Als am 23. April der damalige Premierminister Sersch Sargsyan sein Amt niederlegte, bedeutete dies gleichzeitig das Ende einer Ära in Armenien. Sargsyan hatte zuvor zehn Jahre als Staatspräsident die Geschicke des Landes geleitet und hatte ursprünglich vor, nun als Premierminister innerhalb einer zuvor geänderten Verfassung weiter regieren zu können. Diese Art von “Ämtertausch” war in der Region nichts neues: Auch Russlands Wladimir Putin und Türkeis Recep Tayyip Erdogan vollzogen schon ähnliche Manöver, um an der Macht zu bleiben.
Sargsyan wollte sich selbst damit quasi über die Regierung erheben und das, obwohl er lange zuvor gesagt hatte, dass er dieses Amt nicht anstrebte. Doch mit seinem Rücktritt ging nicht nur eine Person in den Ruhestand, sondern auch eine gesamte Partei. Auch seine konservativ-republikanische Partei HHK stand im Fokus der demonstrierenden Massen und sollte auf spektakuläre Art und Weise bei den nächsten Parlamentswahlen den Einzug in das Parlament sogar verpassen.
Doch was waren die Hintergründe dieses Regierungssturzes, den zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte und was ist die bisherige Bilanz unter dem Anführer der sogenannten Samtenen Revolution und heutigen Premierminister Nikol Paschinyan?
Der Auftritt einer neuen Jugend
Zwar zogen die Proteste im April/Mai in Armenien nahezu alle Sektoren des Volkes in ihren Bann, jedoch kann kaum bezweifelt werden, dass die Führung auf den Straßen der Hauptstadt Jerewans in den Händen der Jugend lag. Besonders an den Universitäten war die Mobilisierung stark und es war zuvorderst ein Protest der postsowjetischen Jugendlichen für ihre Zukunft. Armenien ist ein Land, welches stark unter der kapitalistischen Restauration in den 1990er-Jahren gelitten hat und das in der zehnjährigen Ära von Sargsyan den Exodus von 400.000 Armenierinnen und Armeniern verkraften musste — bei einer heutigen Bevölkerung von nicht einmal mehr 3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Nahezu jede dritte armenische Familie lebte 2018 unter der Armutsgrenze und die Tatsache, dass die Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan seit jeher geschlossen sind, führte dazu, dass für die gut ausgebildete Jugend keine Arbeit im Inland vorhanden ist.
Der armenische Staat als Halbkolonie ist nach wie vor sehr stark von Russland und der großen armenischen Diaspora mit rund 7 Millionen Menschen abhängig. Und so verwundert es nicht, dass neben der Jugend auch die schwach ausgeformte Arbeiterklasse sowie die Kleinbourgeoisie an den Protesten teilnahm.
Jene Proteste griffen dann auch eher auf die friedlichen Methoden des Zivilen Ungehorsams als auf die klassischen Methoden der Arbeiterinnenbewegung zurück. Straßen und öffentliche Plätze zu blockieren, wurde im Laufe der Tage ab dem 13. April zur Normalität. Da der Autoverkehr in Armenien von überragender Bedeutung ist, waren es die Protestierenden, die mit ihren kreativen Verkehrsblockaden wortwörtlich die Herrschaft auf den Straßen hatten. Sicherlich trug auch eine gewisse Protesterfahrung aus den letzten Jahren dazu bei, dass die Protestierenden dieses Mal geschickter, aber auch zahlreicher gegen das Regime vorgingen, welches noch bei den vorletzten Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2008 ein Massaker mit zehn Toten am 1. März 2008 verübte.
Dies war die Zeit, in der Sersch Sargsyan von seinem Parteikollegen und ehemaligem Staatspräsidenten Robert Kotscharyan das Amt “erbte” — gleichzeitig war es auch die Zeit, in der Nikol Paschiyan zum ersten Mal einem größeren Publikum bekannter wurde.
Eine liberale Führung
Manche Massenproteste wie im Sudan oder in Algerien haben bis jetzt noch keine international bekannte Persönlichkeit hervorgebracht, welche die Proteste anführen könnte. Anders dagegen Armenien, wo der liberale Journalist Nikol Paschinyan von Anfang an der klare Anführer der Protestbewegung war. Paschinyan war schon im März zu einem Fußmarsch durch Armenien aufgebrochen, um gegen die abermalige Kandidatur von Sargsyan zu protestieren. In Jerewan angekommen organisierte er jeden Tag kilometerlange Demonstrationen: Ausgestattet mit einem Megaphon und einem aktivistischen Outfit wurde er nicht müde, einerseits die Friedlichkeit der Proteste zu betonen, andererseits nicht aufzuhören bis Sargsyan zurückgetreten sei und das Parlament neu gewählt wurde.
Den Protest setzte er solange und trotz einer kurzzeitigen Verhaftung tatsächlich so lange fort, ehe Sargsyan am 23. April zurücktrat. Der Zeitpunkt des Rücktritts überrascht dabei nicht: Sargsyan war aufgrund seines exzessiven Reichtums nicht nur unendlich bei den Massen verhasst, sondern sah auch ein, dass die Proteste auch ohne Paschinyan weitergingen. Noch dazu kam der 24. April, der nationale Gedenktag an den Genozid von 1915, hinzu.
Der Rücktritt des Tyrannen bedeutete aber nicht automatisch, dass Paschinyan zum Premierminister gewählt würde. Seine liberale Fraktion im Parlament war immer noch klein, und er würde die Stimmen der anderen Parteien brauchen, um die Macht zu übernehmen. Der erste Versuch am 1. Mai scheiterte, da Paschinyan nicht die nötige Mehrheit auf sich vereinen konnte. Wieder einmal zeigte sich, dass reale Veränderungen nicht von Parlamenten, sondern von Klassenkämpfen ausgehen: Es war der 2. Mai, jener Tag des Generalstreiks, der endgültig die alte Ordnung herausforderte. Der Generalstreik gegen die Politik der bisher herrschenden Parteien wurde im ganzen Land befolgt: Sei es durch Streiks seitens der Arbeiterinnen und Arbeiter oder durch Blockaden seitens der Aktivistinnen und Aktivisten. Der Generalstreik mitsamt einer bisher nie da gewesenen Paralyse des Landes schreckte die gesamte Bourgeoisie ab und war entscheidend, dass Paschinyan letztlich am 8. Mai zum Premierminister gewählt wurde — wohlgemerkt auch mit den Stimmen der bis dato herrschenden konservativ-republikanischen Partei von Sargsyan…
Paschinyan überzeugte nicht nur aufgrund seines Charismas, sondern auch, weil er einen Teil der Bourgeoisie auf seine Seite ziehen konnte. Es verwundert nicht, dass er später auch mit den Stimmen von anderen bürgerlichen Parteien zum Premierminister gewählt wurde. Dabei war es besonders jener Teil der Bourgeoisie, der auf einer stärkere Balance zwischen den imperialistischen Mächten und Russland setzt und besonders die alltägliche Korruption in den Griff bekommen wollte. In dieser Hinsicht spielt der für Armenien sehr wichtige IT-Sektor eine Schlüsselrolle, sodass Paschinyan sogar die Zukunft des Landes als abhängig von der Entwicklung des IT-Sektors ansieht.
Auswirkungen heute
Während das innenpolitische Programm von Paschinyan relativ klar und liberal ist, bestanden zu Beginn seiner Amtszeit Fragezeichen hinsichtlich seiner Außenpolitik. Wie würde er besonders mit Russland umgehen? Und wie würde er zu den Nachbarländern Türkei und Aserbaidschan stehen, besonders da es mit Aserbaidschan zwei Jahrzehnte zuvor einen blutigen Krieg um die Region Berg-Karabach gab? Obwohl Paschinyan eine verstärkte Partnerschaft mit der EU und den USA, wo es eine starke lobbyistische armenische Diaspora gibt, anstrebt, ist er pragmatisch genug, um die notwendigerweise engen Beziehungen zu Russland aufrecht zu erhalten. Zwar gab es innerhalb des letzten Jahres einige Reibungspunkte ob der Befugnisse der russischen Militärbasis in Armenien, jedoch können und wollen beide nicht auf die gegenseitige strategische Partnerschaft verzichten.
Paschinyans große Stärke war lange Zeit die Fähigkeit zur Mobilisierung auf der Straße. Als etwa im Oktober 2018 die alten herrschenden Parteien einen institutionellen Putsch gegen ihn organisierten, um Parlamentswahlen zu verzögern, konnte er selbst bei Nacht tausende auf die Straßen bringen. Mit seinem anschließenden Rücktritt machte er den Weg frei für Neuwahlen, die er triumphal für sich entscheiden konnte mit rund 70 Prozent der Stimmen; gleichzeitig flog die HHK aus dem Parlament.
Mit dieser umfassenden Macht treibt er seitdem die liberale Transformation des Landes an. Während sich in der Außenpolitik also nicht viel verändert hat, kennzeichnen vor allem wirtschaftliche Reformen seine Politik, wobei das Ziel eindeutig die Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas ist. Die Bekämpfung der Korruption gehört dazu, aber ebenfalls eine sozial ungerechte Steuerreform, die wohl eher dazu führen wird, dass die Ungleichheit im Land sich fortsetzen wird.
Das Beispiel der sogenannten Samtenen Revolution, die also in Wahrheit keine Revolution, sondern einen Regierungssturz darstellte, zeigt, dass die tiefen Probleme eines halbkolonialen Landes in einem imperialistischen System nicht eo ipso gelöst werden können. Mehr denn je ist für die Verbesserung des Alltags all jener Menschen, die zu Recht auf die Straßen gingen, eine internationale Perspektive vonnöten. Die Proteste in Armenien waren dazu ein guter Anfang, es bleibt zu hoffen, dass sie auch in den anderen Ländern in der Region stattfinden werden.
Ein Beitrag von Hovhannes Gevorkian, Revolutionärer Marxist und Mitglied bei ver.di