AfD #2 – Aufschwung in Ostdeutschland

Der folgende Text ist der zweite Teil der dreiteiligen Artikelserie „Die gefährlichste Partei Deutschlands“ über die AfD, verfasst von Freiheitsliebe-Redakteurin Ulrike Eifler. Zum ersten Teil geht’s hier entlang.

Besonders stark ist die AfD in den ostdeutschen Bundesländern, wo sie inzwischen mit deutlichem Abstand die übrigen Parteien auf die hinteren Ränge verwiesen hat. In Sachsen hätte sie laut einer aktuellen Prognos-Umfrage mit 39 Prozent momentan die absolute Mehrheit. Hier gelingt es der AfD also deutlich besser als im Rest des Landes, von der Bundesregierung enttäuschte Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Das ist auf historisch gewachsene Neonazi-Strukturen zurückzuführen, die es der AfD in Ostdeutschland leichter machen, erfolgreich in den vorpolitischen Raum hineinstoßen und sich darüber eine stärkere Verankerung zu schaffen. In den ostdeutschen Bundesländern ist die AfD vor Ort präsenter, weil ihre Mitglieder in regionalen Vereinen und Initiativen aktiv sind. Aus diesem Grund fungiert Ostdeutschland als Kraftzentrum für die Partei und wird dadurch zum Kristallisationspunkt für den Schulterschluss mit der extremen Rechten.

Spezifische Entwicklung Ostdeutschlands

Die Stärke der AfD in den ostdeutschen Bundesländern hat Ursachen, die mit der spezifischen Entwicklung Ostdeutschlands zu tun haben. „Faschismus entspringt individueller und gesellschaftlicher Frustration“, schreibt der italienische Philosoph Umberto Eco in einer lesenswerten Abhandlung über den historischen Faschismus.[1] Und vielleicht ist das eine der wesentlichen Erklärungen für die regionale Stärke der AfD. Die Menschen in Ostdeutschland erlebten in den Wendejahren einen Strukturbruch, der sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit vollzog und mit einer neuen Erfahrung sozialer Unsicherheit einherging. Bis 1992 halbierte sich die Zahl der Industriebeschäftigten, die in der DDR deutlich höher lag als in der Bundesrepublik. Und sie ging bis 1995 noch einmal um die Hälfte zurück. Während vor dem Fall der Mauer 35 Prozent der Menschen in der Industrie tätig waren, arbeiteten dort Mitte der neunziger Jahre nur noch 14,5 Prozent. Die Folge war ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit auf bis zu 20 Prozent. Er hielt sich bis weit in die 2000er Jahre hinein. Diese Strukturbruch richtete eine ähnlich große soziale Verwüstung an wie der Strukturwandel im Ruhrgebiet, nur in wesentlich kürzerer Zeit.

Er wurde zudem begleitet von einer rücksichtslosen „Freilandpraxis“: Ostdeutschland wurde über Jahre zu einer Art Experimentierfeld, in dem die Unternehmen versuchten, die Arbeitskraft so abzuwerten, wie sie es in Westdeutschland aufgrund starker Gewerkschaften nicht konnten. Niedrige Tarifbindung und Union Busting gehörten zu den Alltagserfahrungen in der ostdeutschen Welt der Arbeit. Wie tief die Erfahrung der Zurücksetzung noch immer sitzt, offenbart der Deutschland-Monitor. Dabei handelt es sich um einen Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider. Im Herbst 2022 geben noch immer 63 Prozent der Befragten an, häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden.[2] Dieses Gefühl spiegelte sich bereits in den Ergebnissen zur Bundestagswahl 2017 wider, wo die AfD mit 27 Prozent stärkste Kraft in Sachsen wurde und drei Direktmandate holte. Diese lagen nicht zufällig in Bautzen, Görlitz und der Sächsischen Schweiz/ Osterzgebirge, ländlichen und strukturschwachen Regionen. „Hier ist das Gefühl, abgehängt zu sein, noch stärker als anderswo“, sagte der Leipziger Politikwissenschaftler Hendrik Träger damals.[3]

Das Gefühl, abgehängt zu sein

Natürlich ist der Auftrieb der AfD kein rein ostdeutsches Problem. Im bayrischen Wald gibt es ebenso Landstriche, in denen sie hohe Zustimmungswerte vorweisen kann. Und auch in Baden-Württemberg bewegt sie sich seit Kurzem mit 19 Prozent auf einem Allzeithoch. Während alle anderen Parteien konsequent an Zustimmung verlieren, bekommt die baden-württembergische AfD so viel Zuspruch wie noch nie.[4] Wie gezeigt, hat diese Entwicklung mit einem wachsenden Krisenempfinden zu tun und einem wachsenden Gefühl, abgehängt zu sein. Urban weißt auf zwei unterschiedliche Erfahrungen in Ost und West hin, die in der Konsequenz aber zu einer gemeinsamen Grundstimmung führen: Dass sich viele Menschen mit ihren Ängsten und Zukunftssorgen bei den etablierten Parteien nicht mehr aufgehoben fühlen. Dieses Gefühl sei in Ostdeutschland stärker ausgeprägt, schreibt Urban, weil sich die Hoffnung aus den politischen Wendejahren auf einen Wohlstand für alle in eine Illusion verwandelt habe. Die Anerkennung, die es noch in der akuten Phase der Wiedervereinigung gegeben habe, sei dahin, was als kollektive Kränkung empfunden werde. „In Westdeutschland liegen die Dinge meines Erachtens etwas anders. Hier dominiert die Furcht vor dem Abrutschen in materielle Armut oder vor dem sozialen Statusverlust. (…) Vor allem das Misstrauen mit Blick auf die Problemlösungskompetenz der Politik ist ausgeprägt“.[5]

Der Jenaer Soziologie-Professor Klaus Dörre prägt zur Erklärung dieser gemeinsamen Grundstimmung gern das Bild von der Warteschlange am Berg der Gerechtigkeit: „Bei denen, die zur radikalen Rechten neigen, finden wir Variationen einer immer gleichen Tiefengeschichte. Man selbst sieht sich in einer Warteschlange am Fuße des Berges der Gerechtigkeit. Ständig werden die Wartenden vertröstet, denn es gibt immer neue Gründe, die den Aufstieg verzögern. Dann kommen die Geflüchteten und ziehen an einem vorbei, ohne dafür etwas leisten zu müssen – so das Empfinden. Dabei geht es vielen nicht pauschal um die Ausländer allgemein, sondern um die, die kommen, weil es gerade einen Krieg gibt‘ oder die aus wirtschaftlicher Not ihr Land verlassen. ‚In unserem Dorf ist kein Arzt mehr, der Zug hält nicht mehr, der letzte Supermarkt schließt, aber die bekommen alles und wir schauen in die Röhre‘ – dieses Bild hat sich verfestigt“.[6] Dieses Gefühl ist infolge des erlebten Strukturbruchs in Ostdeutschland besonders ausgeprägt.

Gewachsene Neonazistrukturen

Doch der Blick auf die in Ostdeutschland besonders stark ausgeprägten sozialen Verwerfungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stärke der AfD in Ostdeutschland auch Ergebnis einer seit über drei Jahrzehnten gewachsenen Neonazi-Struktur ist. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer hatten die extreme Rechte Westdeutschlands den gezielten Aufbau rechter Strukturen in Ostdeutschland ins Visier genommen. So hatte der Neonazi-Führer Michael Kühnen bereits im Januar 1990 einen sogenannten „Generalplan Ost“ ausgearbeitet, in dem er detailliert darlegte, wie der Aufbau neonazistischer Gruppen auf dem Gebiet der untergehenden DDR angegangen werden sollte. Menschen, die schon einmal die Erfahrung gemacht hatten, dass ein politisches System stürzen könne, glaubten dies auch für das politische System der Bundesrepublik, so seine These.

Beim Aufbau griff er auf ostdeutsche Neonazis zurück, die vor dem Mauerfall im Gefängnis gesessen hatten und nach ihrem Freikauf durch den Westen noch immer über gute Kontakte in die ostdeutsche Neonaziszene verfügten. Im Kontext von politischem Umbruch und ökonomischem Strukturbruch bildete sich in den frühen 1990er Jahren eine gewalttätige neonazistische Jugendbewegung heraus. Diese Zeit wird in der Literatur auch oft als „Baseball-Schläger-Jahre“ bezeichnet. Eberswalde, Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen stehen stellvertretend für die mörderische Brutalität der Neonazis in jener Zeit. Sie machten erst in den politischen Umbrüchen der frühen Wendejahre und später unter der schützenden Hand des Verfassungsschutzes die Erfahrung, dass entgrenzte Gewalt gegenüber Migranten und politischen Gegnern kaum strafrechtliche oder gesellschaftliche Konsequenzen hatte. So schlug im November 1990 ein aufgepeitschter Mob aus 50 Neonazis in Eberswalde den Angolaner Amadeu Antonio so schwerverletzt zusammen, dass er seinen Verletzungen erlag. All dies geschah nicht nur unter den Augen der Polizei, sondern wurde für fünf der beteiligten Neonazis mit Bewährungsstrafen von nicht mehr als vier Jahren geahndet.[7] Auch in Rostock-Lichtenhagen kam es tagelang zu Ausschreitungen vor dem Wohnhaus vietnamesischer Gastarbeiter, ohne dass die Polizei einschritt. Dafür gab es Applaus von tausenden Anwesenden. Aus einem Humus sozialpolitischer Verwerfungen, sicherheitspolitischer Untätigkeit und neofaschistischen Interventionsplänen entwickelte im Verlaufe der 1990er Jahre neofaschistische Kernmilieus, die sich im Alltag zunehmend verankerten.

Versäumnisse der Landesregierung

Die aktuelle Stärke der AfD hat also eine materielle Basis, die in den ostdeutschen Bundesländern weit über politisches Unbehagen und gesellschaftliches Krisenempfinden hinausgeht. Mittlerweile sind „Jugendliche aus zwei Generationen mit den niedrigschwelligen stets verfügbaren neonazistischen Politikangeboten in ihrem Lebensumfeld in Kontakt gekommen, als Gegenentwurf zum auf dem Rückzug befindlichen demokratischen Wertesystem“, schrieb Beglich bereits vor zehn Jahren.[8] Das ist der Grund, warum die extreme Rechte in Sachsen so gut vernetzt ist. Hier ist ihre Mobilisierungsfähigkeit deutlich größer als in anderen Bundesländern, sagt Oliver Decker, Vorstandssprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig.[9] Aufgrund dieser Entwicklungen hatte es die AfD in den ostdeutschen Bundesländern leichter, sich während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ebenso wie während der Corona-Pandemie mit ihrer Kritik an der Bundesregierung zum politischen Sprachrohr der Menschen zu entwickeln, die mit den Maßnahmen nicht einverstanden waren. Hinzu kommt, dass die Neue Rechte das intellektuelle Zentrum ist, das den Unmut organisiert und zielgerichtet kanalisiert. Figuren wie Alexander Gauland, aber auch der Gründer des neu-rechten Instituts für Staatspolitik, Götz Kubitschek oder Jürgen Elsässer, Chefredakteur des rechten Monatsmagazins Compact, stehen für einen politischen Unternehmertypus, der allein zum Zwecke der Stimmenmaximierung Unzufriedenheit unter vernachlässigten Wählergruppen aufspürt und in die eigene Programmatik einbindet.[10] Der Aufstieg der AfD geschieht auch deshalb, weil er organisiert wird.

Hinzu kommt: Anders als in anderen Bundesländern hielt sich die sächsische Landesregierung stets zurück, wenn es darum ging, die extreme Rechte in die Schranken zu weisen. Nicht selten wurden Neonazi-Aufmärsche bagatellisiert, während linke Gegendemonstrationen problematisiert wurden. „Wer ‚Rechtsextremismus‘ sagte, bekam lange Zeit immer nur das Echo ‚Und was ist mit dem Linksextremismus?‘ zu hören, sagt Decker. Diese Einstellung vieler führender Politiker sei nicht die Ursache der starken rechtsradikalen Tendenzen in Sachsen, habe deren Ausbreitung aber befördert. „In Mecklenburg-Vorpommern etwa hat die AfD acht Prozentpunkte weniger als in Sachsen bekommen“, sagte Decker. „Ich bin überzeugt, dass es durchaus etwas bewirkt, wenn sich Landesregierung und etablierte Parteien klar gegenüber rechtsradikalen Gruppen positionieren“.[11]

Metamorphose der AfD

Der große Resonanzraum der AfD in Ostdeutschland hat die Machtkämpfe innerhalb der Partei befördert und sichtbar nach rechts positioniert. Neben Bernd Lucke und Olaf Henkel sind auch Frauke Petry und Jörg Meuten nicht mehr Mitglied der AfD. Der rechtsextreme Flügel um Björn Höcke dominiert inzwischen die Partei. Das hat nicht zuletzt die Listenaufstellung zur Europawahl gezeigt. Spitzenkandidat Maximilian Krah steht am äußeren rechten Rand der Partei. Auch für die anderen Kandidaten sind Migration und Islam die Hauptthemen. Selbst der Verfassungsschutz gibt zu, dass sich kaum gemäßigte Köpfe unter den Kandidaten zur Europawahl befinden, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete.[12]

Im Zuge dieser innerparteilichen Machtauseinandersetzungen ist vor allem die Bundestagsfraktion zum Sprachrohr für die extreme Rechte geworden. Die Themensetzung dient der Spaltung: Mal ist es ein Gesetzentwurf zur Aushebung des Volksverhetzungsparagraphen. Dann wieder sind es Anfragen zur Anzahl von Homosexuellen in Thüringen, von Sinti und Roma in Sachsen oder Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik. Oder sie stellen Anfragen nach zivilen Seenotrettern, Anträge auf die Abschiebung von Geflüchteten ins kriegszerrüttete Syrien oder fordern den Schutz der Bevölkerung vor „ausländischen Gefährdern“.[13] Noch unverhohlener geht es in rechten Chatgruppen zu, an denen namenhafte AfD-Funktionäre beteiligt waren. Hier zirkulieren volksverhetzende und neonazistische Kommentare. „So wurden Hakenkreuz-Bilder gepostet oder die im KZ Bergen Belsen ermordete Anne Frank verunglimpft und in einer Fotomontage auf einen Pizzakarton retuschiert, mit der Überschrift: ‚Die Ofenfrische‘. Zu Politikerinnen heißt es ‚Weg mit dem Dreck‘ und über Flüchtlinge ‚Alle vergasen‘. Die Partnerin eines dunkelhäutigen Mannes wird als ‚Negernutte‘ und ‚Verräterin der weißen Rasse‘ beleidigt. Andere teilen das Bild einer Ratte mit der Überschrift: ‚Ratten gibt es nicht nur in der Kanalisation. Sie sind mitten unter uns“, dokumentiert das antifaschistische Magazin der rechte rand.[14]

Kampf um die Straße

Inhaltlich steht die AfD für eine extrem neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft. Dennoch versucht sie den identifizierten Unmut vieler Menschen über die neoliberale Zurichtung der Gesellschaft aufzugreifen und nach rechts umzulenken. Um die wirklichen sozialpolitischen Positionierungen der Partei zu verschleiern, nutzt sie autoritäre, antidemokratische, rassistische und sexistische Deutungsmuster. Mit diesem „strategy blurring“ folgt die AfD anderen rechten Parteien Europas. Obgleich sich die Politikwissenschaft einig darin ist, dass eine klare Positionierung vom Wähler honoriert wird, sind rechtspopulistische Parteien vor allem in Westeuropa mit dieser Strategie erfolgreich. Unklare Positionierungen und Rassismus dienen dazu, die wahren neoliberalen Positionen zu verschleiern und die widersprüchlichen Interessen der Wähler auszubalancieren. Dadurch gelingt es der AfD, das selbständige Bürgertum, das hohen Steuern und Abgaben kritisch gegenübersteht, ebenso zu ködern wie Teile der vom Strukturwandel betroffenen Arbeiter, die auf einen starken Sozialstaat angewiesen sind. Nicht zufällig hat die AfD 2016 in einem Strategiepapier ökonomische Fragen als möglichen Spaltpilz identifiziert: „Bei für die AfD bislang für Wahlerfolge nicht erforderlichen Themen (das gilt insbesondere für die Wirtschafts- und Sozialpolitik) muss sehr sorgfältig darauf geachtet werden, dass sich die Anhängerschaft der AfD nicht auseinanderdividiert“.[15]

Bei dieser Strategie hilft der Partei eine verstärkte Konzentration auf Straßenmobilisierungen. Bereits 2015 begann die AfD im Windschatten der PEGIDA-Mobilisierungen in Thüringen mit Aufmärschen gegen die rot-rot-grüne Landesregierung. Diese Aufmärsche fanden regelmäßig unter Beteiligung der extremen Rechten statt. Höcke, der diese in Erfurt organisierte, heizte die Stimmung an. Das hatte mehrfach dazu geführt, dass nach den Kundgebungen Neonazis und Hooligans Gruppen von Gegendemonstrationen brutal angriffen. Ähnliches geschah im brandenburgischen Cottbus, wo der AfD-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Andreas Kalbitz, auftrat. Auch in Rostock veranstaltete die AfD monatliche Aufmärsche, die sich zur Sammlungsbewegung der extremen Rechten entwickelten. Sie verhalfen der Bewegung zu mehr Sichtbarkeit und beförderten eine Radikalisierung der Demonstrationsteilnehmer, was sich daran zeigten, dass auf den Kundgebungen „Merkel hängen“-Rufe ertönten und mehr als einmal Journalisten bedroht wurden. Zum Fanal schließlich wurde im August 2018 der Marsch in Chemnitz, bei dem es zum offenen Schulterschluss der AfD mit der gewaltbereiten Neonazi-Szene kam.

Nationalrevolutionäre Großmachtphantasien

Aktuell erleben wir, dass sich die Zahl der aus der rechten Szene organisierten politischen Versammlungen im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht hat. Im ersten Halbjahr 2022 wurden bundesweit noch 35 Nazi-Aufmärsche verzeichnet. Im gleichen Zeitraum dieses Jahres waren es bereits 110 derartige Veranstaltungen.[16] Wie hoch das rechte Mobilisierungspotential vor allem im Osten Deutschlands ist, zeigen diese Zahlen: An einem einzigen Tag wurde in Sachsen-Anhalt zu 19 Protesten aufgerufen, in Thüringen waren es insgesamt 61, in Sachsen 115.[17] Die Rechtsextremismus-Forscherin Beate Küpper sieht in dem starken Fokus der AfD auf Straßenproteste „klassische Raumergreifungsstrategien“. Sie erzeugen Aufmerksamkeit und signalisieren: „Wir sind diejenigen, die die Straße besetzen und auch Angst und Schrecken verbreiten“.[18] Im Zuge dieser Strategie wurde der Aufmarsch in Chemnitz zu einem Schlüsselmoment. Die gesamte extreme Rechte hatte im August 2018 bundesweit nach Chemnitz mobilisiert. Tagelang war die Stadt im Ausnahmezustand. Es kam zu massiven Ausschreitungen und Angriffen auf Polizisten, Journalisten und Gegendemonstranten. Der Marsch war nicht nur ein wichtiges Ereignis für eine weitere Radikalisierung der rechten Szene und rechtsterroristische Mobilisierungen. Der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quant hält ihn zudem für den „Beginn des nationalen Aufbruchs“.[19] So erschießt ein Dreivierteljahr danach Stephan Ernst den CDU-Politiker Walter Lübcke, weil er sich für die Unterbringung von Geflüchteten eingesetzt hatte. Ernst war in Chemnitz dabei und fühlte sich in seinem Handlungsdrang bestärkt. Auch die Gruppe „Revolution Chemnitz“, die sich nur wenige Tage nach dem Aufmarsch gründete, und das Auffliegen von Plänen für einen rechten Terroranschlag zeigen, Chemnitz war ein Schlüsselmoment für eine weitere Radikalisierung der rechten Szene. Spätestens seit dem Bericht der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber wissen wir: Nicht wenige in der AfD haben nationalrevolutionäre Großmachtphantasien und träumen vom sogenannten „Tag X“: „Nationalsozialismus-Romantiker wie Maier, Tillschneider, Höcke und Poggenburg verstehen die AfD als revolutionäre Kraft. Sie streben einen nationalen Sozialismus mit mehr Staat und starker Führungsperson an, einen Umsturz, eine Beseitigung des bestehenden Systems. Daran formulieren sie so knapp wie möglich vorbei, denn noch darf man das nicht aussprechen“.[20] Die AfD wähnt sich also selbst als nationale Avantgarde einer neofaschistischen Bewegung. Der Schulterschluss mit Anhängern der rechten Szene ist da nur folgerichtig.[21] Björn Höcke schreibt offen, dass er in der Wut der Bevölkerung ebenso wie in den frustrierten Teilen des Sicherheitsapparates die Stützen seiner nationalen Revolution sieht. In seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ fordert er eine Säuberung Deutschlands von „kulturfremden“ Menschen, die nur mit Gewalt durchzusetzen sei. Nach dem Machtantritt der AfD müsse „eine neue politische Führung (…) schwere moralische Spannungen aushalten“, denn sie müsse „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen“. Höcke stellt weiter fest, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen. „Wenn wir Höcke also an seiner Sprache messen“, schreibt der Politikwissenschaftler Hajo Funke, „so geht es ihm um eine nicht nur ethnische, sondern auch politische ‚Säuberung‘ und um das Einsetzen staatlicher Gewalt gegen beliebig definierte Feinde. Er suggeriert mit dieser Sprache auch einen künftigen Kampf zwischen denen, die anders denken und seinen Anhängern, er will offensichtlich den Bürgerkrieg (…). Es ist eine Strategie der Entfesselung und der Aufschaukelung von Ressentiments und Gewalt“.[22]


[1] Eco, Umberto, 2020, Der ewige Faschismus, Hanser, 33.

[2] Schulze, Lea: „Unzufriedenheit der Deutschen wächst“, Tagesspiegel, 23.09.2022, https://www.tagesspiegel.de/unzufriedenheit-der-deutschen-wachst-hohe-politikverdrossenheit-vor-allem-im-osten-8678140.html

[3] Volkert, Lilith/ Datei, Baran: „Fünf Gründe, warum die AfD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist“, Süddeutsche Zeitung, 25.09.2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-fuenf-gruende-warum-die-afd-in-sachsen-staerkste-kraft-geworden-ist-1.3682500

[4] Sonntagsfrage Landtagswahl: AfD mit 19 Prozent im Allzeithoch, BW-Trend, SWR, 20.07.2023, https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bw-trend/umfrage-sonntagsfrage-landtagswahl-2023-juli-politikerzufriedenheit-fluechtlinge-100.html

[5] Urban, Hans-Jürgen: Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft, Campus, 2023, 12/13.

[6] Dörre, Klaus: „Arbeiter ist heute ein abgewerteter Status“, Magazin der Arbeitnehmerkammer Bremen, 20.12.2021, https://www.arbeitnehmerkammer.de/service/bam/ausgaben/ausgabe-januarfebruar/dem-arbeiter-haftet-heute-ein-abgewerteter-status-an.html

[7] „Erschlagen vom Nazi-Mob, während die Polizei zusah“, Amadeu-Antonio-Stiftung, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/amadeu-antonio/erschlagen-vom-nazi-mob-waehrend-die-polizei-zusah/

[8] Begrich, David: „Die Quellen des Hasses, Blätter für deutsche und internationale Politik“, 01/ 2012, https://www.blaetter.de/ausgabe/2012/januar/die-quellen-des-hasses

[9] Volkert, Lilith/ Datei, Baran: „Fünf Gründe, warum die AfD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist“, Süddeutsche Zeitung, 25.09.2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-fuenf-gruende-warum-die-afd-in-sachsen-staerkste-kraft-geworden-ist-1.3682500

[10] Vgl. Urban, Hans-Jürgen: Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft, Campus, 2023, 17/ 18.

[11] Volkert, Lilith/ Datei, Baran: „Fünf Gründe, warum die AfD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist“, Süddeutsche Zeitung, 25.09.2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-fuenf-gruende-warum-die-afd-in-sachsen-staerkste-kraft-geworden-ist-1.3682500

[12] Osel, Johann/ Preuß, Roland: „Ganz weit außen“, Süddeutsche Zeitung, 31.07.2023, https://www.sueddeutsche.de/politik/europawahl-2025-afd-spitzenkandidaten-krah-verfassungsschutz-1.6083761

[13] Frerks, Sören: „Radikalisieren Hoch Drei“, der rechte rand, Ausgabe 174, 10/ 2018, https://www.der-rechte-rand.de/archive/3867/radikalisierung-afd/

[14] Frerks, Sören: „Radikalisieren Hoch Drei“, der rechte rand, Ausgabe 174, 10/ 2018, https://www.der-rechte-rand.de/archive/3867/radikalisierung-afd/

[15] Zitiert nach: Diermeier, Matthias: „Rechts und gegen Umverteilung“, ZEIT-ONLINE, 27.02.2020, https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-02/afd-wirtschaftspolitik-volkspartei-sozialstaat-umverteilung-rentenkonzept

[16] Monroy, Matthias: „Bundesweit wieder deutlich mehr rechtsextreme Aufmärsche“, nd, 16.08.2023, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175562.schwerpunkt-in-sachsen-bundesweit-wieder-deutlich-mehr-rechtsextreme-aufmaersche.html

[17] Maus, Andreas/ Regis, Julia: „Chemnitz: Der lange Marsch der Rechtsextremen“, Monitor, 31.08.2023, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/chemnitz-rechtsextremismus-100.html

[18] Maus, Andreas/ Regis, Julia: „Chemnitz: Der lange Marsch der Rechtsextremen“, Monitor, 31.08.2023, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/chemnitz-rechtsextremismus-100.html

[19] Maus, Andreas/ Regis, Julia: „Chemnitz: Der lange Marsch der Rechtsextremen“, Monitor, 31.08.2023, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/chemnitz-rechtsextremismus-100.html

[20] Schreiber, Franziska: Inside AfD. Der Bericht einer Aussteigerin, EuropaVerlag, 2018, 181.

[21] Frerks, Sören: „Radikalisieren Hoch Drei“, der rechte rand, Ausgabe 174, 10/ 2018, https://www.der-rechte-rand.de/archive/3867/radikalisierung-afd/

[22] Funke, Hajo: „Höcke will den Bürgerkrieg“, ZEIT-ONLINE, 24.10.2019, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-10/rechtsextremismus-bjoern-hoecke-afd-fluegel-rechte-gewalt-faschismus

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