Bundeswehr und Heimatverteidigung

Über so eine grundlegende Strategieänderung ohne Parlamentsdebatte zu entscheiden, ist nackter Wahnsinn.
Tobias Lindner MdB Bündnis 90/Die Grünen

In einer Epoche platter Parolen und Slogans leben wir bereits seit Längerem. In Kürze werden sie uns wieder von Straßenrändern, Grünstreifen und Hauswänden anspringen. Wenn sich da DIE LINKE auf eine ihrer zutreffenden historischen Warnungen besänne und plakatierte: „Wer Merkel wählt, wählt Aufrüstung“, klänge das gleichfalls platt, träfe aber zu. „Die Bundesregierung steht zum Zwei-Prozent-Ziel“ der NATO, erklärte die Bundeskanzlerin Mitte Mai erneut. Zwei Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts summieren sich auf rund 70 Milliarden Euro. Der Wehretat 2017 beträgt 37 Milliarden – nach einer achtprozentigen Steigerung im Jahre 2016 ist das ein neuer Anstieg um 5,1 Prozent. „Merkel will Militärhaushalt fast verdoppeln“, titelte n-tv bereits vor längerer Zeit.
Der Grund liegt in Moskau, hämmern uns Politiker und Medien ein. Wladimir Putin sei aggressiv und unberechenbar, da müsse man Stärke zeigen.
Seltsamerweise werden Sinnfragen von Politik und Medien dabei gar nicht gestellt und deren Beantwortung wird von einer weitgehend desinteressiert scheinenden Öffentlichkeit auch nicht gefordert.
Will man solchen Fragen trotzdem nachgehen, sollte man zunächst in Erfahrung bringen, was mit den zusätzlichen Rüstungsmilliarden eigentlich geschehen soll. Das ist „Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“ zu entnehmen, die im Verteidigungsministerium (BMVg) erarbeitet worden sind. Generalleutnant Erhard Bühler, verantwortlicher Chefplaner des BMVg, verwies in diesem Zusammenhang auf das 2016 von der Bundesregierung verabschiedete Weißbuch, das den Fokus der Streitkräfte zurück auf die Landesverteidigung gelenkt habe. Mit dieser Maßgabe soll die Bundeswehr wieder einmal komplett umstrukturiert und umgerüstet werden.

Bis 2032 soll das Heer, das derzeit über sieben Brigaden verfügt, auf drei Divisionen à 20.000 Mann mit je acht bis zehn voll ausgerüsteten Brigaden aufgestockt werden. Jede Brigade soll aus Panzer- und Panzergrenadierbataillonen, einem Pionier-, einem Aufklärungs-, einem Artillerie- und einem Versorgungsbataillon bestehen. „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen“, stellten Johannes Leithäuser und Marco Seliger in der FAZ fest. Nur um daran zu erinnern: Das war eine Struktur, die wesentlich auf Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg beruhte.
Die neue Struktur erfordert entsprechende Militärtechnik: höhere Stückzahlen des neuen Schützenpanzers Puma ebenso wie eine Aufstockung der Anzahl des neuen Transportpanzers Boxer (derzeit 330 Stück im Einsatz) auf bis zu mehr als das Fünffache. Ein neuer deutsch-französischer Kampfpanzer müsste eingeführt werden wie auch neue Artilleriesysteme.
Die erste der drei Divisionen soll 2026 Einsatzbereitschaft erlangen.

Eine erste Sinnfrage: Die ganze Operation soll 2032 abgeschlossen sein? In 15 Jahren? In so einer Zeitspanne kann schon mal erst ein Ost-West-Konflikt eskalieren (wie nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979), dann ein Ostblock implodieren und ein kalter Krieg enden (1989/90), eine Charta von Paris verabschiedet werden (1990), ein Warschauer Pakt sich auflösen und eine Sowjetunion zerfallen (1991). Und währenddessen wäre das deutsche Militär immer noch nicht abschließend ertüchtigt, militärpolitische Lösungen für Schnee von gestern zu offerieren …
Ähnlich voluminös sollen die Veränderungen bei der Luftwaffe ausfallen: Der Kampfbomber Tornado soll ersetzt werden – Medienberichten zufolge interessiert sich das BMVg für die amerikanische F-35, Stückpreis laut Wirtschaftswoche 237 Millionen US-Dollar, Stand 2013 – dito der mittelgroße Transporthubschrauber CH-53. Beschafft werden sollen Drohnen, sechs Transportflugzeuge C-130 Herkules, zusätzliche A400M-Transporter von Airbus und schwere Transporthubschrauber; letztere erstmalig in der Ausstattungsgeschichte der Bundeswehr. Zudem sollen Bodenverbände künftig von der Luftwaffe gegen Bedrohungen von oben geschützt werden, wofür derzeit keine geeigneten Waffensysteme vorhanden sind.
Auch die Marine ist nicht vergessen worden: Neben einer Aufstockung des Bestands an Über- und Unterwasserkampfschiffen soll sie die „Befähigung zum Führen von Seekrieg aus der Luft“ zurückerlangen.
Bühler bezeichnete die „Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben“ als „Dokument des Übergangs“ – von einer Periode der Auslandseinsätze zu einer Ära der Heimat- und Bündnisverteidigung. Konkrete Umsetzungsbeschlüsse sollen folgen. Offenbar noch vor den Bundestagswahlen.
Heimatverteidigung also …

Auf „klassische“ konventionelle Weise? Raumgreifend wie im Zweiten Weltkrieg oder wie bei vergangenen Waffengängen zwischen Israel und Ägypten? Aber auf deutschem Boden? Gegen wen? Gegen Russland, das zuvor Polen erobert hat und weiter seiner alten Stoßrichtung folgt, zum Atlantik?
… und Bündnisverteidigung. Das meint das Baltikum und Polen.
Heimatverteidigung, das klingt schön eingängig altmodisch – nach Beschützen von Heidi, Loreley, Kölner Dom und Flensburger Pilsner. Doch wenn die Frage nach der Sinnhaftigkeit solchen Ansatzes gestellt wird, kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein. Denn zu dem Thema, was Landesverteidigung insbesondere in den Ländern an der Nahtstelle der Blöcke – und darüber hinaus – selbst bei konventioneller Kriegführung anrichten würde, diskutierten Experten in Ost und West seit den 70er Jahren auch miteinander intensiv. Dabei ging es unter anderem um folgende Sachverhalte, Zusammenhänge und Thesen:

„Hochtechnologiestaaten hängen ab von einer hochorganisierten, komplexen und zunehmend störbaren zivilen Infrastruktur, die nicht einmal vor der Zerstörung durch konventionelle Waffen geschützt werden kann. Der ökono-mische Kollaps, d.h. der Zusammenbruch aller zivilen Produktions- und Versor¬gungsleistungen […], kann in wenigen Stunden herbeigeführt werden.“ (Gerhard Knies, westdeutscher Physiker am DESY, 1988)
Und: „Es ist völlig unmöglich, diese Verwundbarkeit durch Verteidigungssysteme aufzuheben oder hinlänglich abzuschwächen. Ein ausreichender Schutz wäre technisch kaum möglich, jedenfalls unbezahlbar.“ (Elmar Schmähling, Chef des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, 1988)
Spätestens die Erfahrungen von Tschernobyl hatten gelehrt, dass „bei der Entstehung eines militärischen Konflikts in Europa […] Kernkraftwerke außerordentlich gefährliche zusätzliche Strahlungsquellen werden“ würden (Wladimir Pikalow, Chef der chemischen Truppen der UdSSR, 1987) und dass die „immer wieder aufgestellte Behauptung, der Schutz der Reaktoren durch Stahl und Beton verhindere jede Zerstörung durch konventionelle Waffen, […] von Unkenntnis der Wirkung moderner konventioneller Waffe“ zeuge (Horst Afheldt, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, 1986).
Die britische Royal Commission on Environmental Pollution hatte bereits 1976 folgenden Vergleich angestellt: „Wenn die Kernkraft früher entwickelt und zur Zeit des letzten Krieges weitverbreitet in der Anwendung gewesen wäre, wäre es wahrscheinlich, dass einige Gebiete Zentraleuropas wegen der Bodenverseuchung durch Cäsium noch immer nicht bewohnt werden könnten.“
„Die Zerstörung eines großen Chemiebetriebes oder Erdölspeichers selbst bei Einsatz konventioneller Waffen würde Explosionen und Brände auslösen, die hinsichtlich der Wärmeausscheidung mit einer mittleren Kernexplosion vergleichbar wären.“ (Andrej Kokoschin und Valentin Larionow, sowjetische Politologen, 1988).
1990 hatte ein gemeinsamer Sammelband ost- und westdeutscher Experten mit dem Titel „Verwundbarer Frieden. Zwang zu gemeinsamer Sicherheit für die Industriegesellschaften Europas“ wesentliche Untersuchungsergebnisse zusammengefasst und eine Einschätzung bestätigt, die Egon Bahr 1987 getroffen hatte: „Die technische Entwicklung im dichtbesiedelten Europa hat den Krieg in jeder Form (Hervorhebung – W.S.) zum gleichen Risiko für beide Seiten werden lassen.“
Das führte in der Konsequenz unter anderem dazu, die sicherheitspolitische Sinnhaftigkeit offensivfähiger militärischer Dispositive für moderne Industriestaaten grundsätzlich infrage zu stellen. Solche Überlegungen flossen in der späten DDR zum Beispiel in die Diskussionen zur Erarbeitung einer eigenständigen Militärdoktrin im Verteidigungsministerium ein, an denen der Autor beteiligt war.
Die Verwundbarkeit von Industriestaaten hat seither allein durch Digitalisierung und Vernetzung aller grundlegenden Bereiche gesellschaftlicher Daseinsvorsorge völlig neue Dimensionen erreicht.
Von alldem scheint man im Baltikum und in Polen jedoch keine Vorstellung zu haben, aber auch hierzulande ist das Wissen darum, für dessen Verbreitung in den 80er Jahren nicht zuletzt eine machtvolle Friedensbewegung sorgte, offenbar in Vergessenheit geraten. Und so können Militärs wieder ungehindert das tun, was sie zu allen Zeiten taten: Den jeweils letzten Krieg zum konzeptionellen Ausganspunkt für den nächsten zu nehmen.
Ganz in diesem Sinne äußerte der Vizepräsident des Bundesamtes für Ausrüstung der Bundeswehr, Armin Schmidt-Franke: „Die sicherheitspolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben uns die Bedeutung der Panzertechnologie für unsere Verteidigungsfähigkeit eindrücklich vor Augen geführt.“ Seine Behörde hat mit dem Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann die Lieferung von 104 ausgemusterten Kampfpanzern und 32 gebrauchten Fahrgestellen im Gesamtwert von rund 760 Millionen Euro vereinbart, um den deutschen Bestand bis 2023 auf 328 Panzer zu erhöhen.
Makabrer Trost: Auch diese Stückzahl wird gottseidank zur Wiederholung einer Schlacht wie der am Kursker Bogen nicht ganz ausreichen …
Schlagworte: Landesverteidigung, Heimatverteidigung, Bundeswehr, Wolfgang Schwarz, Panzer, Heer, Luftwaffe, Marine, Verwundbarkeit, Infrastruktur

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden.
Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (
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