentums in Europa gerechtfertigt sei, weil alle europäischen Staaten das Christentum als Grundlage hätten. Im Gegenteil, erklärte er, die Verteidigung des säkularen Staates bedeute nicht die Privilegierung einer Religion, sondern die Gleichbehandlung aller.
Teile der Linken berufen sich bei ihrer Verteidigung des Säkularismus oft auf die französische Aufklärung und ihre Forderung nach rationalem Denken und Materialismus, aus der heraus ein Angriff auf die katholische Monarchie erfolgte. Engels wies allerdings darauf hin, dass der Materialismus der Aufklärungsphilosophen hauptsächlich »mechanisch« war, woraus sich die »Unfähigkeit, die Welt als einen Prozess, als einen in einer geschichtlichen Fortbildung begriffenen Stoff aufzufassen«, erklärte. Sie sahen das Universum als konstant arbeitende Maschine an, die jedoch »zu ewiger Wiederholung stets derselben Prozesse verdammt ist«. Dieses Bild übertrugen die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts auf die menschliche Gesellschaft, die nach ihrer Vorstellung auch von außen durch große Individuen manipuliert wurde, statt prozesshaft von inneren Widersprüchen und innerer Dynamik getrieben zu sein. So sahen sie die Massen dem Willen und der Willkür ihrer Herrscher unterworfen und »neigten dazu, Religion als Verschwörung von Königen, Priestern und Adligen anzusehen, damit die Menschen ›ruhig in ihren Fesseln schliefen‹, wie einer ihrer Vertreter schrieb. Der Marxismus sieht diese Theorie […] als eine grobe Vereinfachung an.«
Die Aufklärungsphilosophen hielten die katholische Kirche zu Recht für einen Feind des Fortschritts, aber ihre Schlussfolgerung, dass alle Religion notwendigerweise reaktionär sei, war einseitig. Das marxistische Verständnis hingegen geht davon aus, dass die Religion eine geistige Ausdrucksform der scheinbar unausweichlichen Härten des Lebens ist. Das erklärt den Aufstieg von Bewegungen wie der Befreiungstheologie in Lateinamerika, wo viele katholische Priester ihr Leben dem Kampf gegen US-Imperialismus, Despotismus und Korruption in ihren Heimatländern widmeten. Die Religion kann als Waffe – wie Engels in seinem Aufsatz über die Bauernkriege in Deutschland schrieb – leicht in die Hände entgegengesetzter Kräfte fallen. Sie kann von den Kräften der Reaktion ebenso genutzt werden wie von den Unterdrückten in Aufstandsbewegungen für demokratische Ziele.
Das kann etwas Licht in die Aussage vom »Opium des Volkes« bringen, die wohl eine der am häufigsten falsch zitierten und interpretierten Textstellen des gesamten Marxʼschen Werkes ist. Sie wird meist in dem Sinne verstanden, dass Religion den Menschen von den Herrschenden wie eine Droge verabreicht wird, um sie in einem Betäubungszustand zu halten, der sie für die Realität ihrer Unterdrückung blind macht – als »Opium für das Volk« statt »Opium des Volkes«. Diese Interpretation übersieht das dialektische Verhältnis, das Marx beschrieb. Es lohnt sich daher, den Absatz in voller Länge zu betrachten:
Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur [Ehrenpunkt], ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Hier konkurrieren zwei Aussagen, die dem realen Doppelcharakter von Religion entsprechen. Einmal dient Religion den leidenden Menschen als Trost, als schmerzlinderndes Betäubungsmittel, andererseits wird Religion als eine Form des Protests »gegen das wirkliche Elend« bezeichnet. Marx und Engels waren Anhänger einer materialistischen Weltsicht, die menschliche Handlungen und Interaktionen mit der Welt als bestimmende Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmacht. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einem statischen, geschichtlich unbewussten Verständnis von Religion als ausschließlich reaktionärer Ideologie im Interesse der herrschenden Klassen anhingen oder dass aus ihrer Sicht religiöse Menschen und religiöse Ideen in bestimmten Epochen der Geschichte nicht auch fortschrittliche und sogar revolutionäre Wirkung haben konnten.
Deshalb lehnten sie auch einen militanten Atheismus ab, der Unterdrückung und sogar Verbot von Religion als politische Ziele der Arbeiterbewegung festschreiben wollte. Ihrer Meinung nach würde Religion nicht »abgeschafft«, sondern im Verlaufe der gesellschaftsverändernden Klassenkämpfe von selbst an Bedeutung verlieren und schließlich eines natürlichen Todes sterben. Weil Religion zum einen ein Mittel zur Unterdrückung und zum anderen Ausdruck des Kampfes gegen Ungerechtigkeiten sein kann, konnte die Bibel eine Inspiration für Martin Luther King wie auch für rassistische Ku-Klux-Klan-Mitglieder sein. Unter Berufung auf den Koran (aber auch auf die Bibel) werden Frauen unterdrückt. Gleichzeitig ließen sich die Revolutionärinnen der arabischen Revolution aber auch vom Koran inspirieren.
Ausgehend von diesem Verständnis können wir begreifen, warum die Friedrichs, Sarrazins, Dobrints und Keleks dieser Welt mit ihrem rassistischen Opportunismus und ihrer Politik der Spaltung in Arm und Reich die besten Anwerber für Pierre Vogels Salafisten sind, denn anders als im vorrevolutionären Frankreich wird religiöser Glaube heute mit Armut und sozialem Ausschluss in Verbindung gebracht.
Ein Artikel von Kate Davison, der in Theorie21 veröffentlicht wurde. Der erste Teil beschäftigte sich mit Religionskritik als Tarnung für Rassismus, der zweite mit der Linken und ihrem Verhältnis zur Religion, der dritte mit der Debatte um Islamunterricht.
Eine Antwort
gähn…. in nicht enden wollenden Artikelserien wird immer wieder dasselbe, bereits widerlegte, wiedergekaut.
rechte setzen überall religiöse praktiken ein, benutzen sie, und bekämpfen sie nicht wie eingangs behauptet.
so ist auch der Islam rechts, faschistisch &rassistisch- und nicht seine Kritiker.
vom Kapitalismus privilegierte, reaktionäre schichten wie Ärzte, Juristen, die hierzulande oft fdp/CDU/afd/NPD angehören, sind dort meist in isl. Parteien aktiv, die in erster Linie eine Bewegung der Oberschicht sind und nicht -wie viele genossen hierzulande annehmen- eine der analphabetischen Unterschicht (lediglich in der isl. Iran. Revolution 1979 war das Lumpenproletariat mobilisiert).