© Jörg Tiedjen

„Für unsere Unabhängigkeit werden wir alles geben“

Die Bevölkerung der Westsahara lebt heute weitgehend im Exil, in der Diaspora oder unter der Tyrannei der marokkanischen Besatzung. Auch für sie ist Krieg gegenwärtig das überragende Thema. Dem verlieh ein kleines Theaterstück Ausdruck, das zu Beginn des IX. Kongresses der Nationalunion der Sahrauischen Frauen (UNMS) der Befreiungsbewegung Frente Polisario im Flüchtlingslager Auserd aufgeführt wurde. Es stellt ein Gespräch nach, wie es bis vor Kurzem vielleicht noch typisch war. In ihm geht es darum, welche Bauweise der einfachen Häuser, die von den Sahrauis in der Wüste beim algerischen Tindouf errichtet wurden, die bessere sei. Lehm wirkt ausgleichend auf die Temperatur, hält aber den gelegentlich auch in der Sahara vorkommenden Sturzfluten schlecht stand. Aus Zement gebaute Häuser wiederum bieten kaum Schutz vor den extremen Temperaturschwankungen. Doch eine der beiden Gesprächspartnerinnen hat genug von der Frage, wie man es in der prekären Situation in den Lagern am besten aushält. Sie möchte nur noch weg ins Ausland. Da tritt plötzlich ein Soldat auf und überbringt ihr die Nachricht, dass wieder Krieg herrscht und ihr Sohn gefallen sei.

Unser Autor berichtet vom IX. Kongress der Sahrauischen Frauenunion UNMS, der vom 18. bis 20. Juni im Flüchtlingslager Auserd in Algerien stattfand.

Keine Zeit für Träume

Wie gehen die sahrauischen Frauen mit dieser schwierigen Situation um? Wie verhalten sie sich zu diesem Krieg, der den Sahrauis von einem engen Verbündeten der westlichen Länder und damit nicht zuletzt auch diesen selbst aufgezwungen wurde – dem Königreich Marokko? Minetu Larabas Sueidat war in den vergangenen drei Jahren Generalsekretärin der UNMS. Sie fasst zusammen: „Der Krieg hat unsere Arbeit und unsere Herangehensweise an Frauenfragen stark verändert. Vorher ging es um andere Themen, nun geht es darum, dass wir unsere Männer, Brüder und Söhne im Krieg verlieren. Das ist sehr emotional und bewegend, und es ist eine große Herausforderung. Wir haben aber die Hoffnung, dass der Krieg dazu beitragen wird, unsere schwierige Lage zu beenden, und das ist der Ansatz, mit dem wir an alle weiteren Fragen herangehen. Allgemein lässt sich sagen, dass wir entschlossener sind als jemals zuvor, unseren Kampf bis zur vollständigen Befreiung und Unabhängigkeit der Westsahara fortzusetzen.“ Das heißt: Es ist keine Zeit mehr für Träume von einem besseren Leben nur für sich selbst. Seit Marokko am 13. November 2020 den seit fast drei Jahrzehnten bestehenden Waffenstillstand mit der Polisario brach, geht es für die Sahrauis um alles oder nichts.

Mehr als 600 Frauen waren gekommen, um an dem alle drei, spätestens vier Jahre stattfindenden Treffen teilzunehmen, darunter 400 in den verschiedenen Bezirken und Wilayas und auch in den von Marokko besetzten Gebieten eigens gewählte Vertreterinnen mit Stimmrecht. Aber auch Gäste aus anderen Ländern wie Südafrika und Simbabwe, Algerien, Sudan, Kolumbien, Frankreich und der Türkei, deren Frauenvereinigung gegenwärtig den Vorsitz über alle nationalen Verbände hat, waren gekommen, um sich mit den sahrauischen Frauen solidarisch zu zeigen. Dennoch schränkt Sueidat ein: „Die Beteiligung ist leider nicht so groß, wie wir es erhofft hatten, und nicht so, wie es in früheren Jahren der Fall war. Viele Frauen und Aktivistinnen aus anderen Ländern konnten diesmal die Reise nicht rechtzeitig planen, zum Beispiel wegen immer noch bestehender Coronamaßnahmen. Covid hat leider auf alles einen schlechten Einfluss gehabt. So konnten wir einen Großteil unseres letzten Aktionsplans nicht umsetzen. Auch das Datum, das wir wählen mussten, war ein Hindernis – mitten im Sommer, das ist nicht so einfach.“ Ist es im Sommer in der Sahara ohnehin schon heiß, so kam auch noch eine Hitzewelle hinzu. Unter dem verhangenen Himmel kletterten die Temperaturen Richtung 50 Grad, und auch wie durch ein Wunder einsetzender Regen brachte zunächst keine Abkühlung. Praktischerweise waren die Eintrittskarten gleich als Fächer gestaltet.

Gleichwohl war das Datum von besonderer Bedeutung. Der 17. Juni ist in der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) der „Nationale Gedenktag für die Verschwundenen“, da an jenem Tag im Jahr 1970 in El Aiún eine Demonstration der Freiheitsbewegung von spanischen Kolonialtruppen niedergemacht wurde. Ihren Mitbegründer, den Journalisten und Schriftsteller Mohammed Bassiri, ließ das faschistische Spanien spurlos „verschwinden“. Allerdings fiel der 17. Juni dieses Jahr auf einen Freitag, der arbeitsfrei ist, weswegen der Beginn des Kongresses auf den 18. verschoben wurde. Gewidmet war er Muglaha Yahdih Embarek, die 1985 vom marokkanischen Militär entführt wurde und deren Schicksal seitdem ebenfalls ungeklärt ist. „Jeder Kongress wird nach Märtyrern oder Verschwundenen benannt oder einer der Mütter, die die Frauenunion mitbegründet haben. Dafür wählen wir vor allem Personen, von denen wir wünschen, dass ihr Schicksal bekannter werden sollte“, erklärt Sueidat.

Erschwerte Lage

Noch vor dem einleitenden Theaterstück musste die 2019 zur Generalsekretärin der Sahrauischen Frauenunion gewählte Sueidat ihr Amt wie üblich an eine Übergangspräsidentin abgeben, die fortan die Versammlung mit den weiteren Vertreterinnen des Direktoriums leitete. Schließlich ging es am ersten Tag vor allem darum, über die Arbeit der zurückliegenden drei Jahre Rechenschaft abzulegen, und dabei kann selbstverständlich nicht die Hauptverantwortliche den Vorsitz führen. Am zweiten Tag wurden drei Arbeitsgruppen gebildet. Eine erarbeitete die Agenda für die kommenden Jahre: In ihr geht es weitgehend um ganz praktische Dinge wie die Zusammenarbeit zwischen Familien, Verwaltungsebenen sowie Diaspora oder um die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung. Zwar dürften die sahrauischen Frauen im Weltvergleich in Sachen Bildung und gesellschaftliche Einbeziehung schon jetzt gute Noten erhalten, doch gerade deswegen wissen sie, dass man sich auf seinen Erfolgen nicht ausruhen darf. So sollen alle in den Wilayas obligatorischen Frauenhäuser endlich mit Computern ausgestattet werden und Fremdsprachenkurse anbieten. Auch sollte man sich keine romantischen Vorstellungen vom Leben in den Lagern machen: Ein Großteil der Geflüchteten lebt nicht nur unter Bedingungen der Armut, seit Jahren gehen obendrein die internationalen Hilfslieferungen zurück. In den von Marokko besetzten Gebieten wiederum werden die Sahrauis brutal unterdrückt, und Bildung wird ihnen wie auch der Mehrheit der Marokkaner selbst vorenthalten.

Eine weitere Arbeitsgruppe war eingesetzt, um mehrere Briefe, Ratschläge sowie die Abschlusserklärung zu formulieren. Der erste Brief war an den sahrauischen Präsidenten Brahim Ghali gerichtet, der den Kongressteilnehmerinnen zu Beginn und zum Abschluss seine Aufwartung machte, der zweite an die Soldaten an der Front, um sie zu ermutigen, und der dritte an die Frauen in den besetzten Gebieten, an deren Leiden immer wieder erinnert wurde. Der Name der Menschenrechtlerin Sultana Khaja, die von der Besatzungsmacht misshandelt und mit dem Tod bedroht wurde und erst kürzlich dank einer Intervention US-amerikanischer Menschenrechtsaktivisten zu einer medizinischen Behandlung nach Spanien ausreisen durfte und schließlich ihre schockierende Leidensgeschichte am 27. Juni auch im Europäischen Parlament vortragen konnte, war allgegenwärtig. Die Ratschläge beinhalteten Aufrufe, Einigkeit zu bewahren oder Schädliches wie den leidigen Tabakkonsum zu meiden, aber auch einen auf den ersten Blick möglicherweise befremdlichen, jedoch der Lage entsprechenden Appell an die sahrauischen Frauen, bei Mitgiftsforderungen nicht zu übertreiben, damit früher geheiratet werden kann, und ihre Kinder zum Besuch der Militärakademie anzuleiten; diese sind jedoch nach Auskunft von Polisario-Vertretern zurzeit wegen starken Andrangs überlastet. Weitere Bewerber müssen sich gedulden.

Kämpfen denn auch Frauen an der Front? Schon auf alten Fotos sind sie immer wieder zu sehen, die stolzen Soldatinnen der Befreiungsarmee. „Es gibt Frauen, die sich auf der Militärschule auf den Krieg vorbereiten, aber im Augenblick kämpfen noch keine an der Front. Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Wenn das Verteidigungsministerium so entscheidet, werden auch Frauen dem Aufruf folgen“, antwortet Minetu Larabas Sueidat. Bei einem Besuch im Oktober vergangenen Jahres hatte sich Bali Ag Nadjim, der Oberbefehlshaber des Sechsten Militärbezirks der Befreiungsarmee, voller Bewunderung über den Einsatz der Frauen geäußert: „Während wir kämpfen, übernehmen sie die Infrastruktur. Auf ihnen liegt die Hauptlast des Krieges.“

Hier geht’s zu unserem Westsahara-Dossier:

Lektion in Demokratie

Aufgabe der dritten Arbeitsgruppe war, die Anforderungen zu bestimmen, die zu einer Kandidatur für das Präsidium und das Amt der Generalsekretärin der Frauenunion berechtigen. Wie verhindert man, dass die Delegierten einfach nur Freundinnen oder Bekannte wählen? Anhand welcher formalen Kriterien lässt sich eine Eignung erkennen? Ist es notwendig, dass eine Kandidatin mehrere Fremdsprachen spricht, um die UNMS zum Beispiel bei Reisen oder gegenüber Besuchern aus dem Ausland besser repräsentieren zu können? Eine abgeschlossene Ausbildung ist erforderlich – darin waren sich alle einig. Berufserfahrung ebenfalls. Aber wie lange sollte eine Kandidatin bereits gearbeitet haben? Nach einer langen und heftigen Diskussion einigten sich die Teilnehmerinnen darauf, die Abstimmung über drei Alternativen an die Vollversammlung zu delegieren: Ausbildung oder Studium plus drei, fünf oder sieben Jahre Berufserfahrung. Angenommen wurde im Plenum schließlich der mittlere Vorschlag.

Am dritten Tag stellten sich die Kandidatinnen für das neue Präsidium vor. Von der älteren bis zur jüngeren Generation waren alle vertreten, wie Khatri Addouh, Generalsekretär der Frente Polisario, im Gespräch anmerkte: von der Lehrerin bis zur Professorin, von einer Verantwortlichen für das Minenräumprogramm bis zur gestandenen Veteranin der sahrauischen Politik. Auf den meisten lasten jedoch neben der Berufsarbeit, von der sie im Falle einer Wahl befreit werden, noch die Pflichten des Haushalts. Nach der Vorstellung wurden die Wahlurnen hereingebracht und ausgestellt, so dass sich alle überzeugen konnten, dass sie leer waren. Die Stühle wurden zur Seite geräumt, und für die einzelnen Stimmbezirke wurden Wahlbüros eingerichtet. Die Auszählung dauerte bis in den späten Abend und wurde von weiblichen Freiwilligen der Nationalpolizei vorgenommen. Wer wollte, konnte sich später selbst überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war – beim Auszählen aber war Stören nicht erlaubt. Als neue Generalsekretärin setzte sich die erfahrene Politikerin Shabda Saini durch. Der Reihe nach mussten alle Gewählten den Amtseid leisten. Zum Abschluss erhielt dann wieder mit einer Dichterin und einem Poeten die Kunst das Wort.

„Die Demokratie ist bei uns weit entwickelt“, kommentierte die Kongressteilnehmerin und Parlamentsabgeordnete Abida Hadia Ali den Verlauf der Tagung. Polisario-Generalsekretär Khatri Addouh verwies darauf, dass die Befreiungsfront früh Frauen einbezogen und zur Teilnahme aufgefordert habe. Aber hat die Frauenunion tatsächlich die Möglichkeit, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen? Minetu Larabas Sueidat lässt keinen Zweifel: „Frauen sind sehr wichtig. Mit ihrer Arbeit und in ihrer gesellschaftlichen Stellung sind sie unverzichtbar und können daher viel verändern. Schon die Art und Weise, wie wir unseren Kongress organisieren, ist eine Botschaft an unsere Führung. Unter anderem haben wir erreicht, dass Frauen durch Quotierung auf der politischen Ebene besser repräsentiert sind.“ Sueidat, die bei ihrer Abschiedsrede in Tränen ausbrach, betonte: „Die Frauen in den Flüchtlingslagern und im Exil sind leidenschaftlich entschlossen, ihre Lage zu ändern. Es gibt über sie inspirierende Geschichten zu erzählen, wie sie mit den schwierigen Lebensbedingungen umgehen. Das widerspricht Klischees, die über Frauen hier verbreitet werden. Wer will, kann selbst kommen und sich überzeugen, dass wir bereit sind, alles zu tun und zu geben für unsere Rechte und unsere Unabhängigkeit. Das ist unsere Botschaft an die Welt.“

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