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Die liberale Ampel – mehr Gleichberechtigung und mehr Kulturkampf

Nach 16 Jahren Angela Merkel kommt mit der Ampel etwas Bewegung in den deutschen Stillstand. Sie verstand es wie keine Zweite, das Land durch verschiedene Krisen zu führen. Politische Ideen für die Zukunft ließ die Kanzlerin hingegen weitestgehend vermissen. In diesen Eigenschaften ist ihr Olaf Scholz sehr ähnlich. Trotzdem kann und wird er als Kanzler eine weit kontroversere Figur werden. Als Kanzler muss er mit FDP und Grünen weitaus größere Widersprüche innerhalb der Koalition moderieren als seine Vorgängerin.

Auch der Koalitionsvertrag trägt nicht Merkels depolitisierende Handschrift, die alle Konflikte mied wie der Teufel das Weihwasser. Der Koalitionsvertrag verspricht eine gesellschaftliche Modernisierung ohne sozialen Ausgleich. Das wird starke kulturelle Konflikte mit den Konservativen und Rechten provozieren und die gesellschaftliche Spaltung vertiefen. Wenn die Rechten toben, muss das nicht schlecht sein. Für DIE LINKE wird die absehbare politische Frontstellung zwischen Ampel und Konservativen zur Herausforderung.

Die Blockade der Merkel-Ära und die neue Kanzlerschaft

Das Land schien in den letzten Jahren gleichermaßen eingefroren und zunehmend polarisiert. Ökonomisch, wirtschaftlich und politisch herrschte Stillstand. Die deutsche Kernindustrie gerät mit dem möglichen Ende der Automobilität ins Hintertreffen. Technologisch, und vor allem in der digitalen Entwicklung, hinkt das Land hinterher. Ganze Landesteile werden mehr und mehr abgehängt, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Auch die Europäische Union entwickelte sich erstmals in ihrer Geschichte nicht weiter und verlor sogar ein Mitgliedsland. Nicht nur gefühlt verwaltete Angela Merkel den schleichenden Niedergang und hatte ihm nichts entgegenzusetzen.

In den gesellschaftlichen Debatten dominierte in den letzten Jahren einerseits ein kultureller Aufbruch und der Ruf nach verstärkter Gleichberechtigung für Minderheiten und der Infragestellung des ökologisch zerstörerischen Gesellschaftsmodell des Westens. Verkörpert wurde dieser progressive Aufbruch durch die Grünen. Sie vereinen viele 1-Punkt-Bewegungen, NGOs und das projektbezogene Politikmachen. Einen größeren Gesellschaftsentwurf, der alle Teile der Gesellschaft mitnimmt, haben sie nicht. Mit großem Recht pochen sie auf die, in unserer liberalen Gesellschaft groß geschriebene, individuelle Gleichberechtigung: Schutz vor Diskriminierung, sexuelle Selbstbestimmung, rechtliche Gleichstellung von Migrant*innen, gleiche Repräsentanz und Anerkennung der Geschlechter, von Ethnie oder Hautfarbe.

Infrage gestellt wurde dieser kulturelle Aufbruch im letzten Jahrzehnt von rechts. Im gesamten Westen bekämpften politisch konservative oder stramm rechte Bewegungen und Parteien diesen bürgerrechtlichen Fortschritt. Der Konterpart des liberalprogressiven Aufbruchs ist eine ebenfalls starke, kulturelle Untergangsstimmung und Nostalgie, die die „sichere, bessere Vergangenheit“ verklärt. Dieser eher konservative Teil der Gesellschaft sieht die Entwicklung der letzten Jahre als Bedrohung: Er sieht die drohenden Kosten des Klimawandels, Pandemien, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und die neue Schwäche des Westens. Bedrohlich scheint ihm die verstärkte kulturelle und politische Polarisierung und nicht zuletzt die gigantischen Krisen im Globalen Süden, die in Form der Geflüchteten an die europäischen Mauern klopfen. Verbesserungen erwartet dieser Teil der Gesellschaft nicht mehr. Politisch ist nur eine Begrenzung und die Abwehr dieser „Gefahren.“

Unter Angela Merkel wurden diese Konflikte größtenteils kaltgestellt mit wenigen Ausnehmen, denn hier und da machte sie Zugeständnisse. Etwa beim Atomausstieg oder als sie 2015 die Grenzen nach Deutschland nicht abschottete. Allerdings stimmt sie bei der „Ehe für alle“ dagegen. Typisch Merkel stand sie zwischen den Stühlen, aber im Zweifel bei der liberalen Mehrheit im Land. Merkels Politikmodell beruhte auf der Depolitisierung und Demobilisierung der Bürgerinnen und Bürger. Der Koalitionsvertrag der Ampel bricht mit dieser Politik Merkels. Er stellt sich eindeutig auf die Seite liberaler Gleichstellung (innerhalb der EU-Grenzen).

Kultureller Aufbruch ohne Zukunftsversprechen

Wenn die Ampel umsetzt, was sie im Koalitionsvertrag verspricht, holt das Land längst überfällige Reformen im gesellschaftlichen Bereich nach: Die Adoption von Kindern durch homosexuelle Eltern wird erleichtert, dass Transsexuellengesetz gekippt, die Gewalt gegen Frauen soll ernsthafter verfolgt, Frauenhäuser ausgebaut werden und ganz wichtig, die Einbürgerung soll erleichtert und eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich werden. Ebenfalls wichtig ist die überfällige Legalisierung von Cannabis. Wenn die Ampel das umsetzt, hat sie einen großen Schritt getan; weit mehr als 16 Jahre Angela Merkel gebracht haben. Es ist ein bisschen so, als würde die Ampel Deutschland wieder auf den state-of-the-art bringen. Die neuen Gesetze werden vielen Menschen das Leben deutlich einfacher machen.

Gleichzeitig gelangt das liberale Fortschrittsversprechen damit an sein allmähliches Ende. Die rechtliche Gleichstellung im Land ist damit erreicht – mit einer riesigen Ausnahme: Die liberalen Rechte hören an den EU-Grenzen und beim deutschen Pass auf. Die Ampel will unter dem Schlagwort „Rückführungsoffensive“ noch vehementer abschieben. Ein vollwertiger Mensch ist auch für die Ampel nur ein Mensch mit dem richtigen Dokument.

Vorausgesetzt, die Ampel setzt ihre Versprechen um, zeigt die Vollendung der liberalen Gleichheit das Fehlen der sozialen umso deutlicher. Der liberale „Fortschritt“ der Ampel ist klassenblind. An der Zunahme des riesigen Niedriglohnsektors, der krassen Schere zwischen Arm und Reich und dem Auseinanderdriften der Landesteile ändert die Ampel nichts. Die Tarifbindung und damit die Qualität vieler Jobs wird weiter abnehmen. Darunter werden gerade die von der Ampel in der Gleichstellungspolitik umworbenen Gruppen besonders zu leiden haben: Frauen mit mehreren Jobs, Alleinerziehende und die arbeitenden Migrantinnen und Migranten. Gleiche Rechte bedeuten noch lange nicht gleiche Chancen oder gar Gleichheit. Die Ausstrahlungskraft der liberalen Gleichstellungspolitik ist von vorneherein stärker auf Besserverdienende ausgerichtet.

Die geplante rechtliche Gleichstellung bedeutet für einen Großteil der Bevölkerung keine Veränderung. Wenn sich die reale Situation der Mehrheit aber nicht verbessert und die politischen Konflikte, befeuert von einem Oppositionsführer Friedrich Merz und der AfD, sich vor allem um kulturelle und rechtliche Fragen drehen, entsteht eine politisch brisante Situation. Das politische Konfliktfeld wird dann noch mehr als in den letzten Jahren von kulturellen Auseinandersetzungen bestimmt. Die Rechtspopulisten werden dann die Vertretung „des kleinen Mannes“ und der „normalen Leute“ für sich beanspruchen und dürften damit einigen Erfolg einfahren. Diese Konstellation stärkte schon in den letzten Jahren die progressiven Liberalen und die Rechtspopulisten in vielen Ländern der westlichen Welt.

Die Konzentration auf rechtliche Gleichstellung ist für die Regierung Scholz finanziell leicht zu haben, politisch wird sie dafür einen Preis zahlen müssen. Die SPD könnte diesen Konflikt gewinnen, wenn sie sich auf ihre sozialen Wurzeln besinnen würde und die Mehrheit im Land stärker am materiellen Wohlstand beteiligen würde. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu aber wenig.

Weder wirtschaftliche Modernisierung, noch soziale Gerechtigkeit

Der soziale Konflikt wird von der kommenden Regierung kaltgestellt. Die Unternehmen und Reichen werden steuerlich nicht stärker belastet, können damit aber leben. Schließlich sind die Unternehmenssteuern in den letzten 30 Jahren so stark gesunken wie noch nie. Gleichzeitig sind die Vermögen der Reichen und vor allem durch die gestiegenen Boden- und Immobilienpreise durch die Decke gegangen. Gravierender ist für die Reichen und Unternehmen die ausbleibende Modernisierung der Industrie. Die deutsche Industrie ist in Teilen veraltet und die Herausforderung des ökologischen Umbaus entfachte zumindest in einem Teil der deutschen Eliten Interesse an einer Regierungsbeteiligung der Grünen. Die ökologische Modernisierung konnte oder wollte die deutsche Industrie selbst nicht zahlen. Eine Regierung unter Beteiligung der Grünen war die Chance auf eine staatlich finanzierte Modernisierung der Wirtschaft. Doch die bleibt nun scheinbar aus. Zwar sollen die Erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden – nur kommt das zehn Jahre zu spät. Die Regierung Merkel hat sowohl die Solar- als auch die deutsche Windkraftenergie fast vollends ruiniert. Eine Reindustrialisierung ist hier ebenso wenig zu erwarten wie vom im Koalitionsvertrag viel gepriesenen grünen Wasserstoff – schlicht weil die industriellen Kapazitäten anderswo aufgebaut wurden und für den Wasserstoff Energie fehlt. Die Grünen bekommen ein paar Zugeständnisse im Bereich der erneuerbaren Energien und vor allem beim E-Auto. Ob damit die viel zu späte Klimaneutralität 2045 erreicht werden kann, bleibt zweifelhaft. Die Anforderungen, die nötig wären, das Pariser 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, wird die Ampel mit dieser Politik verfehlen.

Die Koalitionäre haben offenbar keine Idee von einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Für die SPD ist das ein größeres Drama als für die Grünen. Die Partei hat offenbar nicht nur ihre sozialen Forderungen, sondern auch sonst jedwede vorwärtsweisenden Ideen aufgegeben und kann nun nicht mal mehr für gute Arbeitsplätze sorgen, was lange Zeit ihr Mantra war. Zwar mahnt der Koalitionsvertrag den Schutz von Arbeitsplätzen an, aber allein der Umstieg auf das E-Auto wird mehrere 100.000 Industriearbeitsplätze im Land vernichten.

Neben der Erhöhung des Mindestlohns und ein paar Verbesserungen im Bereich der Arbeitspolitik scheint die SPD inhaltlich blank zu sein. Der Niedriglohnsektor bleibt unangetastet – durch die Ausweitung der Minijobs wird er wahrscheinlich erweitert und Hartz IV lediglich umbenannt. Keine der Ampel-Parteien interessiert sich anscheinend für das untere Drittel der Gesellschaft. Sanktionen, Niedriglohn und Obdachlosigkeit sind der Ampel wurscht. Skandalös ist auch das soziale Versagen in der Mietenpolitik. Hier kommt von der Bundesregierung rein gar nichts. Als wenn die Mieten in unzähligen deutschen Städten nicht explodieren würden. Mittlerweile ist die Wohnungsnot eines der drängendsten Probleme in Deutschland. Das hat die Regierung zwar erkannt und schuf dafür eigens ein Bauministerium. Nur hat das laut Koalitionsvertrag kaum Aufgaben. Sogar in ihrem ureigensten Bereich, der sozialen Gerechtigkeit, bleibt die SPD schwach.

Neben den viel zu zögerlichen Klimazielen ist die Achillesferse der Grünen in der Koalition hingegen die Verkehrspolitik. Weder soll der ÖPNV zur Alternative zum Auto aufgebaut und damit billiger werden, noch formuliert die neue Bundesregierung überhaupt ein Konzept für die Verkehrswende. Passenderweise fällt das Verkehrsministerium an die FDP. Die Zerschlagung und Vorbereitung der Privatisierung der Bahn passt da nur allzu gut ins Bild.

Progressiv ist diese Koalition allenfalls nach innen. Zwar bekennt sich die Koalition wortreich zu Abrüstung, nur wird die massive Aufrüstung der letzten Jahre durch das 2-Prozent-Ziel der NATO weitergehen. Eine grüne Außenministerin wird wahrscheinlich eine schärfere Außenpolitik als die SPD verfolgen. Ein schlechteres Verhältnis und größere Spannungen mit Russland und China dürften die Folge sein. Der Mehrheit im Land dürfte es egal sein, weil das Interesse an Außenpolitik leider immer weiter schwindet. Noch weit folgenreicher dürften aber die anderen EU-Länder die neue Regierung zu spüren bekommen. Ein Finanzminister Lindner wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Sparpolitik Deutschlands in Europa verstärken und damit die Zentrifugalkräfte der Europäischen Union weiter anheizen. Zwar bekennen sich die Ampelparteien so stark wie sonst keine der deutschen Parteien zur EU, real können ein Finanzminister Lindner und eine allzu „progressive“ Außenpolitik jedoch eine große Sprengkraft für die EU bedeuten.

Man muss dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen, um anzuerkennen, dass er eine klare Handschrift trägt. Die Ampel ist liberal und verzichtet anders als frühere liberale Regierung auf neoliberale Zumutungen. Völlig absurd aus Sicht von SPD und Grünen ist es jedoch, im Koalitionsvertrag keinerlei finanzielle Festlegungen zu treffen und gleichzeitig der FDP das Finanzressort zu überlassen. Es gibt der FDP eine riesige Vetomacht, die die Arbeit der Regierung nachhaltig blockieren kann.

Opposition von links und rechts

Das kulturell progressive Agenda-Setting der Ampel wird ein Konjunkturprogramm für eine nach rechts gewendete CDU und natürlich die AfD. Der Kulturkampf ist das Treibmittel der neuen Rechten in der ganzen westlichen Welt. Gegen jedes einzelne der progressiven Gesetze werden die Konservativen kämpfen. Schon jetzt nehmen es die Rechtsausleger der CDU wie Friedrich Merz mit der Wahrheit nicht so genau und werden jede Schwäche der Ampel gnadenlos ausnutzen. Bündnisse von CDU und AfD werden in den östlichen Bundesländern durch die Ampel wahrscheinlicher.

Umso wichtiger war der knappe Einzug der Linken in den Bundestag. Hätte die Linke diesen verfehlt, stünde die komplette parlamentarische Opposition rechts von der Ampel. Schon jetzt ist die Gefahr groß, dass sich die gesellschaftlichen Debatten stark nach rechts verschieben, weil die Ampel zu einer Demobilisierung des linksliberalen Lagers führen wird. Der Linken kommt daher eine entscheidende Aufgabe zu: Sie muss die Opposition von links sein und die Ampel dazu treiben, ihre progressiven Reformen sozial zu unterfüttern, aber gleichzeitig die linken Proteststimmen binden und all die Enttäuschten einsammeln, die sich von der Ampel mehr versprochen haben. Das wird kein Selbstläufer, wie manche denken. Die Gefahr ist groß, dass die Linke in den Konflikten zwischen Liberalen und Rechten unsichtbar wird. Um in den Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Rechtspopulisten wahrgenommen zu werden, muss sie sich stärker fokussieren, sonst kann sie allzu leicht in ihrer Vielstimmigkeit aus der Öffentlichkeit verschwinden. Das wäre für die arbeitende Mehrheit im Land verheerend, denn die Frontstellung zwischen Liberalen und Rechten führt in den meisten Ländern zu wenig mehr als aufgeladenen symbolischen Kämpfen. Ins Hintertreffen gerät da nur allzu leicht, was wirklich zählt: ein gutes Leben, in dem man lieben kann, wen man will, UND dazu eine gute Arbeit hat, gleiche Rechte und soziale Absicherung, eine bezahlbare Wohnung, eine Rente auf die man sich freut, ein schönes, möglichst sorgenfreies Leben. Ein kleines bisschen Sozialismus.

Wichtige Überlegungen zu diesem Text verdanke ich den Gesprächen mit Ingar und Judith Solty und natürlich Kerstin Wolter sowie diesem spannenden Aufsatz: Biskamp, Floris (2021): Rechtsruck, welcher Rechtsruck? Die Formierung eines radikal rechten Projektes in einer sich liberalisierenden Gesellschaft. In: Baum, Markus/ Breidung, Julia Maria/Spetsmann-Kunkel, Martin (Hrsg.) (2021): Rechte Verhältnisse in Hochschule und Gesellschaft. Rassismus, Rechtspopulismus und extreme Rechte zum Thema machen. Opladen. Verlag Barbara Budrich.

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