Deutschland unterstützt die Besatzung Palästinas – Im Gespräch mit Nirit Sommerfeld

Seit fast 50 Jahren besetzt Israel das Westjordanland und entrechtet die dort lebenden Palästinenserinnen und Palästinenser. Protest regt sich dagegen meist nur, wenn es zu Krieg kommt. Dies will das neugegründete „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung“ ändern, wir haben mit Nirit Sommerfeld, Vorstandsmitglied des Bündnisses, über die Besatzung, ihre Folgen und Deutschlands Verantwortung gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Vor wenigen Wochen wurde das Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung gegründet. Warum habt ihr das Bündnis gegründet?

Nirit Sommerfeld: Wir sind der Meinung, dass es Zeit wird, sich in Deutschland dafür einzusetzen, dass die bald 50-jährige israelische Besatzung beendet wird. Wir Deutsche tragen eine Mitverantwortung für das Schicksal der Palästinenser – sie sind die Folgeopfer des Holocaust. Wir tragen aber auch Verantwortung gegenüber Israel: Wenn wir mit Israel als Partner auf Augenhöhe weiter existieren wollen, dürfen wir nicht mehr mit zweierlei Maß messen, wenn es um Menschen- und Völkerrecht geht. In dem Bündnis haben sich in Deutschland lebende Menschen, teilweise mit jüdisch/israelischem und palästinensischem Hintergrund, zusammen getan, denen das Wohl der Menschen dort am Herzen liegt und die die politische Notwendigkeit für einen Wandel erkannt haben.

Die Freiheitsliebe: Wie wirkt sich die Besatzung auf Palästina und die Palästinenser aus?

Nirit Sommerfeld: Das von der UNO als Beobachterstaat anerkannte Land Palästina kann unter den derzeitigen Umständen nicht als eigenständiger Staat gegründet werden. Der Siedlungsbau – also der Bau von großen Städten, Fabriken, Produktionszentren, Plantagen und einem enormen Straßennetz – haben aus dem Gebiet einen „durchlöcherten Schweizer Käse“ gemacht, wie manche Palästinenser es selbst beschreiben. Das israelische Militär hat die volle Kontrolle über das besetzte Westjordanland. Selbst in den Zonen A, die offiziell unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde stehen, entscheidet letzten Endes immer das israelische Militär, wann es z.B. eine Ausgangssperre oder Hausdurchsuchungen gibt. In den Zonen B und C und in Hebron bestimmt das Militär das tägliche Geschehen. Hausdurchsuchungen, Hauszerstörungen, Inhaftierungen, mobile und fixe Checkpoints, Straßensperren und andere Kontrollen bestimmen den Alltag der Palästinenser. Sie können sich nicht frei bewegen, brauchen Genehmigungen, um nach Israel ein- und ausreisen zu können; sie werden enteignet, wenn wieder ein Stück Mauer fertig gestellt wird; sie werden von Siedlern angegriffen, ihre Olivenbäume werden zerstört. Die allgemeine wirtschaftliche Situation ist in den meisten Gebieten sehr schwierig. Umso erstaunlicher ist es, dass der Grad der Bildung bei den Palästinensern extrem hoch im Vergleich zu anderen Völkern in ähnlich schwierigen Situationen ist.

Die Freiheitsliebe: Spielt Deutschland eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Besatzung?

Nirit Sommerfeld: Deutschland spielt dabei eine ganz große Rolle – die EU übrigens auch. Im Grunde kann man sagen, dass Deutschland die Besatzung mitfinanziert. Absurderweise tun wir das von beiden Seiten: Wir geben z.B. den Israelis atomwaffenfähige U-Boote teilweise als Geschenke, die den Steuerzahler Milliarden kosten, und gleichzeitig finanzieren wir den Ausbau und die Ausbildung für Schulen, Straßen, Krankenhäuser, Infrastruktur und die palästinensische Polizei. Umso schwieriger finden wir es, wenn dann wie etwa in Gaza 2014 ganze Nahrungsmittel- und Medizin-Versorgungslager der EU von der israelischen Armee bombardiert werden und es dann keine Entschädigung dafür gibt. Ähnlich ist es mit Einrichtungen, die von Deutschland mit aufgebaut wurden und dann z.B. durch den Mauerbau vernichtet werden. Wir fragen uns und nun auch die deutsche Regierung: Wie können wir so eng mit einem Partner zusammen arbeiten, wenn grundlegende und offensichtliche Verstöße gegen internationales Recht an der Tagesordnung sind? Wir möchten die deutsche Regierung dazu ermutigen, Israel zur Einhaltung von internationalem Recht und demokratischen Gesetzen aufzufordern – und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen, wenn das nicht geschieht.

Die Freiheitsliebe: Im Aufruf heißt es „Unterstützung der israelischen Friedenskräfte und des palästinensischen gewaltfreien Widerstands“, wie kann dies aussehen? Welche Kräfte wollt ihr konkret unterstützen?

Nirit Sommerfeld: Die Organisation BREAKING THE SILENCE hat viel Aufmerksamkeit erhalten in letzter Zeit, leider auch von reaktionären Kräften, besonders aus Israel. Wir zeigen dieser und anderen gegen die Besatzung agierenden Organisationen unsere Solidarität und bauen gute Beziehungen auf. Auch auf der palästinensischen Seite gibt es erstaunliche Entwicklungen und bemerkenswerte Gruppierungen. Ob wir mal solche Gruppen hierher einladen, einen Preis für besonders mutiges Engagement oder andere Dinge organisieren, werden wir sehen. Wir denken über so etwas nach, sind aber erst am Anfang. Es gibt sicher noch viel zu tun.

Palästina Foto: Felix Jaschick
Palästina Foto: Felix Jaschick

Die Freiheitsliebe: Wollt ihr nur mit Kräften zusammenarbeiten, die die Zwei-Staaten-Lösung befürworten oder mit allen progressiven Kräften?

Nirit Sommerfeld: Wir glauben, dass man sich mit allen Kräften solidarisieren muss, die zum Ziel haben, die israelische Besatzung endlich, nach fast 50 Jahren, zu beenden. Ob und wie wir dann mit anderen Organisationen zusammen arbeiten werden, wird sich in der Praxis zeigen. Dass die Zwei-Staaten-Lösung vielleicht wünschenswert, aber unter den gegebenen Umständen immer unwahrscheinlicher wird, ist kein Geheimnis.

Die Freiheitsliebe: Wie wollt ihr in die deutsche Debatte eingreifen, die doch eher pro-israelisch gerpägt ist?

Nirit Sommerfeld: Die Debatte ändert sich gerade. In unserem Blogeintrag über den Spiegel- und den SZ-Artikel von Anfang Mai stellen wir einen klar veränderten Ton fest – sowohl in der öffentlichen wie auch in der veröffentlichten Meinung. Wir selbst tragen dazu bei, indem wir ganz konkrete Ereignisse thematisieren, wie in unseren ersten beiden Kampagnen, wo es um die außergerichtlichen Tötungen und dann um die Kriegsdienstverweigerung junger Menschen geht, die nicht Teil der Besatzungsmaschinerie werden wollen. Anhand konkreter Beispiele wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern und den PolitikerInnen hier klar machen: Es geht uns um gleiche Rechte für alle Bewohner Israels und Palästinas, um Beendigung von Unrecht und Gewalt, um die Einhaltung internationaler Normen, kurz: Um das Ende der Besatzung.

Die Freiheitsliebe: Welche Aktionen und Kampagnen plant ihr für die nächste Zeit, wie kann man euch helfen?

Nirit Sommerfeld: Wir werden uns als nächstes mit dem Mauerbau beschäftigen anhand des jüngsten Beispiels in Cremisan, einem Tal bei Bethlehem. Leider gehen uns die Themen nicht aus: Gaza unter jahrelanger Blockade, Kinderverhaftungen, Einsatz von Schusswaffen und unproportionale Gewalt, Hauszerstörungen, Landraub, Soldatenwillkür, Enteignungen, gedrosselte Wasser- und Energiezufuhr usw., alles Folgen der Besatzung. Wir möchten mit Fakten aufklären und somit zu einem neuen Bewusstsein und zu neuem Handeln beitragen. Wer uns dabei helfen will, kann das tun durch das Verbreiten unserer Mitteilungen, das Mitmachen bei Protest- oder Unterstützungsmails, guten Kontakten und Netzwerken, und – ganz wichtig – durch eine Fördermitgliedschaft. Denn auch wenn wir die meiste Arbeit ehrenamtlich erledigen und die Kosten auf ein absolutes Mindestmaß herunter schrauben, kommen wir um bestimmte Ausgaben nicht herum, vor allem dann nicht, wenn wir professionell arbeiten wollen und später auch Veranstaltungen planen. Eine Fördermitgliedschaft gibt es ab 100 € Jahresbeitrag und wir werden alle Formalitäten nach unserer offiziellen Eintragung als gemeinnütziger e.V. im Juli erledigen.
Ein erster Schritt, uns Solidarität und Unterstützung zu zeigen ist, unserem Blog zu folgen auf www.bib-jetzt.de und einen ‚Gefällt mir‘-Klick auf unserer Facebook-Seite zu hinterlassen. Danke!

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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