Red Army over Swastika by Yevgeny Khaldei. By [x], Flickr, licensed under CC BY-NC-ND 2.0.

Der Beginn der längst verlorenen Schlacht um Berlin

Dies ist der zweite Teil zur Schlacht um Berlin und zum Sieg des Antifaschismus. Zum Beginn der Schlacht um Berlin, die an den Seelower Höhen als Teil des Äußeren Verteidigungsrings von Berlin begann, waren noch ca. 2,7 von ursprünglich 4,4 Millionen Berlinerinnen und Berlinern in der Stadt, zwei Drittel davon Frauen sowie ansonsten vor allem Jungen unter 16 und Männer über 60 Altersjahren.

Diese Bevölkerung setzten die Nazis nun dem Kriegsende aus und während SS, Gestapo, Wehrmacht und Polizei zugleich die Kriegsmüden exekutierten und die Endphaseverbrechen zur systematischen Beseitigung ihrer antifaschistischen Gegner forcierten, zwangen sie unausgebildete 14- bis 16-Jährige sowie die Alten in den schon am 19. Oktober von Hitler befohlenen Volkssturm. „Da sind wir hingekommen“, schreibt Plivier, „wir verheizen bereits das Saatgut“. Anders sah das wiederum der frühere Nazi-Marinerichter und spätere baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger, der gegen die Rehabilitierung der Deserteure argumentierte: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“. Auch Siegfried Lenz‘ erster Roman über einen „Überläufer“ konnte nach dem Krieg nicht gedruckt werden, während Alfred Anderschs „Die Kirchen der Freiheit“, der eine Desertion als Akt der Freiheit beschreibt, zum Skandal wurde.

Tatsächlich sollten bei der Befreiung Berlins vom Faschismus bis zum 2. Mai auf beiden Seiten noch einmal 170.000 Soldaten und mehrere Zehntausend Zivilistinnen und Zivilisten getötet werden. Eine halbe Million Soldaten wurde verwundet. „Noch hätte man“, erinnert sich der Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee W.I. Tschuikow, „das Leben Hunderter, Tausender, ja Zehntausender junger deutscher Soldaten retten können, die das Schicksal in dem langen und für sie ausweglosen Krieg bisher verschont hatte. Auf der einen Waagschale lag das Leben Hunderttausender Deutscher, die Zerstörung weiterer Städte, auf der anderen das Leben einiger Abenteurer.“ Die Aufforderungen der Roten Armee aus Lautsprechern und auf Flugblättern, sich in die Kriegsgefangenschaft zu begeben, verhallten jedoch zumeist, da die „fliegenden Standgerichte“, die der Reichsjustizminister Otto Georg Thierack am 15. Februar angeordnet hatte, ganze Arbeit leisteten. „Seht diese Hüte von Besiegten! Und/ Nicht als man sie vom Kopf uns schlug zuletzt/ War unsrer bittern Niederlage Stund./ Sie war, als wir sie folgsam aufgesetzt“, dichtete Bertolt Brecht.

Konkret schloss die Rote Armee mit rund 2,5 Millionen Soldaten, 6.250 Panzern, 7.500 Flugzeugen und 41.600 Artilleriegeschützen einen Kessel um Berlin und seine 750.000 kämpfenden Einheiten. An der Oder soll alle drei Meter ein Artilleriegeschoss gestanden haben. Allein am ersten Tag der Berlin-Offensive feuerte die Rote Armee an den Seelower Höhen nach Angaben des Marschalls Georgi K. Schukow 1,24 Millionen Artilleriegeschosse ab und „gingen 98.000 Tonnen Metall auf den Gegner nieder“. Mit Hilfe war in Berlin nicht zu rechnen: An der Westfront war die Heeresgruppe B im Ruhrgebiet eingekesselt worden und würde sich bis zum 17. April ergeben. Wien war bereits am 13. April von der Roten Armee befreit worden und am 19. April befreiten US-Truppen Leipzig und Chemnitz. Auch die Schlacht um Berlin war schon verloren, bevor sie überhaupt begann. Jedoch: „Das auszusprechen, hatte bisher jedem die Hinrichtung eingebracht“, schreibt Plivier.

Um das unvermeidliche Ende hinauszuzögern, hatten die Nazis die Furcht vor den Menschen aus Russland geschürt, obwohl es Deutsche waren, die in ihrer Heimat einen barbarischen Vernichtungskrieg geführt und die im „Generalplan Ost“ die Dezimierung der östlichen Bevölkerungen um 30 Millionen Menschen durch systematische Ermordung, Verhungernlassen und Vertreibung geplant hatten. Die Ausstellung „Das Sowjet-Paradies“ der NSDAP-Reichspropagandaleitung, die der mutige Brandanschlag der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe um Marianne und Herbert Baum nicht verhindern konnte, hatten im Mai/Juni 1942 nach offiziellen Angaben 1,3 Millionen Menschen besucht. Während seiner Sportpalastrede vom 18. Februar 1943, wenige Wochen nach Stalingrad, hatten die handverlesenen 15.000 Nazi-Zuschauer Joseph Goebbels zugejubelt, als er – vor dem Banner „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ stehend – gefragt hatte: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?“ Total und radikal – anders ließ sich das, was Berlin erwartete, nicht beschreiben.

In seiner Rede hatte Goebbels anschließend im üblichen rassistisch-antikommunistischen Tonfall vor dem „Ansturm der Steppe“, der „Grauen erregenden geschichtlichen Gefahr“, die „alle bisherigen Gefahren des Abendlandes weit in den Schatten stellt“, gewarnt. Hinter den Rote-Armee-Soldaten „sehen wir schon die jüdischen Liquidationskommandos“ und hinter diesen erhöbe sich „der Terror, das Gespenst des Millionenhungers und einer vollkommenen europäischen Anarchie“. So präpariert ging Hitlerdeutschland in die Schlacht um Berlin. „Nur die Angst, daß der Russe immer näher rückt, wird von Tag zu Tag größer“, notiert die Lichtenberger Berlinerin Ursula Spaltowsky in ihr Tagebuch. „Man erzählt uns die tollsten Sachen über die Russen. Demnach wird kein Mensch diesen Einfall überleben (…). Das Radio posaunt Freiheitslieder in die Welt (…)“.

Aber die wenigsten wollen kämpfen. „Die Parteigenossen werden immer frecher“, schreibt Spaltowsky am 19. April. „Wer sich den Befehlen widersetzt, wird erschossen. Täglich stehen Namen von Soldaten und Offizieren an den Hauswänden oder Litfaßsäulen, die nicht mehr mitmachen wollten (…). Noch immer predigt man vom Sieg und der Gerechtigkeit usw. Uns kommt das zum Halse raus (…)“.

Zum Hitler-Geburtstag am 20. April, den Hitler und Goebbels mit seiner Familie im Führerbunker unter Tage verbringen, durchbrach – nach vier Tagen Offensive mit 50.000 toten Soldaten (38.000 davon auf russischer und polnischer Seite) – die Rote Armee den Äußeren Verteidigungsring und befreite den Militärstützpunkt Strausberg sowie Altlandsberg und – wie im autobiografischen und wohl besten deutschen Antikriegsfilm „Ich war neunzehn“ des deutschen Exilanten, Rotarmisten und DEFA-Regisseurs Konrad Wolf zu sehen – Bernau. Zeitgleich flogen 1.000 angloamerikanische Bomber außer Reichweite der deutschen Flakgeschütze einen zweistündigen Angriff auf Berlin und „ließen Berlin wie betäubt, still und zerstört zurück“, wie der britische Historiker Tony Le Tissier schreibt. Zu diesem Zeitpunkt ordnete Hitler den „Fall Clausewitz“ an, der neben der Evakuierung der Regierungs-, Wehrmachts- und SS-Dienststellen die Vernichtung von Beweismaterialien – Akten, Schriftstücke, Urkunden – vorsah. Einen Tag später nahm die Rote Armee das Oberkommando des Heeres in Zossen aus, während zugleich andere Truppenteile um 12 Uhr mittags in Malchow erstmals die Stadtgrenze überschritten und sich dann gegen Hohenschönhausen, Marzahn und Hönow wandten, während andere Einheiten bereits Weißensee erreichten und wieder andere am Haus Landsberger Allee 563 „Na Berlin – Pobeda“ („Nach Berlin – Sieg“) an die Fassade schrieben. Auch hissten Rotarmisten am Abend des 21. April am Turm der Marzahner Dorfkirche die erste rote Fahne.

Der „Völkische Beobachter“ hatte am selben Tag gelogen, dass „in der Zeit von 9 bis 16 Uhr ein Übungsschießen einer Flakbatterie im Norden Berlins“ stattfinde. Als dann um 11:30 Uhr Artilleriefeuer russischer Kanonen bereits den Hermannplatz in Neukölln und damit erstmalig Innenstadtboden erreichte, löste dies eine Massenpanik aus. Am Ende des Tages war der Ring um Berlin fest geschlossen. „Angenagelt zwischen Müggelsee und Havel, zwischen den sandigen Heideflächen des Barnim im Norden und den Kiefernwäldern des Teltow im Süden“, schreibt Plivier, „blieben Million Frauen und Männer und Kinder und warteten auf die Sintflut“.

Am Folgetag, als im Telegrafenamt in der Oranienburger Straße das letzte Telegramm eintraf (aus Tokio: „Viel Glück für euch alle“), erklärte Goebbels, dass „alle, die weiße Fahnen hissen, erschossen werden“. Am Abend desselben Tages wurde im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt noch einmal die „Zauberflöte“ aufgeführt, während die Ostfrontlinie durch das Vorrücken der Roten Armee nun mittlerweile bereits entlang der Linie Lichtenberg–Niederschönhausen–Frohnau verlief. Die Innenstadtbezirke wurden nun unter direkten Dauerbeschuss genommen, erwidert mit Dauerfeuer vom Flakturm im Friedrichshain. „Fontänen aus Pflastersteinen, aus Asphaltstücken, aus Dreck stiegen aus den Berliner Straßen auf. Schwere Granaten aus Fernkampfgeschützen rissen Breschen in ganze Häuserfluchten. Die Bevölkerung saß in den Kellern mit Koffern und Betten und ihrer ganzen Habe und konnte die Keller eigentlich nicht verlassen und mußte es doch tun, und wenn schon zu keinem anderen Zweck, als um Wasser zu holen. Man konnte das Leben riskieren, aber ohne Wasser konnte man nicht leben“, schreibt Plivier. Einen Tag später schob sich die Front im Osten nach Friedrichshain vor.

By Michael Beaton, Flickr, licensed under CC BY 2.0.

Die Rote Armee war bis dahin auf der östlichen Verlängerung der Frankfurter Allee vorgerückt, die zum 30. Jahrestag des Kriegsendes den Namen „Straße der Befreiung“ erhielt, nach 1990 dann aber in das zuvor kaum gebräuchliche „Alt-Friedrichsfelde“ umbenannt wurde. Seit 2015 bemüht sich die LINKE um eine Rückumbenennung. Jetzt, am 23. April, lag der Frontverlauf entlang der Linie Tegel–Humboldthain–Wollankstraße–S-Bahnhof Schönhauser Allee–Friedrichshain entlang dem S-Bahnring vom Bahnhof Landsberger Allee bis Frankfurter Allee–Teltow-Kanal. Während nördlich von Berlin die Rote Armee bei Oranienburg das KZ Sachsenhausen befreite und in Berlin-Mitte in der Invalidenstraße die SS Widerstandskämpfer erschießt, begannen nun die Kämpfe der 5. Stoßarmee um den Zentral-Vieh- und Schlachthof an der Storkower Straße und – am S-Bahnring an der Frankfurter Allee liegend – rückte die Rote Armee am selben Tag in Richtung Wilhelmstraße und Berliner Machtzentrum vor, allerdings auf die parallele Scharnweberstraße ausweichend, um dem Beschuss der Frankfurter Allee durch SS-Verbände im Flakbunker auszuweichen. „Sie gingen in voller Breite durch die Häuser und schossen sich die Giebel frei – Haus für Haus“, notierte der kommunistische Widerstandskämpfer Erwin Reisler in sein heimlich geführtes Tagebuch, während der sowjetische Frontkorrespondent Boris Polewoi die strategische Orientierung so beschrieb: „Die Gefechte in Berlin, unter den spezifischen Bedingungen der Stadt, erforderten eine neue Taktik unsererseits. Jedes Haus wurde ein Bunker, jede Straße eine Verteidigungslinie. Ob man sie umging, ob man gegen ihren rückwärtigen Raum vorstieß, jedes Objekt mußte einzeln genommen werden, denn es gab keinen Platz, auf den der Gegner hätte zurückgehen können. So bildeten wir an der Front eine neue Art von Einheiten, sogenannte Sturmabteilungen: Truppenteile aus Schützeneinheiten, Panzern, Selbstfahrlafetten, mitunter auch ‚Katjuschas‘, und immer eine Pioniergruppe; die Panzer, sozusagen organisatorisch, verschmolzen mit der Infanterie. Sie wirkten nicht nur zusammen, sondern unterstützten sich aktiv im Gefecht“. „Der Straßenkampf“, schreibt der Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee W.I. Tschuikow, „hat seine eigenen Gesetze, die man immer beachten muß (…). Der Gegner hockt in Kellern und Gebäuden. Kaum zeigt man sich, schon krachen Schüsse, detonieren Handgranaten.“

Von Teilen der Bevölkerung konnte die Rote Armee Unterstützung erwarten. Der deutsche Antifaschist Ernst Kehler, der als Soldat der 1. Belorussischen Front und Frontbevollmächtigter des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ in seine Heimat zurückkehrte, beschreibt das Kriegsende so: „[Auf dem Weg] zu meinem neuen Einsatzbereich [in] Berlin Mitte (…) waren neben weißen Fahnen in Riesenbuchstaben noch die faschistischen Losungen ‚Berlin bleibt deutsch‘, ‚Siegen oder Sibirien‘ zu erkennen. Entfernte sich der Gefechtslärm, kamen einzelne Gestalten auf die Straßen. Elend, Kriegsmüdigkeit und Verzweiflung beherrschten die Menschen. Aber ebenso unvergeßlich ist es mir, daß wir in der Uniform der Roten Armee auf unserem langen Weg von Berliner Frauen und Männern wiederholt Hinweise und Warnungen erhielten. … ‚Geht hier nicht weiter, drüben im Eckhaus liegt noch ein Schützennest.‘ Oder: ‚Nehmt den Weg durch die Hauseingänge über die Höfe. Auf der Straße ist noch kein Weiterkommen.‘“

Mit vielen antifaschistischen Widerstandskämpfern, die aus ihren Keller- und Laubenkolonieverstecken auftauchen, kommt es zu Verbrüderungsszenen. In Arbeiterbezirken, wie dem Wedding, macht die Rote Armee sehr schnelle Vorstöße, weil die Bevölkerung sich sicher genug fühlt, weiß und vielfach rot zu flaggen. Andernorts gelingt es deutschen Kommunisten und Widerstandskämpfern in der Verkleidung von Wehrmachts- und SS-Uniformen, ganze Truppenteile zu entwaffnen oder zur Kapitulation zu bringen – so zum Beispiel der Widerstandsgruppe am Osthafen in der Stralauer Allee. Manche der Antifaschisten bezahlen diese gefährliche Mission noch in den letzten Kriegstagen mit dem Leben.

Die Nacht vom 23./24. April verlief ruhig. Aber dann, so schreibt Heinz Rein im Dokumentarroman „Finale Berlin“, „als das Licht des neuen Tages durchdringt, wird die Stille durch eine ungeheure Kanonade zerrissen. Es ist 5 Uhr 15 Minuten: das Trommelfeuer der rings um Berlin in den Vororten aufgefahrenen russischen Artillerie hat begonnen. Das Trommelfeuer dauert 45 Minuten, dann treten die russischen Infanterie- und Panzerverbände zum Angriff an. Vom Süden her überschreiten sie den Teltow-Kanal und dringen in Neukölln, Britz, Lichterfelde, Zehlendorf und Neubabelsberg ein, von Tegel und Reinickendorf stoßen Panzerverbände bis zum Wedding vor und stoppen ihren Vormarsch erst am Nordhafen und an der Ringbahn in unmittelbarer Nähe des Lehrter Bahnhofes, andere Panzerverbände dringen von Norden her durch den Tegeler Forst und über die Jungfernheide an den Spandauer Schiffskanal vor, überschreiten ihn trotz der Sprengung aller Brücken und dringen in Siemensstadt ein, um Fürstenbrunn, zwischen Westend und Spandau, entbrennt ein heftiger Kampf, ebenso um den Damm der Stichbahn nach Gartenfeld.“

Der Widerstand ist unterschiedlich intensiv. Die SS-Verbände, die die Parole „Pardon wird nicht gegeben!“ ausgeben, sind die einzigen, die gut ausgerüstet sind und erbitterten Widerstand leisten. Die Zivilbevölkerung wird auf dem Altar des Faschismus geopfert. „Als der Friedrichshain Kampfgebiet und die Schultheiss-Patzenhofer-Brauerei in der Landsberger Allee Ecke Tilsiter Straße (heute Richard-Sorge-Straße) verteidigt wird“, schildert Rein eine vielfach bezeugte, besonders scheußliche Episoden aus der Schlacht um Berlin, „wird – um das Leben der Zivilbevölkerung zu schonen – von den Russen die Räumung des Viertels zwischen Friedrichshain und Zentralviehhof befohlen. Tausende entsteigen den dunklen Katakomben (…). Durch die Landsberger Allee und Landsberger Chaussee zieht der endlose Zug der Flüchtlinge ostwärts, mit Kinderwagen, kleinen Transportkarren, Leiterwagen, Greise und Greisinnen an Stöcken, Beinamputierte in Selbstfahrern, Kinder auf den Armen und an den Händen der Mütter, abgezehrte, verhärmte, übermüdete Menschen, ausgebrannt von Angst, geschüttelt von Entsetzen, aber bewegt von dem Willen zum Leben. Sie alle begeben sich in den Schutz der russischen Etappe, um sich vor den Granaten der eigenen Landsleute in Sicherheit zu bringen (…). – Die Landsberger Chaussee ist eine breite Straße, sie stößt zwischen Lauben, Gärten, Feldern und Neubausiedlungen aus der Enge der Stadt ins offene Land hinaus. Nicht nur die Flüchtlinge sind auf ihr, auf der nördlichen Straßenseite rollt der Nachschub der russischen Armee stadteinwärts (…). So wälzen sich zwei Ströme durch die Landsberger Chaussee, ostwärts die Frauen, Greise und Kinder des geschlagenen, westwärts die Söhne des siegreichen Volkes. – Da tönt von irgendwo, noch von weit her, ein Brummen, es klingt als sei ein Schwarm von Bienen unterwegs, aber das Geräusch schwillt unheimlich schnell an, wird zum Dröhnen und Donnern. Die Menschen auf der Straße blicken verwundert auf den anfliegenden Verband, zehn, zwölf, fünfzehn, zwanzig Maschinen scheinen es zu sein, sie halten geraden Kurs auf die Straße… Russische Flugzeuge, die vom Fronteinsatz zurückkehren? Nein, das sind deutsche Maschinen vom Typ Ju 87, sie wachsen riesengroß heran, die schwarzen Kreuze auf den Tragflächen sind schon zu erkennen. Die Flüchtlinge ziehen unbekümmert weiter. Was haben sie von deutschen Flugzeugen zu befürchten? Da geschieht das Unerwartete, Unwahrscheinliche, Unglaubliche – die deutschen Sturzkampfflugzeuge stürzen sich mit aufheulenden Motoren auf den Nachschub der Russen, es kümmert sie nicht, daß auf der gleichen Straße Zehntausende von deutschen Menschen in die Zone des Hinterlandes ziehen. Das Angriffsziel wird befehlsgemäß angeflogen und bombardiert. Immer wieder stürzen sich die Stukas auf die Straße, ziehen die Maschinen singend in die Höhe und stoßen wieder wie gierige Raubvögel herab. Als sie abfliegen, bleiben an den Rändern der Landsberger Chaussee Hunderte von Toten und Verletzten zurück, deutsche Menschen, niedergemetzelt von deutschen Fliegern mit deutschen Bomben und deutschen Bordkanonen (…)“.

Der am Petersburger Platz aufgewachsene, spätere Bauingenieur Werner Lindner erinnert sich an diese Mordaktion: „Dann kamen andere Russen. Es waren Kampftruppen. Die schrien: ‚Alles raus, Germanski-Flieger Bombardement!‘ Alle Leute ergriffen ihr Handgepäck und flüchteten über den Viehhof, und weiter über den Bahnhof Landsberger Allee, durch die Lauben in Richtung Steuerhaus und weiter. Tatsächlich gerieten sie in einen deutschen Bombenangriff auf sowjetische Artilleriestellungen. Unterwegs sahen sie tote Menschen und Pferde liegen.“

In Friedrichshain dringt noch am selben Tag die Rote Armee im Häuserkampf entlang der Frankfurter Allee vor, während zugleich unter schweren Gefechten am Bahnhof Wedding der Innere Verteidigungsring durchbrochen wird und das 7. Korps mit geringerem Widerstand vom Prenzlauer Berg in Richtung Alexanderplatz durchbricht sowie die 301. Schützendivision auf der Höhe Treptower Park die Spree überwindet und das Kraftwerk Rummelsburg unzerstört und betriebsfähig unter ihre Kontrolle bringt. Am frühen Nachmittag erscheint zum vorletzten Mal die Nazi-Zeitung „Der Angriff vereinigt mit Berliner illustrierter Nachtausgabe“ und titelt: „Berlins heroischer Widerstand ist ohne Beispiel“.

Am 25. und 26. April, als sich bei Torgau an der Elbe bereits US-Soldaten und Rotarmisten begegnen, macht die 5. Stoßarmee im Berliner Osten nur geringe Fortschritte. Vor allem die Einnahme des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof) gestaltet sich als äußerst schwierig. Am 27. April, während Heinrich Himmler gegen den Willen Hitlers noch versucht, mit den Westmächten über eine Teilkapitulation zu verhandeln, ist jedoch auch der Bahnhof vollständig erobert und bis zum Folgetag sind auch die Gebiete um den Alexanderplatz, die Flughäfen Tempelhof und Gatow sowie Spandau, Teile von Schöneberg, Tempelhof und Kreuzberg befreit. Die Schlinge um das Regierungsviertel, Hitlers Machtzentrum, zieht sich zu. Während in Italien am 28. April Hitlers Bündnispartner Benito Mussolini mit seiner Geliebten am Comer See aufgestöbert, erschossen und seine Leiche öffentlich zur Schau gestellt wird, reduziert sich in Berlin bis zum 29. April Hitlers Machtbereich auf 25 Quadratkilometer zwischen Regierungsviertel und Tiergarten. Am selben Tag erscheint die letzte Ausgabe von „Der Panzerbär: Kampfblatt für die Verteidiger Gross-Berlins“. Am Vorabend hatte er noch getitelt: „Wir halten durch! Die Stunde der Freiheit wird kommen.“

Am 30. April bzw. am 1. Mai stehlen sich Hitler und Goebbels aus ihrer Verantwortung und nehmen sich im Führerbunker das Leben, um, so Hitler in seinem Testament vom 29. April, „der Schande des Absetzens oder der Kapitulation zu entgehen“. Hitlers Leiche wird, wie testamentarisch verfügt, „an der Stelle verbrannt“, wo er „den größten Teil meiner täglichen Arbeit im Laufe eines zwölfjährigen Dienstes an meinem Volke geleistet habe (…)“. Die Staatsführung lügt jedoch und vermeldet erst am 2. Mai, dem Tag der Kapitulation Berlins, „der Führer“ sei „beim Kampf um Berlin gefallen“. Am selben Tag hisste der Rotarmist Michail Petrowitsch Minin schon die rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude, aufgenommen in einer berühmten Fotografie von Jewgeni Chaldej. (s. Titelbild)

„DEM DEUTSCHEN VOLKE, so leuchtete es in goldenen Lettern über dem Hauptportal des Gebäudes“, schrieb Plivier. „Die deutschen Stämme hatten nach der Reichsgründung im Jahre 1871 hier ein gemeinsames Dach gefunden. An dem Rednerpult dieses Hauses hatten ein Bismarck, ein Bethmann Hollweg, ein Prinz Max von Baden gestanden, aber auch ein Liebknecht, senior und junior, ein Bebel und Ledebour und eine Rosa Luxemburg. Hier, aus einem Fenster der Westfassade heraus, hatte Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik ausgerufen. Es hat auch einen Reichstagsbrand und einen Reichstagsbrandprozeß gegeben. Im Qualm dieses Brandes, der den großen Sitzungssaal zerstörte und die Glaskuppel durchschlug, hatte das Dritte Reich seinen Anfang genommen, und es sah so aus, als ob es auch hier in Qualm und Feuer sein Ende nehmen sollte (…)“.

Der Reichstag in Trümmern. By Lutz Teutloff, Flickr, licensed under CC BY-ND 2.0.

Der deutsche Schauspieler Günter Lamprecht, bekannt aus Fassbinder-Filmen, dem „Tatort“ und der Fernsehserie „Babylon Berlin“, war als 15-jähriger Hitlerjunge beim Kampf um die Reichsbank am Werderschen Markt, wo heute das Auswärtige Amt untergebracht ist, dabei. An den 27. April erinnert er sich: „Alle Räume und Gänge sind belegt und verstopft mit Schwerverwundeten, mit Sterbenden. Das unaufhörliche Trommelfeuer und die Bombardements der letzten Tage, das widerliche Sausen der Stalinorgeln richtete sich jetzt nur noch auf den Kern, Berlin-Mitte.“ In einem Kasinoraum des Gebäudes stößt Lamprecht, der als Kurier eingesetzt war, auf „eine Theke voller Sektflaschen, auf Schinken, Würste und andere Delikatessen“, und an einem Tisch lagen sieben oder acht Menschen, darunter fünf Waffen-SS-Offiziere, „vornübergebeugt auf der Tischplatte oder hingen aus den stattlichen Sitzmöbeln seitlich heraus, fast alle Köpfe waren zerschmettert. Hier hatte der Krieg schon sein Ende gefunden. So feige Hunde, sich einfach zu verdrücken! Tags zuvor hatten solche noch Fahnenflüchtlinge, einfache Landser, an den Laternen und Bäumen aufgehängt.“

Stalin hatte Wert daraufgelegt, Berlin am 1. Mai, zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, zu erobern. Er war auch getrieben von der Angst, dass sich die Berichte über Verhandlungen zwischen Hitler und den Westalliierten und gar einem gemeinsamen Krieg gegen die Sowjetunion bewahrheiten könnten. In Teilen Berlins wurde jedoch noch am 2. Mai gekämpft, unter anderem rund um die Flaktürme im Friedrichshain, die im Mai 1946 gesprengt wurden, heute unter dem Großen und Kleinen Bunkerberg („Mont Klamott“ und „Hoher Schrott“) begraben liegen und als solche 1968 von Wolf Biermann und 1983 von Tamara Danz mit der Band „Silly“ besungen wurden. Viele Flakhelfer waren dabei minderjährig, nicht wenige von ihnen Mädchen. Zuletzt wurde auch in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg noch gekämpft, wo sich die SS-Einheiten in den Kellerräumen verschanzt hatten. In der Nacht vom 8./9. Mai unterzeichnen aber schließlich Generalfeldmarschall Keitel für die Wehrmacht, Generaladmiral von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Stumpff für die Luftwaffe in Karlshorst, dem heutigen „Deutsch-Russischen Museum“, die Kapitulationserklärung.

Die Zivilbevölkerung zahlte für die Schlacht um Berlin einen hohen Preis. Aus Angst vor Racheaktionen seitens der russischen Soldaten für das Leid durch den deutschen Vernichtungskrieg im Osten erließ der sowjetische Marschall Rokossowski den Befehl, dass Plünderungen und Vergewaltigungen mit Kriegsrecht oder unverzüglicher Erschießung zu ahnden seien. Wie Miriam Gebhardt in „Als die Soldaten kamen“ aufgearbeitet hat, kam es auch zu zahlreichen standrechtlichen Erschießungen und später dann Gerichtsurteilen zu fünfjähriger Lagerhaft. Auch berichten viele, so wie Ursula Spaltowsky in ihrem Tagebuch, von ihrer Überraschung, wie wenig die sowjetischen Soldaten dem Bild der „Menschenfresser“ entsprachen, das man von ihnen gezeichnet hatte. Trotzdem sollen nach der Befreiung von Berlin bis zu 100.000 Frauen vergewaltigt worden sein, wie Helke Sander und Barbara Johr in ihrem Buch »BeFreier und Befreite« schätzen. „Die Faktoren, die sexuelle Gewalt begünstigen“, schreibt Gebhardt, „waren offensichtlich stärker als die abschreckenden oder disziplinierenden Maßnahmen.“

Gisela Schulz musste als Siebenjährige im Keller der Grünberger Straße 63 die Vergewaltigung ihrer Mutter miterleben: „Ich wusste nicht, was das war. Ich schrie und schrie und schrie. Dann hatte sie wieder eine Pistole auf der Brust, es sollte weitergehen. Aber ein Offizier schickte die Soldaten weg. Die durften das ja nicht, aber sie taten es. Die wollten sich rächen, die haben uns Deutschen nie vergessen, was wir mit denen gemacht haben. Meine Mutter war dann schwanger. Ein Arzt nahm ihr das Kind ab.“


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