Pünktlich zum Weltflüchtlingstag haben 180 Organisationen, darunter Medico, Flüchtlingsräte und Seenotrettungsorganisationen, gemeinsam mit Tima Kurdi, der Tante von Alan Kurdi, einen Brief veröffentlicht, der die lückenlose Aufklärung der Schiffskatastrophe auf dem Mittelmeer fordert.
Wir dokumentieren diesen Brief:
Heute, am Weltgeflüchtetentag, fordern wir gemeinsam eine vollständige und unabhängige Untersuchung der Ereignisse, klare Konsequenzen für die Verantwortlichen, ein Ende der systematischen Pushback-Praktiken an den europäischen Grenzen und Gerechtigkeit für die Opfer.
10 Jahre nach den beiden Schiffbrüchen vor Lampedusa, Italien, bei denen rund 600 Menschen ums Leben kamen und die einen riesigen öffentlichen Aufschrei auslösten, sind vor Pylos, Griechenland, bis zu 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Am 14. Juni 2023 tötete das europäische Grenzregime erneut Menschen, die von ihrem Recht auf Schutz Gebrauch machten. Wir sind erschüttert! Und wir stehen in Solidarität mit allen Überlebenden und mit den Familien und Freund:innen der Verstorbenen. Wir drücken unser tiefes Beileid und unsere Trauer aus.
Bis heute bleiben unzählige Fragen unbeantwortet. Nach Aussagen der Überlebenden schleppte die griechische Küstenwache das Boot ab und brachte es zum Kentern. Warum wurde dieses gefährliche Manöver überhaupt versucht? Hat die griechische Küstenwache das Boot in Richtung Italien geschleppt, um die Menschen in die italienische oder maltesische Verantwortung abzuschieben? Warum haben weder die griechische Küstenwache noch die italienischen oder maltesischen Behörden früher eingegriffen, obwohl sie mindestens 12 Stunden zuvor alarmiert worden waren? Welche Rolle hat die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex gespielt?
In all dieser Ungewissheit ist eines unübersehbar: Dieser Schiffbruch – wie auch unzählige andere zuvor – ist die unmittelbare Folge politischer Entscheidungen, die Menschen daran hindern sollen, in Europa anzukommen. Dieser Schiffbruch ist die Folge der Straflosigkeit illegaler von Staaten begangenen Aktivitäten an den Außengrenzen und der Legalisierung von Praktiken, die darauf abzielen, die Entrechtung von Menschen auf der Flucht zu normalisieren. Aktivist:innen und Organisationen prangern systematische Push- und Pullbacks, Verzögerungen und Unterlassungen von Rettungen, die Kriminalisierung von zivilen Such- und Rettungeinsätzen und die Zusammenarbeit mit nicht-sicheren Ländern zur Externalisierung europäischer Grenzen und zur Durchführung von Abschiebungen an. Die europäische Migrations- und Abschottungspolitik verursacht physische und psychische Gewalt, Inhaftierung und Tod. Hört auf, euch aus der Verantwortung zu stehlen – hört auf, Menschen auf der Flucht umzubringen!
Bislang haben die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten keinerlei Absicht gezeigt, aus den vergangenen Jahren zu lernen und das Sterbenlassen im Mittelmeer zu beenden. Stattdessen verschärfen sie ihre tödliche Politik der Abschottung. Erst letzte Woche, am 8. Juni, einigte sich der Rat der Europäischen Union auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), was zu einer massiven Beraubung von Grundrechten wie dem Recht auf Asyl oder dem Recht, sich frei zu bewegen, führen wird.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Schiffbruch passiert, und es wird wieder passieren, während sich die Bedingungen in den Herkunfts-, Transit- und Ausreiseländern verschlechtern und Grenzpraktiken Menschen dazu zwingen, immer gefährlichere Routen zu wählen. Seit Lampedusa im Jahr 2013 haben wir mindestens 27.047 Tote im Mittelmeer zu beklagen. Einer von ihnen war Alan Kurdi. Seine Tante, Tima Kurdi, äußert sich lautstark zu dem tödlichen Schiffbruch:
„Dieser Schiffbruch bringt meinen Schmerz zurück, unseren Schmerz. Mein Herz ist gebrochen. Ich bin untröstlich über all die unschuldigen Seelen, die wir verloren haben und die nicht nur eine Zahl auf dieser Welt sind. „Nie wieder“ haben wir 2015 gehört, ich habe es unzählige Male gehört. Und was hat sich geändert? Wie viele unschuldige Seelen sind seither auf See verloren gegangen? Ich möchte euch an den 2. September 2015 zurückerinnern, als ihr alle das Bild meines Neffen, des 2-jährigen Babys, am türkischen Strand gesehen habt. Was habt ihr gefühlt, als ihr das Bild gesehen habt? Was habt ihr gesagt, was habt ihr gemacht? Ich, als ich hörte, dass mein Neffe ertrunken ist, bin auf den Boden gefallen und habe so laut geschrien, wie ich konnte, weil ich wollte, dass die Welt mich hört! Warum sie? Warum jetzt? Und wer sind die Nächsten? Seitdem habe ich beschlossen, meine Stimme zu erheben und mich für alle einzusetzen, die nicht gehört werden. Vor allem für meinen Neffen, den Jungen am Strand, Alan Kurdi, dessen Stimme nie wieder gehört werden wird. Bitte schweigt nicht und schließt euch meiner Stimme an. Wir können die Augen nicht verschließen und den Menschen, die Schutz suchen, den Rücken zukehren. Öffnet euer Herz und nehmt die Menschen auf, die bis vor eure Haustür fliehen.
Die europäische Migrationspolitik muss sich jetzt ändern. Sie hätte sich schon vor langer Zeit ändern müssen. Sie muss sichere Wege zur Flucht bieten. Der Bau einer Mauer ist keine Lösung. Das Festhalten von Rettungsschiffen ist keine Lösung. Menschen als Schmuggler zu beschuldigen, ist keine Lösung. Leidende Menschen werden immer einen Weg finden zu fliehen. Sie haben die Macht zu entscheiden, ob sie gefährliche Routen nehmen müssen, weil es keinen anderen Weg gibt. Handeln Sie danach!“
Der unverzeihliche Schiffbruch vor Griechenland zeigt uns, dass das Mittelmeer nicht nur ein Friedhof, sondern ein Tatort ist. Ein Schauplatz von Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Millionen von privilegierten Tourist:innen, die das Meer weiterhin jedes Jahr ungehindert bereisen. Aus diesem Grund fordern wir ein sofortiges Ende der (systemischen) Grenzgewalt. Wir fordern:
1. dass sowohl die griechische als auch europäische Regierungen und Institutionen sicherstellen, dass lückenlose, gründliche und unabhängige Untersuchungen zu den Ereignissen durchgeführt werden. Es ist an der Zeit, dass vollständige Transparenz über die Geschehnisse herrscht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies gilt sowohl für Beamt:innen, die durch ihre Entscheidungen direkt an den Ereignissen beteiligt waren, als auch für politische Entscheidungsträger:innen, die die feindseligen Praktiken an den Außengrenzen jahrelang ermöglicht und aufrechterhalten haben. Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Angehörigen muss sichergestellt werden.
2. dass die griechische Regierung die Überlebenden des Schiffbruchs von Pylos unverzüglich aus den (halb-)geschlossenen Einrichtungen entlässt und ihnen stattdessen eine menschenwürdige Unterbringung und jede Art von Unterstützung gewährt, die sie benötigen – z.B. unabhängige Rechtsberatung, psychologische Unterstützung und die Möglichkeit, mit Familie und Freund:innen zu kommunizieren. Außerdem stehen wir für die Freilassung der 9 verhafteten Männer ein. Wir verurteilen die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, die für illegalisierte Einreisen und Todesfälle auf See verantwortlich gemacht werden. Diese Anschuldigungen dienen dazu, die verantwortlichen staatlichen Akteur:innen zu entlasten.
3. alle europäischen Außengrenzstaaten auf, das Verzögern von Rettungen nicht als Waffe einzusetzen. Darüber hinaus fordern wir unabhängige Untersuchungen und konsequente Maßnahmen der Europäischen Kommission gegen die systematische Pushback-Praxis und unterlassene Hilfeleistung auf See und an Land durch europäische Mitgliedsstaaten – wie sie in den letzten Jahren von Organisationen und Aktivist:innen umfassend aufgezeigt wurde.
4. die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten auf, sichere und legale Fluchtrouten nach Europa zu schaffen, da dies die einzige Lösung ist, um weitere Tote auf See zu verhindern. Die GEAS-Reform, die das Recht auf Asyl in der Europäischen Union weiter aushöhlt, darf nicht Gesetz werden. Außerdem fordern wir die Schaffung eines längst überfälligen staatlichen europäischen Seenotrettungsprogramms.