Von Jörg Tiedjen

Die Lösung heißt Unabhängigkeit

In fast drei Jahrzehnten des Waffenstillstands zwischen der sahrauischen Befreiungsfront Frente Polisario und dem Königreich Marokko war der Westsahara-Konflikt weit in den Hintergrund getreten. Nur selten erlangte er Aufmerksamkeit in den Medien. Das änderte sich, als marokkanisches Militär am 13. November 2020 im Süden der Westsahara eine von Demonstranten errichtete Straßensperre räumte und die Polisario daraufhin die Kampfhandlungen wiederaufnahm.

Ein Konferenzband bietet eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme zum Westsahara-Konflikt.

Angeheizt durch Erklärungen des kurz vor dem Ende seiner Amtszeit stehenden US-Präsidenten Donald Trump, der einseitig Partei für Marokko ergriff, aber das Königreich im gleichen Atemzug verpflichtete, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren, ging es weiter auf Konfrontationskurs. Marokko versuchte, Spanien und Deutschland zu erpressen, inszenierte in der spanischen Enklave Ceuta ein Flüchtlingsdrama, schwieg sich über den Krieg in der Westsahara aus, brachte aber neuartiges Kriegsgerät wie Drohnen zum Einsatz, wie es überhaupt Waffen um Waffen ordert. Es kam heraus, dass Marokko in großem Stil Politiker und Journalisten auch in Ländern wie Frankreich abhörte. Schließlich geriet selbst ein Krieg zwischen Marokko und Algerien in den Bereich des Möglichen, was wenige Monate zuvor noch undenkbar gewesen wäre.

Versagen der UNO

Das zeigt, wie wichtig es ist, sich auch in Deutschland mit dem Thema zu beschäftigen, dem nun der Band „Westsahara. Afrikas letzte Kolonie“ entgegenkommt. Die einzelnen Beiträge sind eine Bestandsaufnahme des Status quo, klären auf über die historischen und rechtlichen Hintergründe, den Verlauf bisheriger Verhandlungen, die Lage der Flüchtlinge und die Entwicklung in den besetzten Gebieten, in denen die Sahrauis eine Welle der Repression erleiden. „Angesichts der Situation in der Westsahara bleibt weiterhin die Frage bestehen, ob es in der internationalen Gemeinschaft noch den kollektiven Willen und die Fähigkeit gibt, so grundlegende Herausforderungen für die Nachkriegsordnung wie die anhaltende Besetzung und Kolonisierung der Westsahara durch Marokko anzugehen und zu korrigieren“, resümiert Jacob Mundy in seinem Beitrag. Allerdings könnte man überlegen, ob nicht in den drei Jahrzehnten seit Beginn des nun gescheiterten Waffenstillstands eine Rückkehr kolonialer Unternehmungen zu verzeichnen ist – verschärft noch einmal durch den Versuch in den entwickelten Ländern, die Industrieproduktion umzustellen, was einen neuen Wettlauf um Rohstoffe auslöst: Die „Nachkriegsordnung“, wenn es sie jemals gegeben hat, ist zu einer Vorkriegsunordnung geworden.

Es ist kein Wunder, dass die UNO den Konflikt nicht lösen konnte. Denn die marokkanische Monarchie durfte von Anfang an auf die Komplizenschaft nicht zuletzt ihres alten Verbündeten Frankreich zählen, der im Weltsicherheitsrat über ein Veto verfügt und auf Seiten Mauretaniens und Marokkos in der Westsahara militärisch intervenierte. Wie Sidi Omar, der Vertreter der Polisario bei der UNO, hervorhebt, war die Westsahara-Besatzung ein nationalistischer Coup, der es dem seinerzeit um sein Überleben ringenden König Hassan II. ermöglichte, sich als Helden darzustellen. Zugleich verschaffte er seiner Dynastie Pfründe, aus denen bis heute in die eigenen Taschen gewirtschaftet wird. Auch das spanische Königshaus war von Anfang an daran beteiligt. De jure bleibt Spanien zudem bis heute verantwortlich für seine „frühere“ Kolonie. Die USA, die BRD, Israel und die Golfstaaten unterstützen ebenfalls das marokkanische Kolonialunternehmen von Anbeginn. Hier lässt sich unschwer eine reaktionäre Allianz erkennen, die weit über die Region hinaus skrupellos ihre Ziele verfolgt.

Trumps giftiger Nachlass

Das Buch verdankt sich einer Konferenz, die der Verein „Freiheit für die Westsahara“ im April 2021 per Videoschaltung veranstaltete. Die Solidaritätsarbeit hat heute mit neuen Schwierigkeiten zu rechnen. Im Anhang findet sich die Stellungnahme, die eine der Westsahara gewidmete „Intergroup“ im Bundestag nach der berüchtigten Erklärung Donald Trumps über die Westsahara an die Bundesregierung richtete. In ihr wird die Anerkennung der Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko durch den US-Präsidenten scharf gerügt. Doch daneben steht der Satz, dass sich die Autoren des Appells „über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Marokko und Israel freuen“. Möglicherweise kann man aus Gründen der Diplomatie nichts anderes schreiben. Dennoch zeigt sich an dieser widersprüchlichen Haltung, sobald Israel ins Spiel kommt, das Perfide des Trumpschen Kuhhandels „Anerkennung der Westsahara-Besatzung“ gegen „Anerkennung Israels“, bei dem man sofort „Okkupation gegen Okkupation“ assoziiert, was man aber anscheinend nicht aussprechen darf, ohne womöglich in den Geruch des Antisemitismus zu geraten.

Wie es um den Krieg in der Westsahara steht, der doch zusammen mit den Trump-Tweets Anlass für die Konferenz war, wird nur am Rande angesprochen. Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine weitere Irritation für die Solidaritätsarbeit. Als zum Beispiel 2019 die sahrauische Menschenrechtskämpferin Aminatou Haidar mit dem Right-Livelihood-Award geehrt wurde, besser bekannt als „Alternativer Nobelpreis“, wurde gerade ihr „unerschütterlicher gewaltloser Widerstand“ gegen die marokkanische Besatzung hervorgehoben, der ihr auch „den Beinamen ‚Gandhi der Westsahara‘“ eingebracht habe, wie es zur Preisverleihung hieß. Vor diesem Hintergrund stellte die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen durch die Frente Polisario ein Problem dar. Sie stört das Bild vom pazifistischen Ringen um die Unabhängigkeit, und man konnte gerade in den letzten Wochen sehen, wie durch Kommentare und Berichte etwa im Spiegel oder im Deutschlandfunk marokkanischer Propaganda Tür und Tor geöffnet wird, dass es sich bei der Polisario, nicht dem Königreich selbst um einen „Unruhefaktor“ in der Region handele, der ihre „Stabilität“ bedrohe.

Monarchie am Abgrund

In den Medien wird hartnäckig die Ansicht vom „starken Marokko“ und dem „schwachen Algerien“ verbreitet. Das eine Land strotze vor wirtschaftlicher Dynamik, das andere sei innerlich zerrüttet und gegenwärtig außenpolitisch handlungsunfähig, woraus sich eine schlechte Konstellation für die Sahrauis ergebe. Eine realistische Einschätzung wäre hier wünschenswert. Ein Beitrag beschreibt zwar die „politische Lage“ in Marokko, aber lediglich, dass es sich um ein absolutistisches System mit demokratischer Fassade handelt, das Werner Ruf in einem anderen Artikel zutiefst korrupt nennt. Hier wäre hinzuzufügen, dass sich die Monarchie nicht zuletzt wegen des Trump-Deals wiederum in einer „Legitimitationskrise“ befindet, wie Polisario-Botschafter Sidi Omar es nennt. Denn viele Marokkaner sind ganz und gar nicht einverstanden mit der Annäherung an Israel. Auch steht das Land aufgrund der wirtschaftlichen Situation vor der sozialen Implosion. So könnte die Strategie der Befreiungsfront durchaus erfolgreich sein, das Königreich durch militärische Nadelstiche zu zermürben. Allein seine Waffenkäufe treiben es in den Ruin, ganz ähnlich, wie es gegen Ende der 1980er Jahre schon einmal der Fall war.

Marokko kann den Konflikt nicht militärisch entscheiden. Anders als die Frente Polisario, hat es hier keine Option, auch wenn es letztlich bereit wäre, einen Krieg mit Algerien zu riskieren. Also wird es auf Verhandlungen ankommen. Das Buch ist allein deswegen eine lohnende Lektüre, weil es Details beleuchtet wie die gerade auch in UN-Dokumenten immer wiederkehrenden Beteuerungen, dass es gelte, eine „einvernehmliche Lösung“ zu finden. Das ist illusorisch, ja gefährlich, denn solche Aussagen kommen allein den Besatzern entgegen. Die Sahrauis haben aber ein verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung. Sidi Omar nennt ein Referendum den einzigen Kompromiss, auf den man sich einigen könne. Welchen Grund sollten die Sahrauis haben, einem autokratischen Staatsgebilde beizutreten, in dem der Monarch alles, der Untertan aber nichts zählt? Man könnte in Zweifel ziehen, ob die Marokkaner jemals in der Unabhängigkeit angekommen sind. So stellt sich am Ende die Frage nach der Demokratie in Marokko in einem Atemzug mit der nach der Unabhängigkeit der Westsahara. Oder, wie es Sidi Omar formuliert: Die Westsahara ist „eng mit dem Überleben der Monarchie selbst verbunden“.

Judit Tavakoli, Manfred O. Hinz, Werner Ruf und Leonie Geiser (Hg.): Westsahara. Afrikas letzte Kolonie. Verlag Regiospectra, Berlin 2021, 373 S.

Das Buch könnt ihr hier beim Verlag Regiospectra erhalten.

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