Die Militarisierung der Nordsee

Der Nordseeregion fällt im Konflikt der NATO mit Russland eine besondere geostrategische Bedeutung zu. Der Ärmelkanal gilt als „kritischer Engpass“ auf der Route aus den USA nach Europa; bei einem militärischen Konflikt der NATO mit Russland würden US-Truppen über den Atlantik nach Europa gebracht. Deutschland mit seiner hohen strategischen Stellung dient als „Drehscheibe“ für Truppenverlegungen gen Osten.

von Merle Weber

Zusätzlich zur Militarisierung der Ostseeregion beginnt die NATO mit dem Wiederaufbau militärischer Strukturen rund um Ärmelkanal und Nordsee. Bei einem Treffen in Hamburg unterzeichneten die fünf Anrainerstaaten kürzlich im Rahmen des alljährlichen Treffens des NATO-Channel Committee (CHANCOM) eine gemeinsame Erklärung über eine engere militärische Zusammenarbeit. Nach Angaben der deutschen Marine, die an der Zusammenkunft beteiligt war, war auch der Aufbau eines regionalen NATO-Kommandos für die Nordseeregion analog zum Ostsee-Marinekommando des Kriegsbündnisses in Rostock im Gespräch. Der Seeweg vom Atlantik durch den Ärmelkanal über die Nordsee zur Ostsee ist eine wesentliche Route für US-Truppen nach Europa. Deshalb kommt der Region seit der Verschärfung des Konfrontationskurses der NATO gegen Russland wieder strategische Bedeutung zu. Auch die zivilen Häfen auf der transatlantischen Verbindungsroute, darunter Hamburg und Bremerhaven, sollen eingebunden werden.

Ursprung im Kalten Krieg

CHANCOM (Channel Committee) ist das Überbleibsel des Allied Command Channel, eines der drei wesentlichen Kommandos der NATO im Kalten Krieg. Das Allied Command Channel wurde 1952 aufgestellt und 1966 in Northwood (Großbritannien) angesiedelt. Es war zuständig für den Ärmelkanal und die Nordsee. Der Seeweg durch den Kanal und dann weiter über Antwerpen (Belgien), Rotterdam (Niederlande) und Bremerhaven (BRD) war damals die wesentliche Nachschubroute der USA und Großbritanniens für einen möglichen Krieg gegen die Staaten des Warschauer Vertrags. Dementsprechend war die Region zu Zeiten der Blockkonfrontation für die NATO von strategischer Bedeutung. Dem Allied Command Channel unterstanden mit der „Standing Naval Force Channel“ direkt einsetzbare Seefernaufklärer, Jagdbomber und Minenabwehrboote. Die bundesdeutsche Marine stellte damals eins der Minensuchboote.

Transformation nach 1990

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor die Region zeitweilig ihre strategische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund löste die NATO 1994 das Allied Command Channel auf. Es wurde zu CHANCOM herabgestuft, einem Beratungsgremium der Admirale aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden. In diesem Rahmen blieben allerdings die Seestreitkräfte der Verbündeten auf alljährlich abgehaltenen Treffen in Kontakt und Austausch. Italien, Portugal und Spanien haben inzwischen Beobachterstatus bei CHANCOM. Neben den regelmäßigen Treffen bestehen gemeinsame militärische Ausbildungsprogramme, an denen auch deutsche Soldaten beteiligt sind, sowie mehrere bilaterale Kooperationen wie zum Beispiel die Entwicklung eines gemeinsamen deutsch-französischen Seefernaufklärers.[1]

Die vier Wellen der NATO-Osterweiterung als animiertes gif:

Die 4 Wellen der NATO-Osterweiterung und potentielle Beitrittskandidaten des Militärbündnisses. By Jakob Reimann, JusticeNow!, licensed under CC BY-ND 4.0.

Engpass auf der transatlantischen Brücke

Wie zuvor der Ostseeregion hat der NATO-Machtblock inzwischen auch dem Gebiet um Nordsee und Ärmelkanal seine Bedeutung aus den Zeiten des Kalten Kriegs wiedergegeben: durch die kontinuierliche Eskalation des Konflikts mit Russland, die nach Jahrzehnten der Osterweiterung ab 2014 ganz offen erfolgte. Beide Regionen – die Ostsee sowie das Gebiet um Ärmelkanal und Nordsee – haben in diesem Konflikt geostrategische Bedeutung für die NATO. Der Ärmelkanal gilt als „kritischer Engpass“ auf der Route aus den USA nach Europa; das ist entscheidend, denn bei einem militärischen Konflikt der NATO mit Russland würden US-Truppen über den Atlantik nach Europa gebracht. Um in Richtung Osten vorzustoßen, müssen sie zuerst entweder den Ärmelkanal oder die sogenannte GIUK-Lücke (Grönland-Island-Vereinigtes Königreich/United Kingdom) passieren. Danach muss in jedem Fall die Nordsee durchquert werden – entweder, um in einem zentraleuropäischen Hafen an Land zu gehen und von dort über Land gen Osten zu ziehen, oder, um gleich per Schiff durch die Ostsee nach Polen oder ins Baltikum an die russische Grenze zu verlegen. Für die Nachschubtruppen der NATO ist die gesamte Region ein gefährliches Nadelöhr, in dem sie besonders anfällig für U-Boote und Seeminen sind. Diese Situation hat sich seit dem Kalten Krieg sogar noch verschärft, da heutzutage ganze Divisionen auf einem einzigen Schiff untergebracht werden. Ein erfolgreicher Schlag seitens Russlands könnte so also mehrere 10.000 NATO-Soldaten außer Gefecht setzen, bevor sie überhaupt Europa erreichen.[2] Genau dieses Übersetzen des Nachschubs nach Europa probt die NATO nächstes Jahr mit dem gigantischen Manöver Defender 2020 (german-foreign-policy.com berichtete [3]).

In Frieden und Krieg

Die Region hat jedoch nicht nur unmittelbar militärstrategische Relevanz für die NATO. Vor allem deren europäische Mitglieder sind ökonomisch in hohem Maße abhängig von den „immens wichtigen“ Seewegen der Region, wie es bei der Marine heißt.[4] Nicht nur Militärschiffe müssen auf ihrem Weg nach Europa das Nadelöhr zwischen Großbritannien und Frankreich durchqueren. Auch die Schiffe der europäischen Handelsflotten passieren jeden Tag die – so formulieren es die deutschen Seestreitkräfte – „schlagende Pulsader von Europas Handel mit der Welt“.[5] Mit Antwerpen, Rotterdam, Hamburg und Bremerhaven liegen die vier größten europäischen Häfen im Zuständigkeitsgebiet von CHANCOM. Diese Häfen sind von zentraler strategischer Bedeutung im Frieden – aber auch „in Krise und Krieg“ [6]: Im Frieden werden Container umgeschlagen, im Konfliktfall Soldaten und Kriegsgerät.

Ein Landungsboot USS Fort McHenry (LSD 43) der U.S. Navy bei der Militärübung Cold Response im März 2016 in der Nordsee in Zentralnorwegen. By Daniel C. Coxwest, U.S. Navy,  published under public domain (cropped).

„Militärkooperation intensivieren“

Das jüngste CHANCOM-Treffen am 7. und 8. November in Hamburg ist alles andere als alljährliche Routine gewesen. Bei der Zusammenkunft unterzeichneten die Befehlshaber der fünf Marinen eine Erklärung „über die Erweiterung der CHANCOM-Beziehungen im Bereich der maritimen Kooperation“.[7] Man wolle die militärische Zusammenarbeit im Bereich der Marine „intensivieren“, und zwar „auf allen Ebenen“: Die bereits bestehende Kooperation soll ausgebaut und vertieft, gemeinsame Ausbildungs- und Austauschprogramme für Soldaten sollen erweitert, Wissen und Informationen vermehrt geteilt werden. Außerdem fordern die Admirale einen „harmonisierten“ Aufbau militärischer Fähigkeiten, um in Zukunft einfacher gemeinsame Rüstungsprojekte durchführen und geeint militärisch handeln zu können. Begründet wird dieser Ausbau der militärischen Zusammenarbeit vage mit der veränderten strategischen Lage in Europa: Die europäischen Demokratien seien zunehmend von „staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren“ bedroht, heißt es. Nach Angaben der deutschen Marine diskutierten die Admirale auch, inwieweit sich die „Ostseeinitiative“ in der Nordseeregion wiederholen ließe.[8] Damit gemeint ist der kontinuierliche Militarisierungsprozess der Ostseeregion seit 2014, der inzwischen vorläufig in dem Aufbau eines NATO-Marinekommandos für die Ostseeregion in Rostock gipfelte.[9]

Ein Zeichen gegen Russland

Mit der Unterzeichnung der Hamburger Erklärung hat die NATO den Startschuss zur Militarisierung der Nordseeregion gegeben – ein klares Zeichen Richtung Moskau: Die NATO und mit ihr die Bundesrepublik sind weiterhin unbeirrt auf Konfrontationskurs. Im Prozess der Militarisierung der Ostsee hat sich Deutschland als treibende Kraft positioniert, nicht zuletzt mit dem Aufbau des Baltic Maritime Component Command in Rostock. In Zusammenhang damit ist es Berlin gelungen, seine strategische Stellung als „Drehscheibe“ im Konflikt mit Russland auszubauen und so seine Position im internationalen Machtgefüge zu stärken. Ob es der BRD gelingt, das in einer etwaigen „Nordseeinitiative“ zu wiederholen, wird sich zeigen.


Dieser Text von Merle Weber erschien zuerst online auf German Foreign Policy. Die Freiheitsliebe bedankt sich vielmals bei GFP und bei Merle für das Recht zur Übernahme – connect critical journalism!


Anmerkungen

[1] CHANCOM 2019: Admiralsgremium setzt auf Neustart. marine.de 07.11.2019.

[2] Rowan Allport: Fire and Ice. A New Maritime Strategy for NATO’s Northern Flank. Human Security Centre. London, December 2018.

[3] S. dazu Testmobilmachung gen Osten (I).

[4], [5], [6] CHANCOM 2019 – Frischer Wind für ein strategisches Seegebiet. Presse- und Informationszentrum Marine 28.10.2019. Vgl. auch: Wachsamkeit im Kanal. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.11.2019.

[7], [8] Erklärung über die Erweiterung der CHANCOM-Beziehungen im Bereich der maritimen Kooperation. 07.11.2019.

[9] Merle Weber: Die Militarisierung der Ostsee. Die NATO und das Marinekommando in Rostock. imi-online.de 18.10.2019. S. auch Die Schaltzentrale für Ostseekriege und Führungsansprüche an der „nassen Flanke“.

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel

Alte Spaltungen, neuer Bundeswehreinsatz

Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit bereiten die Regierungsfraktionen einen neuen Einsatz der Bundeswehr vor – in einem altbekannten Konfliktgebiet. Erneut sollen bewaffnete deutsche Streitkräfte nach Bosnien