Eher Bourdieu als Marx – Ein Mann seiner Klasse

Christian Barons autobiographischer Debütroman über seine Kindheit und Jugend in einer Pfälzer Arbeiterfamilie.

Christian Baron, Journalist und Redakteur der Wochenzeitung Der Freitag, schildert in seinem ersten Roman seine eigene Kindheit und Jugend in einer Arbeiterfamilie im pfälzischen Kaiserslautern der 1990er- und Nullerjahre. Er gewährt Einblicke in das Leben der „da unten“. Bemerkenswert ist dabei, dass der Autor die beiden potentiellen „Männer ihrer Klasse“nicht ikonisiert: weder seinen Vater, den alkoholkranken Möbelpacker, der Frau und Kinder verprügelt, noch sich selber, das Arbeiterkind.

Ohnehin dreht sich die autobiographische Erzählung gar nicht nur um die Männer, sondern  – wenig überraschend – auch um die Frauen ihrer Klasse. Um Barons Mutter zum Beispiel. Sie verliert ihr erstes Kind im Alter von 16, gebiert das zweite mit 17. Parallel verlässt sie nach der neunten Klasse die Schule, weil Lehrer sie wegen ihrer sozialen Herkunft runtermachen, anstatt sie zu fördern. Sie wird depressiv. Trotzdem ist sie für Christian intellektueller und emotionaler Rückhalt in einer von ihr durchaus mitzuverantwortenden Umwelt, in der die Unberechenbarkeit und rohe Gewalt des patriarchalen Vaters den Ton angeben, ohne dass es zur Trennung der Eltern kommt. Als die Mutter im Alter von 32 einer Krebserkrankung erliegt, nimmt deren Schwester „Tante Juli“, eine zweite Frau ihrer Klasse, kurzerhand zusätzlich zum eigenen Sprössling die vier Kinder der Verstorbenen bei sich auf. Sie entfernt deren Vater aus dem gemeinsamen Leben und schlägt sich mit dem Familiengericht und sozial-chauvinistischen Staatsdienern des Jugendamts herum, die auf den „Sozialhilfe-Adel“ herabsehen. Sie kämpft auch für eine höhere Bildungslaufbahn ihres Neffen, den trotz Empfehlung kein Gymnasium aufnehmen will.

Dem Autor gelingt es weitgehend, seine Charaktere weder zu idealisieren, noch zu viktimisieren. Wenn Baron beiläufig einfließen lässt, dass sein prügelnder Vater in seiner eigenen Kindheit ebenfalls mit väterlicher Physis erzogen worden ist und „kaum eine Wahl hatte“, dient das nicht als Entschuldigung für seine Taten, sondern als Ausgangspunkt einer triftigen Erklärung. Der Prolet hat aufgrund seiner Ausbeutung und seiner Stellung im Gesellschaftsbau einen Haufen Probleme und Limitationen, die andere nicht haben: Armut, Hunger, null Mobilität, aber auch das dauerhafte Gefühl, wertlos zu sein und nicht einmal im Ansatz das eigene Leben in der Hand zu haben.

Nicht auffangende Gesellschaft

Dass aber eine „nicht auffangende Gesellschaft“ wirklich „alles“ erläutert, wie es in einer eindrücklichen Passage heißt, stimmt jedoch nicht. Damit soll keineswegs Sozialkritik im Geiste gegen neoliberale Selbstverantwortungsideologie relativiert werden. Aber auch ein Arbeiter muss nicht wie Barons Vater saufen oder Frau und Kinder verdreschen, um seine Kränkungen zu kompensieren. Er muss sich nicht über „Ausländerkriminalität“ echauffieren, die Kneipe den Kindern vorziehen oder sich wie das lebende Feindbildstereotyp des liberalen Feminismus aufführen. Soweit das Buch den Einblick gewährt, bestätigen Barons eigener sozialer Aufstieg, das Handeln seiner Mutter oder Tante auch den Befund, dass soziale Klassenstruktur und individuelles Handeln nicht unmittelbar identisch sind.

Eine Stärke, möglicherweise die politische Botschaft des Buchs, das an Arbeiten von Didier Eribon und Édourd Louis erinnert, besteht darin, dass die Opfer des Kapitals keine Heiligen sind und dennoch Solidarität verdienen. Baron unterminiert mit seinen Erinnerungen auch die eine oder andere Projektion des Liberalismus, ohne über die Maßen zu politisieren. Zum Beispiel bilanziert er einen sehr kurzen Abschnitt zu den politischen Haltungen seiner Verwandten mit der Feststellung, dass „Klassenkampf und Umweltschutz in meiner Familie problemlos zusammen“ gingen.

Was Barons Reflexionen aus dem beschädigten Leben in der Arbeiterklasse der Bundesrepublik allerdings vermissen lassen, ist der Blick in die Arbeitswelt und auf die Beziehung zum Kapital. Also das maßgeblich Verbindende der „Klasse“. Ja, man erfährt, dass Barons Vater zwischenzeitlich gefeuert wird, weil er beim Job Sachen für den Eigen- und Familienbedarf mitgehen lässt, die Lohnarbeit ihn fertigmacht und dass der Sohn seinen Vater einmal begleitet. Aber das war’s. Damit korrespondiert die literarische Form des Buchs. Der persönliche Erfahrungsbericht, ein scheinbar schonungsloses Zeugnis, transzendiert kaum den Rand des Egos und der Familie, auch wenn durch das Partikulare immer wieder Momente des Allgemeinen hindurchscheinen.

Daher liest sich das Buch auch streckenweise wie Bourdieu ohne Marx: gesellschafts-, milieu- und identitätspolitisch. Das ist gewiss nicht nichts. Aber es ist weniger als das Ganze und möglicherweise ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Etwas mehr von Upton Sinclairs Dschungel hätte die Geschichte vergesellschaften können. Nichtsdestotrotz vermittelt Baron einen Eindruck davon, was es heißt, ein Leben im Proletariat zu fristen, eine Erfahrung, welche eine Mehrheit der Bevölkerung macht, aber weiten Teilen der politischen Linken heute abgeht.

Das Buch kann hier bestellt werden.

Christian Stache ist promovierter Sozial- und Wirtschaftshistoriker und lebt in Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismustheorie, Ökologie und Mensch-Tier-Beziehungen. Sein Buch „Kapitalismus und Naturzerstörung“ kann hier gratis heruntergeladen werden.


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