Der Prager Frühling

Im Jahr 1968 erschütterte eine gewaltige Revolte die Gesellschaft der damaligen Tschechoslowakei und von dort aus ganz Europa. Am 21. August 1968 walzten sowjetische Truppen den Prager Frühling nieder. 50 Jahre danach blicken wir zurück: Wie kam es zum Prager Frühling? Wer waren die „Reformer“? Und warum, brachte der Einmarsch sowjetischer Panzer Lenin zum Weinen? Frank Renken über den Prager Frühling und seine Folgen

Ende der 60er Jahre befanden sich die osteuropäischen Länder im eisernen Griff kommunistischer Parteien, die ihre Politik den Interessen der russischen Bürokratie im Kreml unterordneten. Die Tschechoslowakei war eine der härtesten stalinistischen Diktaturen.

1952 wurden nach Schauprozessen zehn Minister hingerichtet, 60.000 Mitglieder der Kommunistischen Partei inhaftiert und 130.000 Menschen aus allen sozialen Schichten in Arbeitslager gesteckt. Danach herrschte in dem Land für fünfzehn Jahre nahezu Friedhofsruhe.

Dies änderte sich in einem rasanten Tempo in den ersten Monaten des Jahres 1968, als eine tiefe politische Krise das Land erschütterte. Der Führer der Kommunistischen Partei, Antonin Novotny, wurde im Januar aus dem Amt des Ersten Sekretärs gedrängt. Eine Gruppe sogenannter „Reformer“ um Alexander Dubcek übernahm mit Billigung Moskaus die Macht und erklärte, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ im Land schaffen zu wollen.

Machtkampf und Massenbewegung

In Dubceks Vorstellung sollte die Demokratisierung nicht viel mehr als die personelle Veränderung an der Spitze der Apparate in Politik und Wirtschaft bedeuten, um die Einführung von Marktmechanismen gegen den Widerstand alter Stalinisten und die Manager unrentabler Betriebe durchsetzen zu können. Schließlich hatte Dubcek seine führende Rolle selbst dem ganz gewöhnlichen Aufstieg zum führenden Parteifunktionär im slowakischen Landesteil zu verdanken.

Doch die aufgetretene Spaltung an der Spitze der Apparate entfachte den Geist der Selbstaktivität am Boden der Gesellschaft. Novotny suchte Unterstützung unter den Arbeitern, indem er demagogisch die Angst vor sozialen Verschlechterungen im Zuge der angekündigten ökonomischen Einschnitte für seine eigenen Zwecke auszunutzen versuchte.

Die Reformer um Dubcek ihrerseits ermutigten nun die öffentliche Kritik an den „alten Kadern“, um die Novotny-Leute aus ihren Positionen drängen zu können. Ein Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse entbrannte und entfesselte in der Folge eine echte Massenbewegung von unten, deren Veränderungsdrang weit über das von den Parteireformern angepeilte Maß hinausging.

Prager Frühling und Manifest der 2000 Worte

Die elektrisierte Atmosphäre des „Prager Frühling“ wird in einem Bericht aus einer der vielen Massenversammlungen deutlich, die dem Sturz Novotnys aus dem Präsidentenamt im März vorausgingen.

Der Saal des „Slawischen Hauses“ war “überfüllt mit aufgeregten Männer und Frauen, die dichtgedrängt selbst auf den Treppen bis hinunter auf den Bürgersteig standen. Fragen auf kleinen Papierschnipseln kamen wie Schneeflocken von den Galerien heruntergerieselt. Die Redner sprachen wie freie Menschen. Eine Frau, lange Zeit inhaftiert, verurteilt Präsident Novotny wegen seines Anteils an den Schauprozessen [im Jahre 1952]. Ein Bühnenautor sagt, daß der Staatsanwalt elf Justizmorde auf seinem Gewissen habe. Ein Schriftsteller sagt, daß der Verteidigungsminister die Mentalität eines halbgebildeten Unteroffiziers besitze.

Der routiniert eingespielte Apparat der Repression hörte auf zu funktionieren. Journalisten und Intellektuelle begannen, die gesamte Gesellschaft in ihren Fundamenten zu kritisieren.
Im Juni 1968 unterzeichneten zahlreiche Prominente und Intellektuelle das Manifest der „2000 Worte“, das den verschärften Kampf gegen die konservativen Kräfte auf allen Ebenen der Gesellschaft forderte.

„Gewerkschaften ohne Kommunisten“

Die anfänglich abwartende Haltung in den Betrieben schlug bald um. Die Gewerkschaftszeitung Prace berichtete von “unzähligen ökonomischen, sozialen und Lohnforderungen, die aus dem Verborgenen an die Oberfläche kommen.“

Ein Beispiel war etwa der siebzigminütige Streik bei Electropristoje in Pisek gegen Veränderungen im Produktionsablauf, die sich nachteilig auf die Löhne auswirkten. Die Arbeiter eroberten sich nicht nur das Streikrecht. Sie setzten auch den Aufruf der „2000 Worte“ zur Hinausdrängung tausender Novotny-Leute aus den Gewerkschaften um.

Auf einer Versammlung des Zentralkomitees der herrschenden Partei im April warnte ein Redner, dass sich in den Gewerkschaften ein “spontaner Prozeß entwickelt, der sich dem Parteieinfluß entzieht. Die Parole ›Gewerkschaften ohne Kommunisten‹ setzt sich an einigen Stellen durch. Vier Betriebskomitees, die sich bereits im Aero-Werk gebildet haben, sind gänzlich ohne Kommunisten. Es fehlt auch nicht an Forderungen, daß die alte Demokratie wieder hergestellt werden solle.

Die organisatorische Brücke zwischen wirtschaftlichen und politischen Forderungen schlugen schließlich Hunderte von Arbeiterkomitees zur Verteidigung der Pressefreiheit, die sich ab dem Mai bildeten.

Moskau schreitet ein

Diese Entwicklung war nicht tolerierbar in den Augen der russischen Bürokratie.

Dubcek, dem die Moskauer Führung noch im März zutraute, den warmen Wind des Frühlings rasch abkühlen zu können, wurde wiederholt gewarnt, endlich die Daumenschrauben anzuziehen. Und dieser ließ auch keine Gelegenheit aus, um vor der drohenden „Anarchie“ zu warnen. In seinen Worten sei es “Anarchie, wenn man Demokratie als einen Zustand versteht, wo sich jeder in alles einmischt und tut, was er will.“

Doch trotz aller Versuche, die Bewegung zurückzuschrauben, wurde Dubcek die Geister nicht mehr los, die er gerufen hatte. Im Sommer 1968 schien er trotz persönlicher Popularität nicht mehr in der Lage, die Dynamik der Bewegung kontrollieren zu können. So entschloss sich die russische Führung das zu tun, was sie schon 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn tat. Sie setzte die Armee ein.

Einmarsch des Warschauer Pakt

In der Nacht vom 20. zum 21. August wurden die Bürger der Tschechoslowakei vom Dröhnen der Panzer des Warschauer Pakt aus dem Schlaf gerissen. Innerhalb von vier Stunden besetzten Tausende Panzer und Hunderttausende von Soldaten Russlands und anderer Warschauer Pakt-Staaten alle wichtigen Flughäfen, Grenzposten und Städte des Landes. Doch trotz der 50 bis 100 Toten gelang es den russischen Truppen nicht, den Widerstandswillen im Keim zu ersticken.

Die russische Führung hatte den Einmarsch nicht politisch vorbereitet und konnte sich daher auf kein Netzwerk tschechoslowakischer Kollaborateure stützen. Stattdessen stieß das Besatzungsregime auf Massenverweigerung. Die freien Medien arbeiteten weiter und verurteilten den Einmarsch. Der Widerstand blieb aber unter der Führung derjenigen Bürokraten, die nach wie vor die Reformbewegung anführten. Dubcek vermochte es sogar einen geheimen Parteikongress abzuhalten, der die Invasion verurteilte.

Dubcek wollte keinen bewaffneten Widerstand, keinen Streik, nicht einmal Demonstrationen. Er hoffte, Breschnew überzeugen zu können, dass unter den gegebenen Umständen nur er die „Stabilität“ in der Tschechoslowakei garantierte. Als Dubcek nach seiner eigenen Verhaftung sechs Tage später aus Moskau zurückkehrte, blieb er Parteivorsitzender und sprach sich für die „Normalisierung“ aus.

Massenwiderstand der Arbeiterklasse und Studierenden

40.000 Skoda-Arbeiter verurteilten die Verhandlungen Dubceks in Moskau als „schmählichen Verrat“. Das Magazin Student sprach von „vollständiger Kapitulation“. Der Widerstand wuchs noch, wandte sich nun aber zunehmend gegen Dubcek selbst. Im November schließlich gingen die Studenten landesweit zu Besetzungen der Universitäten über. Die studentische Aktion fand eine unerwartet breite Unterstützung durch große Teile der Arbeiterklasse. In vielen Betrieben wurden symbolische Arbeitsniederlegungen bis zu 30 Minuten durchgezogen oder die Sirenen in Solidarität zum Heulen gebracht. Ein Studentenführer berichtete, „wir sprechen täglich auf Versammlungen in Fabriken mit bis zu tausend Arbeitern.“

Das Land stand an der Schwelle einer frontalen Konfrontation mit den Besatzungstruppen. Doch die Masse der Studenten fühlte sich für einen derartigen Konflikt noch nicht stark genug. Nach drei Tagen wurde die Aktion beendet.

In der Folge explodierte noch mehrfach der Widerstand gegen Angriffe von oben. Im Dezember drohte die tschechische Metallarbeitergewerkschaft mit Streik. Im Januar 1969 demonstrierten 800.000, nachdem sich der Student Jan Palach aus Protest gegen die Rücknahme der Reformen verbrannte. Unruhen brachen erneut im März und dann im August in den großen Städten aus.

Die Folgen des Prager Frühling

Die Wirkung der Niederwalzung des Prager Frühling durch russische Panzer war enorm. Ein Poster, dass nach der Niederschlagung des Prager Frühülings an vielen Häuserwänden in Prag hing, bringt diese Erkenntnis auf den Punkt: Der Einmarsch sowjetischer Panzer lässt Lenin weinen. Denn das ist klar: Lenin hätte auf der Seite der Protestierenden gestanden. Für die große Mehrheit der 1968 in Westeuropa neu entstandenen „Außerparlamentarischen Opposition“wurde offensichtlich, dass die Staaten des Ostblocks nicht „sozialistisch„ sind.

Der Zusammenbruch der stalinistischen Regime im Jahr 1989, als unter dem Druck von Massenbewegungen auch die tschechoslowakische KP weggefegt wurde, hat diese Perspektive bestätigt. Dies, obgleich für einen kurzen Augenblick die Anhänger der Marktwirtschaft ob ihres vermeintlichen Sieges jubelten. Doch Jahrzehnte nach der „samtenen Revolution“ von Prag sind die marktwirtschaftlichen Illusionen längst tiefer Verbitterung gewichen. Die positive Erinnerung an die Kämpfe von 1968 und 1989 ist allerdings geblieben.

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